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Solschenizyn—das Beispiel des ethischen Radikalismus

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Solschenizyn ist noch immer nicht verhaftet. Ist Solsdienizyn frei? Die Antwort auf diese Frage beweist die Relativität des Begriffes Freiheit. Seit ungefähr zehn Jahren, als Chruschtschow 1964 gestürzt wurde, wird Solschenizyn genauestens überwacht; ein schwarzer Wolga mit Funkantenne ist ständig, bei Tag und bei Nacht, in der Nähe seiner Datscha postiert. Geheimpolizisten folgen ihm und seinen Angehörigen auf Schritt und Tritt. Selbstverständlich wird sein Telephon abgehört, natürlich sind innerhalb des Hauses Abhörgeräte angebracht. Einige Male schon wurde während Solschenizyns Abwesenheit in sein Haus eingebrochen, Manuskripte durchwühlt und zum Teil entwendet. Ein konkreter Vorfall mag die Situation verdeutlichen: Zu Beginn des Jahres 1972 besuchte Solschenizyn einmal mit seiner Frau ein Konzert zum 60. Geburtstag des Komponisten Schostakowitsch, an dem auch Solschenizyns langjähriger Freund und Beschützer, der Cellist Rostropowitsch, teilnahm. Als Solschenizyn den Saal verließ, wurde er augenblicklich von einer sich schnell vergrößernden Menge umringt, Konzertbesuchefn, die ihn um ein Autogramm baten oder ihm die Hand schütteln wollten. „Gebt auf meine Frau acht, zerdrückt sie mir nicht“, sagte Solschenizyn inmitten des Gedränges. „Wir passen schon auf euch auf“, meldete sich da mit lauter Stimme einer der drei Geheimpolizisten, die sichtbar aus der Menge herausstachen.

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Solschenizyn ist noch immer nicht verhaftet. Ist Solsdienizyn frei? Die Antwort auf diese Frage beweist die Relativität des Begriffes Freiheit. Seit ungefähr zehn Jahren, als Chruschtschow 1964 gestürzt wurde, wird Solschenizyn genauestens überwacht; ein schwarzer Wolga mit Funkantenne ist ständig, bei Tag und bei Nacht, in der Nähe seiner Datscha postiert. Geheimpolizisten folgen ihm und seinen Angehörigen auf Schritt und Tritt. Selbstverständlich wird sein Telephon abgehört, natürlich sind innerhalb des Hauses Abhörgeräte angebracht. Einige Male schon wurde während Solschenizyns Abwesenheit in sein Haus eingebrochen, Manuskripte durchwühlt und zum Teil entwendet. Ein konkreter Vorfall mag die Situation verdeutlichen: Zu Beginn des Jahres 1972 besuchte Solschenizyn einmal mit seiner Frau ein Konzert zum 60. Geburtstag des Komponisten Schostakowitsch, an dem auch Solschenizyns langjähriger Freund und Beschützer, der Cellist Rostropowitsch, teilnahm. Als Solschenizyn den Saal verließ, wurde er augenblicklich von einer sich schnell vergrößernden Menge umringt, Konzertbesuchefn, die ihn um ein Autogramm baten oder ihm die Hand schütteln wollten. „Gebt auf meine Frau acht, zerdrückt sie mir nicht“, sagte Solschenizyn inmitten des Gedränges. „Wir passen schon auf euch auf“, meldete sich da mit lauter Stimme einer der drei Geheimpolizisten, die sichtbar aus der Menge herausstachen.

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Solschenizyns Person scheint als Katalysator ganz besonderer Art zu wirken. Um ihn konzentrieren sich alle jene Aspekte des sowjetischen Gesellschaftssystems, in welchen sich die Repressionen des Systems ausdrücken. Natürlich werden auch die anderen Intellektuellen überwacht, doch ist ihre Überwachung nicht so lückenlos, nicht so hart. Es ist auch nicht nötig, sie alle so scharf zu überwachen, denn sie nehmen der Geheimpolizei einen Großteil der Arbeit ab, indem sie es aus Furcht unterlassen, verbotene Dinge zu tun. Seine Zivilcourage und seine Furchtlosigkeit sind es, die Solschenizyn zu einer so bedeutenden Symbolfigur in Rußland gemacht haben.

Nicht nur in seinen berühmten Romanen „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, „Im ersten Krteis',äW5Hbtie“' und „Rrebsstation“ entwarf Solschenizyn ein Bild der sowjetischen Wirklichkeit, das bis dahin im Bewußtsein der Öffentlichkeit einfach nicht existent war, er wandte sich auch mit Briefen und Protestschreiben an die sowjetische Regierung, an die verschiedensten Gremien von Partei und Administration und wehrte sich gegen die hinterhältigen und brutalen Unter-dTückungsmaßnahmen, denen er als Bürger und Autor ausgesetzt war. Die Korrespondenz zum „Fall Solschenizyn“ füllt den ganzen sechsten Band der im Westen erschienenen Werke Solschenizyns.

Solschenizyn lebt seinen Landsleuten einen ethischen Radikalismus vor, für den sich in der Geschichte kaum Beispiele finden lassen. Er geht keinerlei Kompromisse ein; weder im Wort noch in der Tat paßt er sich den komplizierten Gesetzen an, welche das sowjetische Alltagsleben oft zu einer bedrückenden Farce machen. Solschenizyn lügt auch nicht durch Schweigen. Wodurch sich Solschenizyn diese Furchtlosigkeit und diese unerschütterliche moralische Haltung erworben hat, läßt sich schwer sagen. Seine Lager jähre allein waren es wahrscheinlich nicht — auch andere Intellektuelle waren im Lager und fürchten heute dennoch nichts mehr, als wieder dorthin zu kommen. Die Kriegsjahre, die er als Artilleriehauptmann in vorderster Front durchkämpfte? Der durchschlagende literarische und politische Erfolg, den er mit seinem ersten Kurzroman „Iwan Denissowitsch“ im Zuge der Chruschtschow-schen Entstalinisierung erlangte? Auch läßt sich aus seinen Werken kaum eine Ideologie oder ein Kredo herausschälen, welche als Plattform für seine Handlungsweise erklärt werden könnten. Ein universeller Humanismus durchzieht seine Romane, ein spezifisches russisches Geschichtsbewußtsein wird besonders in „August 1914“ deutlich, auch Bezüge, welche der russischorthodoxen Religion und ihrer Gottesidee besondere Bedeutung verleihen, treten manchmal zutage.

Außerdem muß betont werden, daß Solschenizyn ein Einzelkämpfer ist. Obwohl er natürlich den anderen dissidenten Gruppen, aus denen sich die intellektuelle Opposition in der Sowjetunion zusammensetzt, mit Wohlwollen“ 'Und Sympathie gegenübersteht, hat er sich kaum an den einzelnen Aktionen dieser Gruppen beteiligt. So weigerte sich Solschenizyn, eine Petition für den prominenten inhaftierten Wladimir Bukowski zu unterzeichnen. Und als Sacharow ihm anbot, seinem Komitee zur Verteidigung der Menschenrechte beizutreten, lehnte Solschenizyn mit der Begründung ab, formale politische Proteste könnten die bestehende Situation nicht entscheidend verändern. Offenbar glaubt Solschenizyn an die moralische Kraft, die in seinen Werken und in seiner Handlungsweise zum Ausdruck kommt — vielleicht wird die Geschichte ihm recht geben.

Die innenpolitische Situation in der Sowjetunion ist heute zwiespältig und verworren. Einerseits hat Breschnjew offenbar Anweisung gegeben, den Emigranten die Tür offenzuhalten. Es emigrieren jetzt auch Russen, Armenier und Angehörige anderer (nichtjüdischer) Nationalitäten, falls sie der Moskauer Intelligenz zugezählt werden können und als potentielle Oppositionelle gelten. Einige der prominenteren politischen Gefangenen wie Pjotr Jakir und Viktor Krasin oder auch Amalrik wurden aus dem Gefängnis bzw. Lager entlassen und leben jetzt in relativ milder Verbannung. Das Regime tendiert offenbar im Moment eher dazu, Oppositionelle auszubürgern. Die Verhaftungen, die im Verwandten- und Bekanntenkreis von Solschenizyn und Sacharow in der letzten Zeit vorgenommen wurden, hatten wahrscheinlich vor allem den Zweck, auch diese beiden Hauptfiguren der Opposition zum Auswandern zu bewegen, bisher allerdings vergeblich. Diese „weiche“ Haltung des Regimes wird in Kreisen der Moskauer Intelligenz vor allen dem Druck zugeschrieben, den der amerikanische Kongreß in Verbindung mit Wirtschaftsfragen auf die sowjetische Regierung ausübt. Anderseits scheint sich die sich permanent verstärkende Misere der sowjetischen Wirtschaft in einer ganz allgemeinen Verunsicherung der Machtspitze auszuwirken — und gerade in solch unsicheren Situationen krönen, auch allerlei gänzlich, unvorhersehbare Maßnahmen wie etwa Massenverhaftungen getroffen werden; so denkt jedenfalls ein großer Teil der russischen Intelligenz. Die Unsicherheit in der Führung und vor allem die angeschlagene Position Breschnjews können ihren Grund aber auch in der angegriffenen Gesundheit Breschnjews haben: der sowjetische Regierungschef leidet an fortgeschrittener Arteriosklerose, kleinere Schlaganfälle, die zu vorübergehenden Lähmungen, Sprech- und Sehstörungen führen, sind an der Tagesordnung, Breschnjew ist immer in Begleitung eines Arztes und bekommt ständig blutverdünnende Mittel verabreicht. Die schwankende Haltung der Administration kommt in manchen Erscheinungen zum Ausdruck: so wurden 'vor kurzer Zeit die Schriftsteller Lidija Tschu-kowskaja und Wladimir Wojno-witsch scharf kritisiert, Tschukow-skaja wegen ihrer Unterstützung für Sacharow, Wojnowitsch, weil er einen Kurzroman im Emigrantenverlag Possev erscheinen hatte lassen („Die Geschichte des Soldaten Tschenkin“).“ Zugleich erschien aber ein Sammelband des berühmten Schriftstellers Michail Bulgakow, in dem seine Werke zum erstenmal in unzensurierter Form dem russischen Publikum vorgelegt wurden. Allerdings war zu hören, daß die Hälfte der Auflage (30.000) für den Westen bestimmt sei — so liberal sind wir!

In diese Atmosphäre schlug die Veröffentlichung des neuen Romans von Solscheniizyn wie eine Bombe ein. Das Buch „Archipel Gulag“ — man könnte den Titel auch „Das Inselreich der staatlichen Straflager“ übersetzen — ist eine schonungslose, bitterböse Abrechnung des Autors mit dem Sowjetsystem von Anfang an. Der Grund, aus dem das Buch erschienen ist, kann eigentlich als Teil der Geschichte bezeichnet werden, die es erzählt. Solschenizyn hatte das Manuskript geheimgehalten, ja sogar seine Existenz geleugnet. Trotzdem kam dem Geheimdienst etwas über das Vorhandensein von „Archipel Gulag“ zu Ohren.Man begann, Bekannte Solscheni-zyns zu verhören und nach dem Manuskript zu suchen. Schließlich gab eine Vertraute Solschenizyns in Leningrad, EMsaweta Woronjanskaja, nach fünftägigem Verhör das Versteck des Manuskriptes bekannt, dann kehrte sie in ihre Wohnung zurück und erhängte sich. Das Buch enthält die Namen oder Initialen von 227 Informanten, die Solschend-zyn Material für sein Buch geliefert hatten — nachdem das Manuskript in die Hände des Geheimdienstes gefallen war, befürchtete der Autor Repressalien gegenüber diesen 227 Sowjetbürgern und entschloß sich zur Veröffentlichung des Buches, um durch die zu erwartende internationale Publizität die sowjetischen Behörden von Vergeltungsmaßnahmen abzuhalten. Denn nichts fürchten die Sowjets im Moment mehr, als westliche Horrormeldungen über politische Verfolgungen.

Soweit sich beurteilen läßt, will Solschenizyn sein Buch nicht als literarisches Werk, sondern als eine Art Dokumentation zur Vergangenheitsbewältigung verstanden wissen. Diesen Akt der Aufarbeitung und Bewußtmachung der eigenen Vergangenheit hält Solschenizyn für unumgänglich, um eine tiefgreifende Erneuerung des öffentlichen Lebens zu ermöglichen. Denn die sowjetische Geschichtsschreibung und der Geschichtsunterricht in den Schulen arbeiten ganz bewußt mit verbalen Verschleierungen und groben Fälschungen. So wurden im Laufe der Kollektivierung die Bauern „ent-kulakisiert“, d. h. viele Millionen der tüchtigsten von ihnen, die in den Jahren seit der Revolution einen bescheidenen Wohlstand erwirtschaften konnten, enteignet und deportiert. „Die ganze russische Geschichte hat nichts auch nur annähernd Vergleichbares anzubieten“, meint Solschenizyn, „es war eine erzwungene Völkerwanderung, eine ethnische Katastrophe. Doch es waren GPU- und GULAG-Kanäle so umsichtig angelegt, daß die Städte gar nichts bemerkt hätten — wäre nicht der drei Jahre dauernde seltsame Hunger über sie gekommen, ein Hunger ohne Dürre und ohne Krieg... alle Vorstellungen von .Menschlichkeit' schienen verloren, alle in Jahrtausenden erworbenen menschlichen Begriffe zunichte — wie im Blutrausch wurden die besten Ackersleute mitsamt ihren Familien zusammengetrieben und ohne jede Habe, blank wie sie waren, in die nördliche Einöde, in die Tundra und Taiga geworfen.“

In den offiziellen Lehrbüchern liest sich das etwa so: Bei der Kollektivierung kam es zu Übertreibungen, die jedoch von der Partei alsbald beseitigt wurden. Auch die Schuldigen für die Hungersnot waren bald gefunden, in einem großangelegten Schauprozeß gegen die „Organisatoren der Hungersnot“ wurden 18 Saboteure in der Lebensmittelindustrie zum Tode verurteilt. Wirtschaftliche Mißerfolge und Fehlplanungen in der Industrie und Versorgung wurden in den dreißiger Jahren durchweg mit Sabotage erklärt, gegen die Hauptschuldigen Schauprozesse durchgeführt und auf Volksversammlungen und Demonstrationen forderten Millionen von Sowjetbürgern „Tod für den Abschaum“. Bei jedem dieser Schauprozesse wurde nur ein ganz geringer Teil der Verhafteten vor Gericht gestellt, Tausende von Häftlingen gingen jeweils ohne Gerichtsurteil in die Lager. Auf diese Weise konnte sich die Sowjetführung einer mißliebigen Bevölkerungsgruppe nach der anderen entledigen.

Solschenizyn hat eine Unzahl von Fakten dieser Art zusammengetragen — Fakten, die zum Teil weder im Westen noch in Rußland bekannt waren. Zum erstenmal in der Geschichte der Sowjetunion wagt es jemand, die Dinge beim Namen zu nennen, ohne sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen und ohne sich hinter ideologischen Leerformeln zu verstecken, die auch bei uns durchaus gebräuchlich sind — auch viele westliche Theoretiker folgen der marxistischen Doktrin und halten die Diktatur des Proletariats für notwendig, wobei es dann eben auch zu gewissen Ubergangserscheinungen komme. Bedenkt man jedoch, daß etwa 12 Millionen Menschen gleichzeitig inhaftiert waren und rechnet man noch ungefähr viermal so viele Angehörige, also etwa 48 Millionen, dazu, so kommt man schon auf etwa 60 Millionen direkt Betroffene. Etwa 2 Millionen Ge-heimdienstller führten die weitverzweigten Aktionen durch — auch heute noch zählt der Geheimdienst so viele Mitarbeiter — und aus den 8 bis 10 Millionen Parteimitgliedern rekrutierten sich die Denunzianten, Ankläger und Akklamateure. Diese Rechnung ergibt, daß in Rußland bis in die Mitte der fünfziger Jahre etwa 70 Millionen Menschen, mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung, mit dem Terror befaßt waren bzw. unter ihm zu leiden hatten.

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