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Die Ohnmacht der Intelligentsia

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Auf jenem denkwürdigen 4. Schriftstellerkongreß in Prag verlas der tschechische Dramatiker Pavel Kohut vor 500 Teilnehmern im geschlossenen Saal einen „offenen Brief“ des russischen Schriftstellers Alexander Sol-schenizyn, worin dieser aufs schärfste gegen die Zensur, „die militante Primitivität kontrollierender Instanzen“ in der Sowjetunion protestierte. Der insgeheim unter den Kongreßteilnehmern zirkulierende Brief war im Mai 1967 an den Unionskongreß der Sowjetschriftsteller gerichtet und enthielt unter anderem den Satz: „Eine Literatur, die sich nur zwischen den Kategorien .erlaubt' und .verboten' bewegen darf, kann sich nicht entwickeln. Eine Literatur, die nicht wiederzugeben vermag, was die Gesellschaft beunruhigt und woran sie leidet, die nicht rechtzeitig vor den moralischen und sozialen Gefahren zu warnen imstande ist, verdient nicht den Namen Literatur; sie kann nur als Fälschung bezeichnet werden. Eine solche Literatur verliert das Vertrauen ihres Volkes.“ Der Brief schloß mit der Versicherung: „Niemand kann den Weg zur Wahrheit versperren — für diese Entwicklung bin ich auch zu sterben bereit.“ Je mehr man seinen Namen in den offiziellen Verlautbarungen ignorierte, um so mehr ist Alexander Solschenizyn in der Sowjetunion und im gesamten Ostblock zum Inbegriff einer bestimmten Geisteshaltung, zum Symbol für künstlerische Freiheit, für schonungslose und restlose Uberwindung des Stalinismus geworden.

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Auf jenem denkwürdigen 4. Schriftstellerkongreß in Prag verlas der tschechische Dramatiker Pavel Kohut vor 500 Teilnehmern im geschlossenen Saal einen „offenen Brief“ des russischen Schriftstellers Alexander Sol-schenizyn, worin dieser aufs schärfste gegen die Zensur, „die militante Primitivität kontrollierender Instanzen“ in der Sowjetunion protestierte. Der insgeheim unter den Kongreßteilnehmern zirkulierende Brief war im Mai 1967 an den Unionskongreß der Sowjetschriftsteller gerichtet und enthielt unter anderem den Satz: „Eine Literatur, die sich nur zwischen den Kategorien .erlaubt' und .verboten' bewegen darf, kann sich nicht entwickeln. Eine Literatur, die nicht wiederzugeben vermag, was die Gesellschaft beunruhigt und woran sie leidet, die nicht rechtzeitig vor den moralischen und sozialen Gefahren zu warnen imstande ist, verdient nicht den Namen Literatur; sie kann nur als Fälschung bezeichnet werden. Eine solche Literatur verliert das Vertrauen ihres Volkes.“ Der Brief schloß mit der Versicherung: „Niemand kann den Weg zur Wahrheit versperren — für diese Entwicklung bin ich auch zu sterben bereit.“ Je mehr man seinen Namen in den offiziellen Verlautbarungen ignorierte, um so mehr ist Alexander Solschenizyn in der Sowjetunion und im gesamten Ostblock zum Inbegriff einer bestimmten Geisteshaltung, zum Symbol für künstlerische Freiheit, für schonungslose und restlose Uberwindung des Stalinismus geworden.

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Das Leben, das heißt in diesem Fall: der ' Terror, hat den ehemaligen Mathematik- und Physiklehrer (er wurde fast gleichzeitig mit der russischen Revolution geboren) auf den Beruf des Schriftstellers vorbereitet. Ausgezeichnet mit den Orden des „Vaterländischen Kriegs“ und des „Roten Sterns“, wurde Solschenizyn Anfang 1945 wegen antistalinisti-scher Äußerungen (sie waren in Briefen enthalten) vom Staats-sicherheitsdienst verhaftet und zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Vier Jahre davon Meß man ihn'* in Moskau im „wissenschaftlichen Zentrum“ eines Gefängnisses arbeiten. Nachdem er seine acht Jahre abgesessen hatte, wurde er jedoch nicht entlassen, sondern als Häftling in ein Lager am Rande der Wüste in Asien verbannt. Dort lebte er nicht anders als DostojewsMj in seinem „Totenhaus“, und dort entschloß er sich auch, einen Tag aus dem Leben des Ivan Denissovitch (alias Solschenizyn) zu schreiben. Der pseudoliberale Chruschtschow griff die Pathologie des Stalinismus an und entdeckte Solschenizyn als den ersten Chronisten der Epoche. Nach dreijähriger Verbannung wurde Solschenizyn rehabilitiert; 1962 konnte er seine erste Prosaarbeit veröffentlichen.

In Iwan Denissowitsch schildert Solschenizyn die Dinge aus der Perspektive eines törichten Menschen, der zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt würde, weil er im letzten Weltkrieg für einige Tage in deutsche Gefangenschaft geraten war. Der Autor läßt Iwan nicht reflektieren, sondern die Tatsachen für sich selbst sprechen. Daraus ist trotz ihres finsteren Themas eine fast heitere, von stoischem Optimismus erfüllte Geschichte geworden, die den Häftling noch als einen unzerstörbaren Teil der Menschheit zeigt, den nichts zugrunde richten kann. In seinen weiteren Werken — Romane, Erzählungen, Theaterstücke — trat Solschenizyn bereits aus seiner Reserve heraus. Die beiden großen Romane Krebsstation und Der erste Kreis der Hölle sind ein Beweis, daß sowjetische Schriftsteller die Bedeutung subjektiver Erfahrungen der Umwelt für ihre Arbeiten wiederentdeckt haben, individueller, vielfältig reicher Möglichkeiten des Denkens, Empfindens und Erlebens. Sie finden die gleiche Spannung zwischen Individuum und Staat, zwischen Intelligenz und Machtapparat vor, in der einst jene klassischen Werke von Rang entstanden sind, die längst zur Weltliteratur gehören. Der Staat aber fürchtet die elementare Sprengkraft nach Individualität, weil sie ihm die absolute Kontrolle und Nutzung des konformen Apparates „Gesellschaft“ erschwert. Es darf nur ein Bewußtsein geben: das von der Partei für richtig befundene. Schon Humanität, ein traditionelles Element russischer Literatur, ist dem Apparat als kleinbürgerlich ver-s dächtig. Angeführt vom gchriftstel lerverband, setzte die offizielle Kritik gegen mißliebige Schriftsteller ein, die nur die Schattenseiten des sowjetischen Lebens sehen wollten. Solschenizyn wurde vorgeworfen, er könne Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden. Was für einen Autor wichtig zu sein hat, dürfe er nicht selbst entscheiden. In einem Artikel der „Literaturnaja Gazeta“ wurde ausgeführt, daß der Text von Solschenizyns Roman Krebsstation einer gründlichen Bearbeitung ,4n ideeller Hinsicht“ bedürfe.

Nicht nur der Titel des Buches „Der erste Kreis der Hölle“, auch die Uberschrift des zweiten Kapitels weisen auf Dante hin. Dante, Christenmensch und Renaissancemensch zugleich, versetzte die intellektuelle Elite der Verdammten in den ersten Kreis seiner Hölle. Berijas und Stalins Gefängnisverwaltung errichtete nach dem Kriege Sondergefängnisse, eine Art von Forschungsinstituten, wo Spitzentechniker, Intellektuelle aller Grade und Fachgebiete aus verschiedenen anderen Lagern für wichtige und geheime staatspolitische Projekte eingesetzt wurden. Solschenizyn hat selbst vier von seinen acht Gefängnisjahren in einem solchen Straflager verbracht. Vor allem aus seinen damaligen Erfahrungen und Beobachtungen entstand der umfangreiche Inferno-Roman, den er mit dem ausdrücklichen Hinweis auf Dantes 4. Gesang Der erste Kreis der Hölle nannte und an dem er neun Jahre (von 1955 bis 1964) gearbeitet hat.

Das Geschehen umfaßt knappe vier Tage (von Samstag abend bis Dienstag vormittag) zu Ende Dezember des Jahres 1949. Den betont konkreten Hintergrund bildet der Ausklang der pompösen Feiern zu Stalins 70. Geburtstag, der mit der Verhaftung Gomulkas, der voll einsetzenden Hetze gegen die „verräterischen“ Titoisten sowie den „volksfremden und grundsatzlosen Kosmopolitismus“ kollidiert. Solschenizyn hat hier den an sich schon umfangreichen Personenkreis der Krebsstation noch mehr erweitert. In 87 relativ selbständigen und in sich geschlossenen Kapiteln schildert er Dutzende von meist tragischen Schicksalen. Es sind fast durchwegs willkürlich und ungerecht, aus Bosheit, Gefühllosigkeit, Rücksichtslosigkeit, aus absolutem Mangel auch nur der geringsten Achtung vor menschlicher Individualität zerbrochene, zunichte gewordene Menschenleben. Das gilt nicht nur für die verhältnismäßig privilegierten Sklaven des Forschungslagers, die am meisten unter der grauen Eintönigkeit und der völligen Unsicherheit über die Länge der „Fristen“, die Dauer des Aufenthaltes zu leiden haben, sondern auch für die Menschen außerhalb des Gefängnisses, vor allem für die Frauen und Kinder der Gefangenen und Deportierten. Ein angenehmes Leben füliren bei Solschenizyn nicht einmal die Angehörigen prominenter Kreise, der oberen Ränge der Partei- und Staatsfunktionäre. Das zeigt schon der Fall des eleganten Staatsrates und Sowjetdiplomaten Wolodin, der einen entfernt Bekannten vor der möglichen Verhaftung telephonisch warnt und damit den an sich unwichtigen HandlungsmechaniBinus des Romans auslöst. Er wird am Ende durch die im wissenschaftlichen Labor des Gefängnisses entwickelte „Phonoskopie“ überführt, die ähnlich dem Verfahren der Fingerabdrücke Menschen nach den Aufnahmen ihrer Stimme zu identifizieren vermag. Die minuziöse Schilderung von Wolodins Verhaftung und der an Brutalität kaum mehr zu überbietenden Leibesvisitation in dem berüchtigten Ljubljanka-Ge-fämgnis zeigt eines der vom Autor angewandten Darstellungsmittel. In den vier Kapiteln, in denen Stalin persönlich, auftritt, namentlich die nächtliche Szene der Unterredung in dem festungsartig gesicherten Ar* beitszimmier mit dem Minister für öffentliche Sicherheit, Abakumow, fungiert ein weiteres sprachliches Element: Entlarvung durch Pathos und bitterer Satire. Der Bulle Abakumow, der es an Grausamkeit mit jedem aufnimmt, wagt es im Gespräch mit Stalin kaum ordentlich aufzustehen (um den verhältnismäßig kleinen Generalissimus nicht zu überragen), noch sitzen zu bleiben (da sich das vor dem „Genialsten Menschen aller Zeiten und Volker“ nicht schickt). Nirgends arten die Szenen mit Stalin — so gewagt sie erscheinen mögen — in oberflächlicher Karikatur aus. Die eigentliche Bedeutung des Romans liegt in der intensiv realisierten Anteilnahme des Autors an jeglichem menschlichem Leid und Schmerz, in seiner betonten Zuneigung für alle Gedanken und Gestalten, die sich als besonders widerstandsfähig dem System des Sklavendaseins (im weitesten Sinne des Wortes) gegenüber erweisen. Seine Liebe gehört jenen Mitgliedern des Sträflingskollektivs, die nicht der Apathie und Angst verfallen, die sich nicht dazu verleiten lassen, die Freiheit auf Kosten ihrer Mitgefangenen zu erlangen. Die, mögen sie nach außen hin noch so schwach und machtlos sein, mit dem urrussischen, unbeugsam harten, geistig beweglichen Nershin (der Solschenizyn neben dem prachtvoll ungebärdigen Kostoglotow aus der Krebsstation am nächsten steht) sagen können: „Mag ich auch irgendwo in der Taiga von Krasnojarsk sinnlos untergehen. Selbst dann werde ich sterbend wissen, daß ich kein Schuft bin — und das wäre eine Art Befriedigung.“ Nichts törichter, als dieses so überaus modern wirkende Meisterwerk russischer Prosa in aar xraaitaon Dostojewskijs und Tolstojs für den Antikommunismus des kalten Krieges einspannen zu wollen! Das würde die Situation Alexander Solscheni-zyns nur erschweren. Er lebt zurückgezogen als freier Schriftsteller in der Stadt Rjasan, schikaniert, diffamiert, jeden persönlichen Kontakts mit seinem Publikum (Vorträge, Lesungen, Reisen und ähnliches) beraubt, aber am eigentlichen Leben unangetastet. Für ihn gilt, was der Schöngeist Wolodin im Roman beim Gespräch mit einem linientreuen Literaten meint: „Ein großer Schriftsteller, verzeih mir die Verwegenheit, ich spreche ja schon leiser, ist doch so etwas wie eine zweite Regierung. Darum hat auch keine Regierung je die großen Schriftsteller geliebt, sondern immer nur die kleinen.“ Hier wäre ein neuer Kandidat für den Nobelpreis vorzuschlagen, gäbe es nicht die üblen Erfahrungen mit Boris Pasternak.

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