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Der Existentialist im Krieg

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Raufende Männer schonen einander nicht, schonen nichts: Der Sieger genießt weniger den Sieg als Ab-straktum, genießt viel mehr den Zustand des von keiner Moral gezügel-ten Handelns, die Brutalität einer fast absoluten Freiheit, die Wollust der Entmemmung. Die Existentiali-sten haben genügend Beispiele für die explosive Ausdehnung der Persönlichkeit aneinandergereiht: über dieses beglückende Erschauern an der Grenze zwischen Ethik und triebhaftem Zupacken. In Situationen, die ein Krieg hervorbringt, stehen verhältnismäßig viele Menschen der Versuchung gegenüber, diese Grenze zu überschreiten.

Sie überschreiten sie und schweigen meistens. Nur manche reden. Selten sind die Autoren, die den Enthemmungsprozeß des eigenen siegreichen Heeres schiLdern: den psychischen Vorgang und dann auch seine Folgen. Der ungarische Romancier Tibor Cseres hat diese moralische Pflicht erfüllt in seinem Buch „Kalte Tage“; er beschrieb das rücksichtsvolle Vorgehen der ungarischen Armee bei der Annexion des nördlichen Teils von Jugoslawien, der früher einmal ungarisch gewesen war. Ein anderer Schriftsteller eines kommunistischen Landes meldete sich noch vor Cseres als Zeuge, verfaßte bereits 1950 ein Poem über das Vorrücken des eigenen Heeres, über den geheimnisvollen Vorgang der Enthemmung, über die Lust, Tabus zu brechen und das Gewissen mit Schuld au beladen — so als brauchte das sonst allzu flatterhafte Bewußtsein solche blutende Gewiahte. Erst 24 Jahre nach ihrer Niederschrift sind von Alexander Solschenizyn in Paris erschienen: „Ostpreußische Nächte.“ Nikolaus Ehlert hat die Dichtung ins Deutsche übertragen. Nun liegt sie also vor, dem älteren deutschen Leser als Mahnung und dem jüngeren als Schilderung des abschrek-kenden Beispiels.

„Ostpreußische Nächte“, sie leuchten gespenstisch im Licht brennender Häuser; unversehrt gebliebene Dörfer zerfallen im Widerschein lodernder Flammen; zur Rache und zur unbeschränkten persönlichen Freiheit aufgenufen fühlen sich die Männer einer siegreichen, einer früher zutiefst erniedrigten Armee: alle nichts anderes als tätige Existen-tialisten.

Sie dürfen nun alles, beinahe alles. Sie zerstören' Ordnungen nicht aus Haß, sondern aus Bewunderung. Zu Schönes muß fallen. Sie dien an nicht einer Ideologie, sondern dem verwundert erlebten Spektakel der eigenen Allmacht. Eine teuflische Irratio ist stärker als die Vernunft. Kriegsbeute wind vernichtet: „Was mit Blut wir mal erobert, / kriegt nach uns kein anderer mehr!“ Schnaps wird selbstverständlich beschlagnahmt und ausgetrunken: ..Habt ein Herz, Ihr Kommissare! Was schert uns das Kriegsgericht!“

Und der deutsche Kommunist, der die vorrückende Rote Armee schwärmerisch begrüßt, wird als Verdächtiger abgeführt. Ein Spion? Lästig. „Wieder kostet's eine Wache.“ ' Die schreckliche Atmosphäre richtet auch gute Geister zugrunde. Da sitzt im Bahnhof von Alienstein ein halb betrunkener Major in Scbafsfelijacke, „dunkel, braungebrannt, gegerbt / schwarzer Bart in voller Länge“, und verschuldet den Tod von Hunderten. Dieser Major ist einmal Philosophieprofessor gewesen, „doch inzwischen sind wir beide / feist geworden, träge, schwer“. Und während der ehemalige Philosoph und gegenwärtige Major die ostpreußischen Flüchtlinge in den Tod schickt, „redet er so auch von Deutschland / milde und verständnisvoll“. Endlich holt sich auch der Erzähler eine Deutsche namens Anne. Mit Gewalt. Er nimmt sie. Noch pocht die Frage im Schädel: „Welcher Standort ist der rechte?“ Aber das Hirn produziert soglejch die Antwort: „Ew'ger Wurm, Selbstanalyse, / hast mir den Verstand zerstört.“ Und dann?

„Anne fleht mit toter Stimme: .Doch erschießen Sie mich nicht!' .Fürchte nichts, auf dem Gewissen hab' ich eine Seele schon ...' “

Daß Alexander Solschenizyn viele Jahre nach der Niederschrift dieses Poems als Romancier berühmt geworden ist, hat nun die deutsche Ausgabe des Gedichtes ermöglicht. Aber wäre es nicht Solschenizyn: wie viele Einwände hätten dann die. Schmocks und Snobs gegen die Gattung der von Puschkin zur Höhe geführten russischen Epik in Versen? Und hätte das Poem auf deutsch überhaupt erscheinen können? Die Kraft dieser „Ostpreußi-sehen Nächte“ könnte den Leser bewegen, zu erkennen, welche literarischen Energien er im östlichen Europa noch zu entdecken hätte.

OSTPREUSSISCHE NÄCHTE: Eine Dichtung in Versen von Alexander Solschenizyn, aus dem Russischen übertragen von Nikolaus Ehlert. Hermann Luchterhand Verlag, Darmstadt und Neuwied, 87 Seiten, öS 154.—.

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