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Heute wirken bei uns zwei Teufel

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Anlaß zum Salzburger Symposion „Die Lust am Untergang" (2.-4. Mai) war Orwells „1984". Die FURCHE bringt Auszüge aus wichtigen Referaten, heute den ersten.

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Anlaß zum Salzburger Symposion „Die Lust am Untergang" (2.-4. Mai) war Orwells „1984". Die FURCHE bringt Auszüge aus wichtigen Referaten, heute den ersten.

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George Orwells „1984" ist 1949 erschienen. Ein schwerkranker Mann hatte es geschrieben, ein Jahr später war er tot. Das Buch wurde unverzüglich im sogenannten „Freien Westen" mit einem Riesengebrüll der Begeisterung begrüßt, deren automatischer, im vorhinein programmierter Charakter unverkennbar war.

Als ich das Buch wenige Monate nach seinem Erscheinen las, war ich verblüfft. Denn erstens war es ein schlechtes Buch, in einem müden, schütteren Stil geschrieben, voll von banalen Episoden, die an die unterste Trivialliteratur erinnerten.

Und zweitens war es so offensichtlich ein Produkt des von den Vereinigten Staaten mit Beihilfe Englands entfachten Kalten Krieges, daß der Ursprung des allgemeinen Enthusiasmus über seine literarische Qualität nur einem Kinde hätte verborgen bleiben können. Ich war aber kein Kind mehr.

Man muß sich die damalige Lage zurückrufen. Zuerst die weitverbreitete, von unsaubersten Händen geschürte, jedoch berechtigte Empörung über den Stalinismus, mit seinen Schauprozessen, Hinrichtungen, Verschleppungen; dann der Hitlerstaat, über den ich hier nicht reden will; der ungeheure Weltkrieg — allein in Rußland, dem Alliierten der Weststaaten, 20 Millionen Tote (die Vereinigten Staaten beklagten eine halbe Million) —; dann die langsam durchsickernden Nachrichten über die Ausrottungsfabriken der Nazis; die Vernichtung von Hiroshima, Nagasaki, Dresden, Hamburg; und schließlich der Friede, der keiner war.

Denn bald nachher griff Churchill das nationalsozialistische Schlagwort vom „Eisernen Vorhang" wieder auf, und es entfaltete sich der Kalte Krieg, dessentwegen die ganze Welt seither nicht aufgehört hat, sich fortwährend zu schneuzen.

Gerade jetzt ist die Temperatur der Gefrierkiste, in der zu leben wir verdammt sind, wieder um einige Grade erniedrigt worden — und so geht es weiter.

Das war also die Welt, in der Or-well, dem Temperament nach ein anarchoider Sozialist, wenn ich diese Bezeichnung gebrauchen darf, zum Manne reifte. Es war auch meine Welt, denn er war nur zwei Jahre älter als ich.

Sein Haß gegen die Bolschewi-sten wurde noch verstärkt im spanischen Bürgerkrieg, dem er beiwohnte. Und so begann er mitten im Weltkrieg, etwa zur Zeit der Riesenschlachten um Stalingrad, seine so berühmt gewordene Tierfabel „Animal Farm" zu schreiben.

Bella gerant alii, er verhöhnte den einzigen, lebenswichtigen Bundesgenossen der Westmächte. Er konnte nicht anders, und so will ich ihn ehren; aber er geriet damit in die schmutzigsten Hände; er wurde zum Rädchen einer abscheulichen Maschinerie, die mit den großen, den herrlichen Worten des 18. Jahrhunderts Schindluder treibt.

Der Krieg war noch nicht zu Ende, als „Animal Farm" abgeschlossen war; und so mußte das Buch auf die ersten Nordbrisen des Kalten Krieges warten, bevor es zwei Jahre später gedruckt werden konnte.

Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde die Schweinefabel läppisch: Karl Marx als das große alte Schwein Major — er predigt die tierische Weltrevolution und stirbt gleich am Anfang der Geschichte —; das Schwein Snowball als Trotzki; das tiefgründigschlaue Schwein Napoleon als Stalin. Oder soll das alte Schwein Major Lenin „verkörpern"?

Nur die Pferde arbeiten schwer, die Schafe blöken Slogans, die nach Bedarf in das Gegenteil umgewandelt werden, die Legehennen sind Stachanowiten. Das einzige Ziel der Revolution ist das Wohlleben der Schweine. Man kann die Russische Revolution auch so ansehen, aber vielleicht soll man es nicht.

Ich bin wahrhaftig kein Verehrer der Ausgewogenheit, aber wenn es eine Zeit gegeben hat, in der man das Wirken zweier Teufel erkennen kann, so ist es unsere. Wer gegen den einen Teufel Partei nimmt — und das soll er —, muß es auch gegen den anderen tun: Denn sobald man bereit ist, das kleinere Übel zu wählen, wird es zum größeren.

Es gibt in allen Sprachen Adjektive, die keiner Steigerung fähig sind, sonst verlieren sie ihren Sinn. So zum Beispiel die Wörter „wahr", „frei", „gleich".

Der ad nauseam zitierte Satz „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als die anderen" ist, als Satire angesehen, nicht besser als wenn ich, vielleicht mit größerer Berechtigung, sagte: „Alle Amerikaner sind frei, aber manche (reiche, weiße) sind freier als andere".

Die Widersprüchlichkeit unserer Welt wird nicht ausgelöscht, indem man sich auf das eine Horn eines Dilemmas setzt und auf das andere spuckt. Sicherlich bleibt die Warnung der Apokalypse (3, 16) vor der Lauheit aufrecht, aber bevor man sich übermäßig erhitzt, sollte man sehen, wofür. Blinde Intensität ist nicht besser als kühle Objektivität.

So kam es, daß der unabhängige Sozialist Orwell zum Werkzeug, zum Aushängeschild derjenigen wurde, die ihren Besitz viel heißer lieben als die Gerechtigkeit. '

Faschismus, die Anwendung der Methoden der radikalsten Linken durch die radikalste Rechte, ist mit Mussolini und Hitler gewiß nicht begraben worden. Wenn er wieder auftaucht, wird er sich demokratisch nennen, und ich fürchte, einige von Orwells Büchern werden zu seinen Renommierstücken gehören.

Wer den Menschen die Rede nimmt, nimmt ihnen das Denken. Jeder Gedanke ist ein Selbstgespräch. Manchmal ist er ein Gespräch mit dem anderen Selbst: Der Funke springt von einem Pol zum andern; manchmal, seltener, liefert ein Gesprächspartner den zweiten Pol.

Alles, was die Worte entschärft,, vernebelt die Begriffe. Ich würde sagen, daß wenig die Menschen so unglücklich gemacht hat, so entmenscht, so entwürdigt, wie die Sprachzersetzung, die in den letzten hundert Jahren um sich gegriffen hat und jetzt ärger geworden ist als je zuvor.

Der einzige Teil von Orwells Buch, den ich völlig gelten lasse, ist der bemerkenswerte Anhang, den er dem Roman beigefügt hat. Dieser heißt „The Principles of Newspeak". Ich übersetze einige Worte der Einleitung:

„Newspeak war die offizielle Sprache von Ozeanien. Es wurde erfunden, um die ideologischen Bedürfnisse von Ingsoc, dem Englischen Sozialismus, zu erfüllen Der Zweck von Newspeak bestand nicht nur darin, ein Ausdrucksmittel für die Weltanschauung und die geistige Haltung, die sich für Anhänger von Ingsoc ziemen, zu bieten; sondern auch darin, andere Arten von Denken unmöglich zu machen. ... Ein häretischer Gedanke sollte buchstäblich undenkbar sein."

Orwells Gedanken über Sprache sind nicht nur in dem erwähnten Anhang enthalten, sie finden sich an vielen Stellen des Romans.

So trifft zum Beispiel Winston Smith, die blasse Hauptfigur des Buches, in der Kantine des Wahrheitsministeriums seinen Freund Syme. Dieser „war ein Philologe, ein Spezialist in Newspeak. Tatsächlich gehörte er dem enormen Team von Experten an, das mit der Aufstellung der elften Auflage des Newspeak-Wörterbuchs beschäftigt war." „Ich bin jetzt bei den Adjektiven", sagt Syme, „es ist hinreißend", und er fährt fort:

„Die elfte Auflage ist definitiv. Wir bringen die Sprache in ihre endgültige Form — die Form, die sie haben wird, wenn niemand anders spricht. ... Wir zerstören Wörter, zwanzig, hundert, jeden

Tag Es ist eine schöne Sache, die Zerstörung von Wörtern. Am größten ist der Verschleiß natürlich bei den Zeit- und Eigenschaftswörtern, aber es gibt auch Hunderte von Hauptwörtern, die man ebensogut loswerden kann. Und nicht nur die Synonyme, auch die Antonyme. Was ist schließlich die Berechtigung eines Wortes, das nur der Gegensatz eines andern ist? Ein Wort enthält seinen Gegensatz in sich selbst. Zum Beispiel, ,gut\ Wenn du ein Wort wie ,gut' hast, wozu brauchst du ein Wort wie .schlecht'? .Ungut' ist ebenso tauglich — sogar besser, denn es ist der genaue Gegensatz. Und weiter, wenn du etwas Kräftigeres benötigst als ,gut\ was hat es für einen Sinn, eine ganze Reihe unklarer, nutzloser Wörter zu verwenden, wie .ausgezeichnet' und .prächtig' und alle übrigen? .Plusgut' drückt das aus oder „doppelplusguf, wenn du etwas noch Stärkeres willst."

Bald nach diesem Gespräch verschwindet der Wörterbuchredakteur; er ist „verdampft". Sein Name wird aus den Listen gelöscht, es hat ihn nie gegeben. Smith kommt zu dem Schluß, daß Syme zu intelligent gewesen ist.

Den Prozeß der Entmenschung, der durch Geschichtsschwund und Sprachzersetzung vorangetrieben wird, hat Orwell treffend geschildert. Die gelungensten Teile seiner Satire beziehen sich, wie Satiren es immer tun müssen, auf die Gegenwart, nicht auf die Vergangenheit oder die Zukunft.

Dadurch, daß er als den Zeitpunkt der Handlung ein Datum wählte, das nur um 35 Jahre in der Zukunft lag, konnte er diese jedoch einbeziehen, ohne sich so lächerlich zu machen, wie es oft das Schicksal von Utopisten ist.

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