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Letzte Ratschläge eines Weisen

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In meiner Jugend war ich begierig darauf, die Lebensregeln anderer kennenzulernen, besonders die von bedeutenden Männern. Und ich selber habe mir damals, ich war eben einundzwanzig, geradezu ein Programm gemacht: Auf zwei Listen stellte ich meine schlechten und meine guten Eigenschaften nebeneinander — es war diese zweite Liste erschrek-kend kürzer als jene erste —, und auf einer dritten Liste notierte ich, was nun konkret zu tun sei. (Trotz allem Grübeln entsinne ich mich aber nur noch der einen Vorschrift, alles schön langsam zu

machen: langsam zu gehen, langsam zu essen, langsam zu sprechen, langsam zu lesen, also nicht hudeln — was ich mir auch noch heute mitunter befehlen muß, als meine Medizin gegen Nervenzerrüttung.)

Um so mehr verwundert mich heute, daß junge Menschen mich zwar befragen, ob ich Broch oder Saiko persönlich gekannt oder was ich studiert habe, ob ich im Krieg in Rußland gewesen und ob ich verheiratet bin, oder was ich denke von Gott und der Welt, aber keiner mich je gebeten hat, ihm ein paar Lebensregeln mit auf den Weg zu geben, seien's nun eigene oder solche, die ich für allgemein gültig halte. Aber da es nun einmal den Schriftsteller ausmacht, nur ungefragt zu antworten, will ich hier einige Maßregeln mitteilen, und zwar solche, deren Befolgung sich mir als nützlich erwiesen, sowie auch andere, deren Un-

kenntnis oder Mißachtung mir einst geschadet.

Am meisten hüte man sich vor dem Reisen. Man stirbt auch, ohne Neapel gesehen zu haben; und überdies ist Neapel, oder Hawaii, oder Wels, in der Phantasie gewiß schöner als in natura; und gesetzt, daß auch in der Phantasie falsche Umrechnungskurse und echte Vulkanausbrüche vorkommen mögen, so liegt es gerade im Wesen der Phantasie, daß von solchen Unglücksfällen der bloß in Gedanken Reisende nicht sich betroffen, ja nicht einmal sich irritiert fühlt.

Am dringendsten ist vom Reisen jedoch aus dem Grunde abzuraten, daß es, wie jeder weiß, aber niemand zugibt, die Verdauung, dieses Gewohnheitstier im Menschen, ganz durcheinander bringt; wie auch immer die unaussprechlichen Früchte des Landes zum Beispiel in Nepal heißen, am Ende gibt man das ganze Königreich für ein paar Löffel Karlsbader Salz. Ich weiß nicht, ob die Kulturgeschichte bis jetzt schon gebührend gewürdigt hat, wie viel Sorgfalt die alten Römer an ihre Verdauung gewendet haben: was diese störte, wurde gemieden, und wenn eine Störung, wie allzuviel Trubel am frühen Morgen, doch stattfand, wurde dieselbe recht kräftig verwünscht. Ist es wirklich zu viel gesagt, wenn man behauptet, das Imperium sei auf eine perfekt funktionierende Kloake gegründet gewesen? Und gewinnt nicht des Vespasianus „non olet“ damit seinen tieferen Sinn?

Gleichviel, wir tragen die Welt in uns: wir erleben sie als das, was in uns selber vorhanden ist, und wenn wir voll sind von — also sagen wir halt von Unverdautem, was außer diesem bringen wir denn dann heim von der Welt?

Doch kaum weniger zu warnen ist vor dem Lesen. Man sollte sich spätestens beim Verlassen der Schule zur Regel machen, jedes Buch wegzulegen, das auf den ersten fünfzig Seiten nicht schon die Begierde erweckt, es mindestens zweimal zu lesen. Von vornherein ausschließen sollte man jene Autoren, die noch am Leben waren, als man selber geboren wurde: sie sehen die Dinge mit denselben Affekten wie wir, befreien uns also nicht von den unsern, sondern verstricken uns nur noch mehr in dieselben; und überhaupt ist eine Zeitgenossenschaft sehr viel lästiger als die Blutsverwandtschaft, von der man sich durch den Vorbehalt „pater Semper incertus“ notfalls entbinden kann, während die Zeitgenossen alle paar Jahre mit einem neuen Väterchen aufwarten, bis man das Kind vor lauter Stammbäumen nicht mehr sieht.

Und gleichfalls so früh wie nur möglich sollte man eine Leseliste sich machen und diese, wo überhaupt nötig, nur dergestalt korrigieren, daß jedem neu hereingenommenen Titel ein anderer weichen muß, eine bestimmte Zahl also nie überschritten wird. Lichtenberg sagt, und ihm dürfen wir glauben, ihm genügten zu seinem Glücke „ein Mädchen, 150 Bücher, ein paar Freunde“; das eine Mädchen und ein paar Freunde halte ich nicht für stark übertrieben, allein was die Bücher betrifft, da scheint mir, man müßte auch mit einer zweistelligen Zahl sein Auslangen finden. In der Tat: selbst Tolstoi ist über die Biographie des

David und über den Roman vom Hiob nicht hinausgekommen.

Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt, und vom Lesen zum Schlafen nur ein paar Seiten Thomas Bernhard.

Nun, es gibt keinen Lebensbereich, in dem die Meinungen derart kraß aufeinanderprallen, wie eben das Schlafen, genauer die Frage nach der Stunde, zu der man aufstehen soll. Ich neige zu der nicht populären Ansicht, man solle sich nie von der Sonne im Bett überraschen lassen; doch keineswegs, weil ich befürchte, sie, die Sonne, könnte da etwas an den Tag bringen, das geschaffen ist, vornehmlich in der Nacht zu gefallen. Nein, ich weiß nur: ich bin um so müder, je länger ich schlafe — aber ich will aus der Weckeruhr nicht gleich ein Dogma machen. Hingegen halte ich es für unabdingbar, aufzustehen sowie man aufwacht, und sei das um drei oder vier in der Früh; denn gegen den inneren Weckruf noch weiter zu schlafen versuchen ist ebenso unnatürlich, und deshalb dem Kopf, so man einen sein eigen nennt, ebenso schädlich, wie abends die Müdigkeit zu bekämpfen, um sich nur ja nicht ein Stündchen weniger als die andern zu langweilen.

Wie man sieht, plädiere ich für das frühe Zubettgehen; das überdies auch den sogenannten Kulturbetrieb auf die natürlichste Weise, ganz ohne Zensur, allein durch das Ausbleiben eines zahlenden Publikums, sanft zum Erliegen brächte; weshalb es, das frühe Zubettgehen, nicht etwa bloß zur persönlichen Diätetik, sondern auch zur sozialen von mir hier empfohlen wird.

Bezüglich der Kleidung weiß ich nur eine Maxime, die sich bewährt hat, nämlich, man soll die Beinkleider nicht an den eben dafür zu schmalen Hüften, sondern an den zu diesem Zweck speziell erfundenen Schultern aufhängen, schlichthin gesagt, man soll Hosenträger verwenden, anstatt mit dem Gürtel den einen Leib in zwei Hälften zu schnüren. Schon Schiller vermißt die Freude bei allem, „was die Mode streng geteilt“; und ich bin ganz sicher: nahezu alle Verdrießlichkeiten und aller Verdruß, bis zum Lebensüberdruß, kommt von dem, daß zwischen dem Reich des Bewußten und dem des Unbewußten die Zirkulation, nicht nur die des Blutes, infolge der steten Zer-quetschung der Leibesmitte, des Niemands- und Jedermannslan-des zwischen den beiden Reichen, nicht funktioniert: das Zwerchfell, dem wir mehr Freiheit verdanken als dem Gehirn, da es mittels Erschütterung abwirft, was dieses bedrückt, wird vom Gürtel gehärtet zum stählernen Schott zwischen oben und unten; das Sonnengeflecht wird verknotet zu jenem Knödel, der einem gleich so im Halse steckt wie auch im Magen liegt; und die Galle ist ständig solcher Pression unterworfen, daß sie nicht abfließen kann, daher überläuft (der Physiologe wird weitere traurige Beispiele finden).

Vielleicht wird ein späterer Oswald Spengler einmal erraten, daß das Abendland gar nicht untergegangen ist, sondern an seinen eigenen Leibriemen sich erhängt hat — wie wir, zurückblik-kend, heute schon feststellen können, daß der Unterschied, den die Antike zwischen den zivilisierten Völkern und den Barbaren ge-

macht hat, kein philologischer, sondern ein eigentlich modischer war, indem nämlich diese, die Barbaren, in Hosen gegangen sind, wohl auch in Hosen geschlafen haben, und also einen gewichtigen Teil ihrer Kleidung nicht im ursprünglichen Wortsinn getragen, sondern am Körper, zu dessen Schaden und offenbar auch zum Schaden des Geistes, festgezwickt hatten. Die Hosen anhaben kann zwar jeder, aber nur wenige wissen sie auch zu tragen.

Wesentlich älter als diese Maxime, doch immer noch nützlich, ist die folgende, welche lautet: Du sollst nicht lügen! Nützlich nun nicht nur, weü, wie Mark Twain leider vor mir entdeckt hat, man sich dann nichts zu merken braucht; sondern auch deshalb, weil nichts auf der Welt so unglaubwürdig ist, incredibile auditu, wie die ganz unverschämte Wahrheit, daher man durchs Aussprechen dieser, anstatt zu lügen, all seine Geheimnisse, denen die lieben Nächsten die langen Ohren wie lange Finger entgegenstrecken, ganz zuverlässig für sich behält.

Aber apropos Wahrheit: “Man sollte ein Tagebuch führen, allerdings streng beschränkt auf die Daten und Fakten, ohne die kleinste Einmischung von Gefühlen oder Gedanken; also gewissermaßen nicht dichtend, sondern sozusagen zitierend. Man wird sich wundern, was alles, dem man einst Ewigkeitswert zuschrieb, man völlig vergessen; und noch mehr wird man sich drüber wundern, wie man sich selber seither belogen hat. Übrigens, was man apodiktisch behauptet, sollte man in die Frageform kleiden, also nicht sagen: Gott ist tot, oder: Die Einschilüngmarke schmeckt beim Abschlecken besser als die Fünf schillingmarke, sondern: Finden Sie nicht etwa auch, daß (und so weiter). Denn die Menschen bejahen gerne nur das, aber das gleich fanatisch, was sie zwar sagen können, aber nicht denken konnten: je weniger einer sich eintrichtern läßt, desto eher ist er bereit zu schwören, er habe das, was ein anderer ihm in den Mund gelegt hat, im Kopf.

Aber um nun zum Ende zu kommen, zum Heiraten: Da, erwiesenermaßen, die Frauen im Umgang mit Männern nur schlechter, die Männer im Um-, gang mit Frauen nur besser werden, rate ich also den Jünglingen, sich zu verheiraten, und den Mädchen, ledig zu bleiben. Freilich, die Greise lieben es, gute Lehren zu geben, um sich darüber zu trösten, daß sie nicht mehr imstande sind, schlechte Beispiele zu geben — aber das ist schon nicht mehr von mir, sondern von La Rochefoucauld.

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