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Autofahren und Courtoisie

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Würde jeder nach den Regeln echter Courtoisie leben, das Dasein wäre last ein Paradies. Es ist heute viel mehr nooh als früher ein Übereinkommen. Man kann den Begriff der Höflichkeit auf einen simplen Nenner bringen: sie lebt vom Nebenmen-sdhen, ist umgekehrter Egoismus. Was du willst, daß man dir tu, das füge einem andern zu. Der Blick auf den Partner schafft die Grundlage für das eigene Verhalten. Faustregel: Höflich bist nicht du, das ist der andre. Auf ihn schau, dann hast auch du es besser. Wahre Höflichkeit ist nicht das Einhalten von Regeln, sondern zweckbewußte Rücksicht. Mit den Mitlebenden fängt sie erst an. Ein Schiffbrüchiger auf einsamer Insel kann auf sie verzichten, Pinien und Haie geben sie billig. Aber jede menschliche Annäherung wird sie ihm abverlangen, ihm vielleicht sogar zur Erhaltung seines Lebens verhelfen. Höflich sein ist eigentlich recht leicht: man muß bloß immer an den andern denken: Auf welche Art man sich ihm verständlich, angenehm oder auch nur erträglich machen kann?

Beim Autofahren kann das lebensrettend sein. Am ehesten überlebt, wer sich am Nebenfahrer orientiert. Von ihm droht die meiste Gefahr. Defensiv fahren heißt nichts anderes, als unaufhörlich darüber nachsinnen, welchen Blödsinn andere Verkehrsteilnehmer maahen könnten. Es ist oft hanebüchen. Jedoch wäre eine kleine Gewissenserforschung anzustellen: ob man nicht am Ende auch dies oder jenes Abstruse, Mutwillige getan hat oder hätte? Redlich darüber nachdenken, man ist selber auch nicht immer im Recht! Keinen Fehler machen, wäre letztlich auch unmenschlich. Macht man sich einen andern Straßenbenützer durch geschmeidige Nachgiebigkeit angenehm, schaltet man oft Unfallsquellen ab und erwirbt sich vielleicht sogar im Falle eines Malheurs freundliche Zeugen. Das ist bekannt: der Mensch am Steuer kehrt zum Archetyp aus der Steinzeit zurück, der andre ist für ihn ein Feind, den es zu erlegen oder unterzukriegen gilt, ein Infantiler, welchem man Mores beibringen muß. Es erwachen Urinstinkte. Im Besitzer eines groß-volumigen Wagens Machtgelüste, die er als Fußgänger nicht gekannt hatte. Im Besitzer eines Kleinwagens oft genug Klassenkampfstimmungen. Reize nie einen Herrenfahrer zum Scherz, denn er könnte lebensgefährlich werden!

Ein paar kleine Regeln. Es bedarf keiner besonderen Kinderstube, um einen Herrn zu veranlassen, daß er einer Dame beim Eintritt ins Haus die Türe offenhält, aber den Automobilisten muß man suchen, der beim Aussteigen seiner Mitfahrer selbst aussteigt und den Damen die Türe öffnet. Schuld ist daran gelegentlich die Verkehrslage, die ihm das Aussteigen auf der linken Seite unmöglich macht; in einem solchen Falle wäre ja wohl ein Wort der Entschuldigung am Platze? Von einer Lenkerin erwartet man das nicht. Daß der Urmensch am Steuer während der Fahrt stöhnt und brummelt und zeitweise Kraftworte ausstößt, ist keine Seltenheit. Hingegen fast überraschend dies: daß er die Mitfahrenden fragt, ob ihnen Schnellfahren peinlich sei? Der Urmensch muß jeden Wagen voraus vor sich als Beute hinter sich bringen, gleichgültig, ob es den Mitfahrenden den kalten Schweiß auf die Stirne treibt. Was das Rauchen betrifft, wäre eine gegenseitige Konvention wünschenswert.

Ein gewisses Feeling braucht er wohl, um zu ermessen, ob die Fahrtdauer zu lang bemessen ist und ob die Gäste nicht am Ende nur deswegen keinen Einwand gegen Schnellfahren machen, weil sie sich nicht blamieren wollen. Im allgemeinen leidet ja jeder Fahrgast darunter; ganz besonders aber bei unkonzentrierten Fahrern. Es gibt wenige Frauen, die nicht lieber gemütlich

reisen würden. Schließlich hat jeder seine geraden Glieder gern.

Bedenkt ein Urmensch am Steuer daß ihm ein kostbares Gut, das kostbarste, die Gesundheit seiner Mitreisenden, anvertraut.wird? Erweist er sich des doch beinahe grenzenlosen Vertrauens würdig? Er denkt vielleicht an sein eigenes Wohlergehen und subsumiert das der andern, aber daß er über sich beliebig verfügen kann, nicht über die Mitfahrenden, geht ihm kaum auf. Also alles in allem und wiederum: die Höflichkeit richtet sich am Nebenmenschen aus. Sie darf ihn jedoch

nicht versklaven, dasjenige also, was die alten Formen in unseren Augen suspekt gemacht hat. Autofahren ist eine Leistung, es kann fast eine Kunst, in jedem Fall ein ästhetischer Genuß sein, aber die Verantwortung dafür darf man nicht delegieren.

Ein paar Nebenfragen: ob man als Herr, so man einen trägt, den Hut im Innern aufbehält? Darüber gibt es keine Regel, aber eine Beobachtung: die meisten Herren legen den Hut freiwillig ab. Er scheint ihnen offenbar ungemäß. Sie müßten es nicht tun. Das Auto ist mehr öffentlicher Ort als etwa der Lift der ein Hutabnehmen stilrein erscheinen läßt. Das Auto ist nicht Haus, sondern Teil der Straße. Mitfahrern wiederum soll geraten werden, etwaige Stöße von der Straße her nicht jeweils mit lautem „Hoppla“ zu begrüßen oder die Motorleistung abschätzig zu besprechen. Urmenschen am Steuer pflegen ihr Roß bis zum Wahnsinn zu lieben, man verletzt ihre Ehre, wenn man etwas Ungutes über das Schnauferl sagt. Ganz ungeschminkt ist es auch, den Fahrer unvermittelt um die Schulter zu nehmen. Er fährt nämlich nicht nur mit Händen und Füßen, sondern

auch mit der Haut des ganzen Leibes, ob man's glauben mag oder nicht. Mancher, den man unvermutet anrührt, fährt zusammen — glücklicherweise nicht gleich mit einem Entgegenkommenden.

Bockt der Motor, so ist freundliches Stillschweigen erste Bürgerpflicht. Wer kann, soll helfen, aber wer nichts versteht, soll nicht noch Kommentare verlangen: was denn die Ursache sei? Mitfahrende, die die Situation erfassen und einen vorbeifahrenden Wagen anhalten oder nach dem gelben Engel telephonie-ren, ohne viel Wesens zu machen, sind ein Goldschatz. Im Stadtverkehr werden übrigens Lenker durch Gespräche, zumal interessante, „abgelenkt“ im direkten Sinn. Man soll sie lieber in Ruhe lassen, auch riskiert man unkonzentrierte Antworten oder meint gar, der Angesprochene sei unhöflich.

Aber was hat er nicht alles zu bedenken! Schilder, Verbote, Vorschriften, andere Verkehrsteilnehmer, Schienen, Häusereinfahrten, den Weg zum Ziel usw. Wenn der Mann nun gar den Ehrgeiz hat, sich auf der Straße möglichst anständig zu verhalten, ist er reichlich ausgelastet. Unter anderm muß er sich doch gegen solche oft unberechenbare Straßenbenützer, die keine vier Räder haben, ritterlich verhalten; das kostet viel Mühe.

Muß er?

Das Wesen der Ritterlichkeit bestand immer darin, als der Stärkere keinen Gebrauch von der Überlegenheit zu machen. Ist's wirklich lustig, durch rücksichtsloses Hineinplatschen in eine Lacke Passanten mit der Gosse zu begießen? Nein, es ist oft nur Mangel an Phantasie. Oder: der lästige Mann auf dem Fahrrad, der da vorn unsicher hin und her pendelt, man weiß nicht, wird er abbiegen oder gerade weiterfahren — das ist kein „Radfahrer“, sondern ein Familienvater. Soll man auch nur andeutungsweise eine lebensgefährliche Waffe auf ihn richten, so unverantwortlich, wie gern, mit einer Pistole auf Menschen zielen und dann geht sie am Ende los? Wenn er uns noch so sehr giftet, nein! Ihn auch nicht apostrophieren, womöglich. Würde man in Begleitung einer Dame im Theater einen Menschen, der sich falsch verhält, sagen wir einmal, der sich mit dem Rücken zu den Sitzenden durch die Reihe drängt, mit dem Tippen an die Stirn bedenken? Was soll die Mitfahrerin von ihrem Herrenfahrer halten, der solches tut?

Ob sie es allerdings versteht, wenn ihr Fahrer durch einen vernünftigen Abstand zu den andern Wagen

schweigend einem siegesicheren Rowdy ermöglicht, in die Lücke einzuschwenken, ist die Frage. Der Gentleman wird ihren High-brow-Blick still hinnehmen, dafür ist er eben ein Gentleman. Er lächelt und schweigt. Damit rechnet er, daß er in vielen Fällen, wo er das Anständige oder das Klügere getan hat, auf Undank und Spott rechnen muß. Was kümmert's ihn? Für ihn gilt im Autofahren die oberste Regel des guten Benehmens: möglichst wenig aufzufallen!

Sie stimmt hier genau so wenig wie im Alltag: denn gutes Benehmen fällt auf — aber angenehm. Und ist die Dame eine Dame, so wird sie ihm sein Verhalten danken. Auch dafür wird sie Anerkennung haben, daß er sich von keinem allzu direkten Zuspruch eines Schutzmannes zum Toben hinreißen läßt. Zurückhaltung ist Haltung, es macht sich einfach gut, wenn einer Suada neutrales Schweigen entgegengesetzt wird. Nicht trotziges Ruhigsein! Das will aber gelernt sein. Was verschlägt's? Gönnen wir doch dem Fußgänger, der absichtlich langsam über die Kreuzung spaziert, den billigen Triumph der Überlegenheit.

Natürlich sind auch die Autofahrerkollegen, vom bärtigen Jungen bis zum kahlen Greis, ahnungslose Nichtskönner. Wie also sich am besten ihnen gegenüber, und überhaupt, aufführen? Ganz einfach so, daß man auf die Dauer den andern Respekt abnötigt. Den erwirbt man jedoch nicht, wenn man der an der Kreuzung im Nebenwagen sitzenden Fahrerin witzig zublinzelt. Daß Autolenker alle eine ungehobelte Bande sind, geht schon daraus hervor, daß solche, die bloß das tun, was selbstverständlich ist, etwa bei einem Verzweifelten auf der Landstraße stehen zu bleiben, als „Kavalier am Steuer“ ausgezeichnet werden.

Allerhand ließe sich noch aufzählen, was man soll oder besser läßt, aber am besten gibt das doch dem einzelnen sein Empfinden ein, wobei die Grundlage ist: er möchte ein Ritter sein.

Die Schwierigkeit liegt auch hier im Fehlen eines Vorbilds, wie beim guten Benehmen allgemein. Ehemals gab es das, es waren im Feudalzeitalter eben die Ritter. Es war dann der Hof, woher sich der Ausdruck Höflichkeit herleitet. Im Gefolge des Adels, dann im Übergang zur bürgerlichen Epoche diejenigen, die als Prominente in dieser Ära empfunden wurden, Burgschauspieler etwa, Tenöre. Aber da hört es auf. Welches Idealbild könnte man heute wählen? Der Begriff ist aus dem Rahmen gefallen, man muß sich Einzelerscheinungen aussuchen. Auch sie sind selten und selten vollkommen. Von welchem weithin sichtbaren Autofahrer wollte man sagen, er könne als Idol dienen? So muß denn die Einzelverantwortung an die Stelle der eifrigen Nachahmung treten, ein an sich gesunder Vorgang, etwas sozusagen Demokratisches.

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