Am Wochenende sollen 45.000 Touristen aut dem Flugplatz von Palma angekommen sein. Mit 450 Flugzeugen. Massentransporte aus skandinavischen Ländern, aus England, Frankreich, aus der Schweiz, Deutschland und Österreich. In der Mehrzahl junge Leute, deren Ergiebigkeit die Reisekommerzgesellschaften erkannt haben. Sonderbare, ärmlich gekleidete Gestalten aus England, Auswanderern ähnlich. Spleen oder insulares Selbstbewußtsein, das nicht erst mit Äußerlichkeiten um Ansehen werben muß? Anders die neureichen Jugendlichen aus Deutschland! Gekleidet, als wären sie Blumenkinder, Hippies. Aber das sind sie nicht, sie sind sehr zufrieden mit der Gesellschaftsordnung, die ihnen ein Konsumentendasein ermöglicht, einer „freundliche Diktatur“, dem Rauschgift des Angebotes verfallen.
Die Gäste im Hotel sind fast ausschließlich Angestellte. Ein ganz bestimmter und unsere Zeit bestimmender Typ. Eine gewisse Enge des Bewußtseins, des Gesichtsfeldes und — weil dadurch geborgen, beheimatet — zufrieden. Eine Vereinfachung der Sprache und somit auch der Unterhaltungen, der Gespräche. Bei den Deutschen peinlich bemerkbar eine sehr unwürdige Nachahmung Amerikas. Die Sucht, „untertan“ zu sein. Irgend etwas muß herhalten, dem man sich unterordnet und wären es nur die modischen Forderungen kn Sprechen und Sichkleiden. Und die Eilfertigkeit! Warum nur alles so schnell? Da die Beine nicht mehr sehr stark, fahren die meisten Jugendlicheh mit den hierorts üblichen Leihautos. Warum? Wohin? Eben nur so …
Nachmittag beim sehr belebten „Swimming-pool“ — dem Wohlstandssymbol la! Vielen genügt das Wasser im Bassin — sie gehen nicht bis zum Meer! … Ein junger Deutscher wäre heute fast umgekommen als er seinen eigenen Rekord im Tauchen brechen wollte — Leistung! Rekord! Höchstleistung! — Er wurde ohnmächtig und tauchte blaugesich- tig auf, wand sich, aus dem Wasser gezogen, in Lungenkrämpfen. … Ein Gespräch neben mir. Ein junger Angestellter zu einem andern: „Hier ist nichts los — kein Kino, kein ordentliches Fernsehen, kein Lokal, wo man abends hingehen kann. … Wenn ich einmal geschäftlich so richtig ‘rankomme — dann erstmal ein Swimming-pool mit zwei Bahnen.“ Natürlich gibt es eine Tanzbar — auch in diesem kleinen Insel hafen kitschig, im Grottenbahnstil —, und es gibt auch ein nettes Restaurant, aber dort scheinen die vielen Franzosen, die vom nahen „Club mediterrane“ hinkommen, den jungen Deutschen eine zu große Konkurrenz zu sein …
Das Fernsehen auf der Insel ist technisch schlecht und auch programmäßig. Staatliche Zeremonien bekannter Art. Neben dem sehr alten Staatschef immer der Thronprätendent Carlos: wie er Akten unterschreibt, wie er Kindern den Kopf streichelt und sich militärisch betätigt. Spielfilme ohne bildhaften Inhalt, nur langatmige Gespräche. Darüber dicht und dick gestreut; wie in allen autoritären Staaten aller Himmelsgegenden: Folklore! Überblendung für Verblendete und zu Verblendende!
…Ehepaare, einige wenige, sind hier fast entheiratet, damit sie sich den Ferienpärchen besser anpassen können (was zum Teil auch eheliche Streitigkeiten verhindert). Eine Fünfzehnjährige aus dem Ruhrland — modern, aber ohne geschmackliche Voraussetzungen, gekleidet; mit einer riesengroßen Sonnenbrille, die das winzige Naschen kaum tragen kann und unter der seitwärts sehr rundliche Babywangen abstehen — kein erfreulicher Anblick. Auf meine wohlmeinende Frage, warum sie sich zu so einer alten Eule karikiere, kam die Antwort: „Man muß doch up to date sein!“ … Man muß!
Der nächste Badestrand, dort wo der „Club mediferranė“ sich ausbreitet. Da die Küste überall, wie etwa auch in Jugoslawien, Staatsbesitz ist und dem Zugriff privater Ansiedler oder Speikulanten entzogen — sicher auch aus militärischen Gründen —, kann man überall baden. Wenn es der angetriebene Unrat und das ölverschmutzte Meer ermöglichen. Wenig erfreulich die Anhäufung von nicht immer reizvollen Badenden^ die begreiflicherweise sich der Sonne aussetzen (der geduldigen Sonne!) und den Blicken der oft weniger geduldigen Augen, der ästhetisch veranlagten!
…Eine stille und schöne Bucht gefunden! Ein weiter, schattenloser Weg. Erst staubige Straßenserpentinen hinauf zur Hochebene. Ein Stoppelfeld, auf dem, wie weidende Kühe, kantig gepreßte Strohbündel liegen. Dann abwärts, durch einen Pinienwald, ‘zur schmalen Zunge der Bucht. Sand, Felsen, zwischen vorgelagerten Klippen das offene Meer. Auf dem Rückweg in der Mittagshitze am Ende des Stoppelfeldes in einem im Bau begriffenen Hotel — dem entlegensten des Fischerdorfes — die bereits geöffnete Bar als wohltuende Rast. Aperitif, erfrischendes Getränk …
Der tägliche Weg zum Badeplatz wird immer schöner! Und daher kürzer! Der Blick vAn der Hochebene ins Land, zu den Berghügeln am Rande, den weißen Häusern der größeren und kleineren Siedlungen, der hellblaue Himmel und — ehe ich zum Pinienwald komme — vorbereitend eine Baumreihe seitwärts des Weges …
Wasserskisport! Symbol gesellschaftlicher Ordnung! Der Stärkere, der im Motorboot, zieht, der Gezogene genießt dafür die Lust des Gleitens (und — des Gezogenwerdens!). Sklaverei mit Komfort und verlok- kender „Freiwilligkeit“! Der solchen Komforts und solcher Freiheit Unwillige gerät in Gefahr, als Außenseiter unterzugehen! — Verfolgungswahn? Von seinem Schatten, der über ihn fällt, verfolgt! Immer wieder, wenn er endlich allein zu sein meint…
Der Wind kommt heute vom Meer her und schwemmt Schmutz an den Sandstrand der schönen Bucht. Plastiksäcke wie Quallen umklammern den Tauchenden, öliger Schaum verschließt den Mund des Schwimmers. Es wird trüb, Wolken verdunkeln den Himmel. Der sonst so erfrischende Wind hat giftige Dichte. Welche Verwandlung! Neben verrostender, absterbender Sardinenbüchse unter den Stämmen der Pinien grinst frech und blöd die Kunststoffflasche, die nicht sterben kann — nicht vergehen! Trostlose Düsternis über allem. Ein toter Seestern wird angeschwemmt. Tote Sterne! Mistafolagerungsort der großartigen Zukunft: der Mond! Mistbauer fliege, fliege …
Die Kaufläden am Hafen. In einem werden Zeitungen angeboten und das geistverstopfende Futter der kleinen Leser: Illustrierte! Mit von der nahen Wirklichkeit stark abgewerteten Bikinimädchen als vergeblichen Blickfang — oder nicht vergeblich? Sehen die Leute nur noch durch den Zwang der technischen Wiedergabe? Unter den Zeitungen, neben englischen und französischen auch deutsche. Fast eben so dumm wie schlecht gemacht — aber für schwachsinnige Lebewesen der Kon sumgesellschaft anscheinend sehr geeignet? Bildung und Verbildung, Formung und Zerstörung durch: „Information“ … Kleinbürgerlicher, muffiger Sex und gustiös servierte Verbrechen. Geschäft ist Geschäft, und das weiß der Konzern, der diese bedruckten Papiere ausspeit. Nur ein nichtk’onzentriertes Blatt finde ich. Das hat noch einen Kulturteil, der hoffen läßt, daß der Kommerz nicht alles vernichtet, das ihm nicht dienen will. Daß der Geist stärker ist als das Gift — aber wie lange noch…?
Die kleine Kirche von Porto Petro. Sie ist richtig gebaut und nicht bloßes Experiment oder unzulänglicher Versuch, sich dem Industriestil anzu- biedem. Auch nicht falsche Altertümlichkeit — eben einfach eine Kirche Zeitlos. So wirkt auch der Gottesdienst. Von schöner Kargheit, auf das Wesentliche gerichtet. Die Predigt vorbildlich kurz! Wohltuend auch die Sprache, zum Teil noch das sakrale Latein. Der vielleicht auch hier vorhandene Einbruch der Tagesbanalität für den Fremden weniger merkbar als zu Hause, wenn die eigene Sprache mißbraucht und verdorben wird …
Im Speisesaal. Gemeinsames Essen — sicherlich verständlich in einer Zeit in der man gemeinsam die Wildsau gejagd und dann auch gemeinsam verzehrt bat — war für mich immer ein übles Überbleibsel. Heute im Massentourismus eben Abfütterung mit Stallgeruch und Zubehör. Ich habe ein Tischchen für mich und kann ruhig schauen (Hauptzweck der Sonnenbrillen dieses ungeschaut schauen können!) oder ein sehr gutes Buch, „Jenseits von Schuld und Sühne“ von Jean Amėry, lesen. Einige Tische weiter, an der Fensterwand zwei Mädchen an einem Tisch. Die eine etwas maskulin, die andere sehr zart und erfreulich hübsch. Wohltätig für die Augen! Wohl eine junge Französin? Auch ihre Kleidung ist witzig, passend und richtig. Ansonsten: am Nebentisch ein französisches Ehepaar mit einem sehr herzigen achtjährigen Buben.
Daß aus Kindern Erwachsene werden — immer wieder eine erschütternde Wirklichkeit für mich. Der kleine Framzosenbub, voll strahlender Lebenslust, mitreißender Heiterkeit und dem Charme seiner Nation: ich sah ihn heute, abgesondert, allein, auf der Hafenmauer hocken — weinend! Der Abschied! Nachmittag muß er zurück, die Ferien zu Ende … Ich erinnere mich an meine Kindheit und die traurige Last des Abschiednehmens von der Freiheit, die die Stadt nie geben kann, und dem Glück des Zusammenlebens mit natürlichen Dingen. Mit Wasser, Sonne, Körper und den immer neuen Wundem des Tages …
Mit dem sympathischen, zarten Mädchen, an dessen Tisch ich nun, die letzten Tage des Hierseins, sitze, an meinem Badeplatz. Sie ging tapfer den heißen und steinigen Weg. Sie ist Schweizerin, aus Zürich, heißt Ursula und ihre Luxus-Hippie- Gewandung sieht so nett aus, daß meine allgemeinen Bedenken gegen Kommerz und Mißbrauch der Jugend sich in den Hintergrund verziehen. Ein bißchen gehemmt und schüchtern, wie das Schweizer ja meist sind … Sogar junge und modeme, die allzu bürgerlichen Zwänge nicht mehr als Ketten mit sich schleifend.
Das Skizzenbuch ist zu Ende. „Kein Tag ohne Linie!“ Wie sonderbar, daß unsere Zeit eigentlich den
Wert der Skizze erfaßt hat und das Direkte, das Unvermische und Unverfälschte stark spürt. Trotz dem Gegenteiligen in der Kunst unserer Tage, dem altmeisterlich Ausgeführten, fein Gepinselten und brav Lasierten, der „Wiener Schule“ — oder wie man diese Art nennen will, deren Fleiß wesentlicher von dem kleinbürgerlichen Publikum anerkannt wird als ihre künstlerischen Werte, die trotz rückblickender Methoden vorhanden sind. Aber hat nicht auch die dem Schaufenster zugestandene und dem Handel untergeordnete Form Einlaß in die Kunst unserer Zeit gefunden? Kunst als Ware und somit allem kommerziellen Unfug ausgeliefert … Wenig Freude an der Heimkehr in diese große Verwirrung und dem überlauten Geschrei und Geschreibe der falschen Propheten…
Letzte Nacht. Milde Nacht. Auf den Stufen des Hotels sitzend, warte ich auf den Wagen, der mich zum Flugplatz bringen solL Neben mir das kleine Mädchen Ursula und ein junger Kollege aus Hannover. Ein stiller und menschlicher Abschied — frei von der Hektik des Tourismus — fast, als gäbe es den nicht und die Welt wäre noch unbeschädigt. Fast. Doch der Hexenkessel des Betriebes im Air-Port läßt keine Täuschung zu. Ein Inferno, tausende Menschen umherirrend, dann wieder zu Schlangenlinien formiert, schreiend, übertönt von Lautsprechern, blechernen, harten, dem Lärm der an- kommenden und aufsteigenden Maschinen, Transporte, Transporte …!
ZEICHNUNGEN: CARRY HAUSER