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Von Ameisen und anderen Architekten

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Wodurch unterscheidet sich eine Henne sosehr von einem Architekten? Dadurch, daß die Henne, und sie allein, sich bei ihrem Geschäfi niederlegen kann und trotzdem Resultate erzielt. Ein Architekt kann das leider nicht, Was ist es nun, was dem Architekten nicht erlaubt sich ni«derzulegen und auszuruhen? Ist es die Notwendigkeit, mit der jüngsten Entwicklung der Vinyliteprodukte Schritt zu halten, alle Annoncen auszuschneiden, die neuesten Ausgaben der Fachpresse nach Informationen übel plastische Handtuchständer und zweigetönte Wandkühlschränke zu durchsuchen? Ist dei Architekt ein Verkaufsingenieur und Technologe? Oder ist er ein Naturforscher, der den Menschen kennt, wie andere Naturforschei Schmetterlinge, Vögel und Polarbären kennen und ihre Brutgewohnheiten, ihre erstaunliche Lebensfähigkeit, ihre natürliche Lieblichkeit und ihr Liebesleben, ihre Aengste und ihre inneren Sekretionen, ihre fiebrig-rasch kommunizierenden Nerven und die Spannungen und Belastungen unter ihrer Haut — nicht bloß jene in Beton und Stahl?

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Ist der Architekt ein Mechanist oder ein Mystiker, ich meine einen Mann, der dem Mysterium des Lebens so hingegeben ist, daß er sich zur Konservierung verpflichten muß, durch einen hippokratischen Eid. so wie ihn der Arzt leisten muß, um zur Praxis am Menschen zugelassen zu werden?

Ein Mysterium ist der Fleck Erde, den sich Ameisen ausgesucht haben, um in wenigen Stunden einen Hügel zu errichten; die Astgabel, die zwei Wellensittiche wählen, um darauf ihr Nest zu bauen und zu brüten; die Untiefen im Fluß, in die ich zwei baumbewohnende Paviane aufallen vieren galoppieren sah« als wolltei? gie sich an einem freien Tag einmal richtig austoben, bevor es wieder zurückging- zum Erröt und der Eintönigkeit des Lebens im dichten Busch.

Tiergewohnheitsforscher wie Hediger oder Portmann oder von Uexkuell haben eine ganze Menge mechanistische Theorien als „Erklärung“ dafür gegeben; sie nennen jenen Platz des Ameisenhaufens, jenen Baum, jene seichte Stelle im Fluß eine „Psychotope“. Aber jene Punkte wurden ja nicht einfach aus „praktischen" Gründen gewählt.

Gewiß, wenn ich einen Weg in den Dschungel bahnen will, mache ich mir eine Machete; wenn ich etwas einzuschlagen habe, einen Hammer. Beides sieht dem Verwendungszweck entsprechend aus und kann schließlich zu einem Symbol des Zweckes werden, wie „Hammer und Sichel“. Und zweifellos gibt es Präzedenzfälle genug: ein Fisch muß schwimmen, muß sich eine Stromlinie zulegen und Flossen zur Vorwärtsbewegung und zum Steuern wachsen lassen. Eine Monterey-Föhre muß sich gegen die steife Brise von der See fest verankern; sie verwurzelt sich am gewachsenen Felsen.

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Louis H. Sullivan, den ich liebte und bewunderte, in seinem armseligen Zimmer im Süden Chikagos und bis zu seinem Begräbnis auf dem Graceland-Friedhof, wo ich merkwürdige Grabreden zu hören bekam und zum erstenmal Mr. Wright begegnete — Sullivan erschien mir ganz groß mit seiner Entdeckung, zu einer Zeit, da noch alle Banken in der La-Salle-Straße eine Manie für Säulen hatten, daß die Form sich der Funktion anzupassen habe.

Vor einigen Monaten hörte ich im Parlament in Nairobi eine oppositionelle Rede des’schwar- zen Gewerkschaftsführers M’Boya. Die Parlamentsbeamten trugen weiße Perücken wie in der „Mutter der Parlamente" am Ufer der Themse. Ein kostümierter Waffenherold brachte ein riesengroßes, auffrisiertes Szepter herein und legte es auf das untere Ende des Vorlagetisches. Ich fragte, was es sei. und man sagte mir, daß es eine monumentale Keule sei, dazu bestimmt, den mittelalterlichen Feudalherren und den gepanzerten Rittern auf die wahrscheinlich helmbewehrten Köpfe zu schlagen, falls sie die mit der Krone vereinbarte Ordnung demokratischer

Diskussion zu arg verletzten. Nun, vielleicht war diese Erklärung nicht ganz zutreffend, hier in Ostafrika wußte das niemand so genau. Aber wer würde schon an Demokratie denken oder an ein Parlament mitten unter den Mau-Maus oder sonst irgendwo im Commonwealth, ohne ein mit Samt und Messing garniertes Szepter und weiße Perücken! Wer möchte schon Klient einer Bank ohne Säulen sein!

So ist es eben mit der kulturellen Blättertorte der Weltgeschichte: Nüsse und Rosinen, Schokolade und Mandeln müssen dort bleiben, wo sie hineingebacken worden sind — fast für immer. Und tatsächlich schlucken wir sie eine lange Zeit. Aber schließlich sind dies alles nur die oberen Lagen unserer Torte, die alle in der kurzen Spanne einiger Jahrhunderte gebacken worden sind. Ja, für Sullivan hatten sie einen mächtigen Lästigkeitswert, und so wurde er ein Prophet des Funktionalismus. Er räumte auf mit den Perücken und Säulen, mit Fassaden und lächerlichen Kopfbedeckungen.

„Weniger ist mehr“, ausgenommen beim tropischen Fisch, beim Pfau, 'bei jener wunderbaren Wespe oder dem Schmetterling, der sich auf einer phantastischen Blume niederläßt. Es ist faszinierend, um wieviel ihr Mehr an natürlichen Merkmalen das Minimum übersteigt.

Der landläufige Experte für „natürliche Auslese" am Tag, nachdem Darwin die Antwort auf alle Fragen gefunden hatte — seine wortreichen Erklärungen sind durch das moderne Schweigen über diesen Gegenstand überholt. Wir behaupten nicht mehr, zu wissen. Aber es sieht sehr so aus, als ob die Form recht früh ihren Einzug in die Welt gehalten hätte; gleich nach dem Chaos. Die Griechen hielten Gestaltlosigkeit für etwas Gräßliches; ihre Götter hatten Form und Farbe gegeben - nicht gerade aus Nützlichkeitsgründen, sondern zwecks Erhaltung des Lebens. Ein Vogel ruft zu hörbarer Verteidigung und um das Liebesspiel zu beginnen. Der -Leuchtkäfer' fliegt im Zickzackund •blinkt mit seinem Licht. Muß er das? Ist es der einfachste Weg, um die Weibchen zu erwärmen und die Gattung fortzupflanzen? Die Funktion folgt der Form.

Nun, diese Geschöpfe sind so zur Welt ge kommen. Erbanlagen, vielleicht, ‘Mutationen, vielleicht, kosmische Strahlung oder Abfallprodukte nuklearer Explosionen, es mag sein auch natürliche Auslese — aber häufig genug erscheint die Funktion hervorgerufen durch die Form. Der umgekehrte Weg erleichtert nicht immer die Erklärung. Die Naturwissenschaft mag weit über das hinausgehen, was sich wirklich beobachten läßt und woraus verläßliche Schlüsse zu ziehen sind, aber dann haben wir es eben nicht mehr mit Wissenschaft zu tun, sondern mit einer wilden Spekulation der Art, wie sie im „Zeitalter der Vernunft" so eifrig betrieben wurde. Im Zeitalter des Glaubens, in den „unvernünftigen" Zeiten, da es noch keine Ziffernreihen der Großproduktion und keine astronomischen Fortschrittsstatistiken gab und manche Völkerschaften nicht weiter zählen konnten als bis drei, in jenen Tagen gab es Bilder, die zählten und genügten, die man als das Ursprüngliche in Ehren hielt und nicht notwendigerweise als Firlefanz verachtete.

Die heutige Architektur schwankt inmitten der Sicherheit, die der Funktionalismus gestern noch gewährt hatte. Der Nützlichkeitpragmatismus der. Ausführung steht plötzlich wieder im Kampf oder in toller Kombination mit Modemustern oder modischen Neuformen um ihrer selbst willen.

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Wo können wir einen schlüssigen Rat finden? Wo eine Antwort? Von der Natur, unserem Präzedenzfall, unserer Urform, unserer eigenen, natürlichen Mitgift und Kraftquelle! Was grundlegend war und bleibt, was biologisch tragbar und gesund ist kann niemals ein solcher Firlefanz, eine so überflüssige Zutat sein, wie das Chaos und die Formlosigkeit unserer vielmillionenfachen Fehlinvestitionen in rußigen, unordentlichen Geschäfts- und Fabrikbezirken, rasch schmierig werdenden Wohnvierteln und Randsiedlungen unter einem blaßgrauen Himmel, der sich über verpestete Luft und das Durcheinander von Telephonstangen und -drahten wölbt.

Man muß für uns sorgen, so wie wir sind. Und vor allem sind wir so, wie wir geboren wurden. Die Blättertorte hat unten Schichten, die viel tiefer liegen als die äußere Glasur der Geschichte oder die letzte Ausgabe des Modemagazins. Wir hatten schon eine Umgebung und waren Voraussetzungen unterworfen, ehe noch naęh unserer Geburt unsere Mütter den ersten liebevollen Blick auf uns senkten oder unsere .einigermaßen verwirrten Väter uns zum erstenmal durch die Glaswand der Babyatteilung auf der Gebärklinik betrachteten.

Damals hatten wir schon unsere entscheidende Evolution in der wunderbar ausgewogenen Umgebung des Mutterleibes durchgemacht, behütet i vor äußeren Geräuschen, die nur gedämpft zu uns dringen konnten, und vor dem Anblick all des optisch störenden Durcheinanders der äußeren Welt.

Nun waren wir entbunden worden und, zu- ’ sammen mit der Pflegeschwester, dem Gynäkologen und anderen brüllenden Babies, ausgeliefert dem Architekten des Spitals. Und von diesem Augenblick an weicht der Architekt, es sei denn, wir lebten im Urwald, nicht mehr von uns, bis wir die Aufbahrungshalle erreichen, für die er ja auch den reizenden Entwurf gemacht hat.

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Ja, ob Mann, Frau oder Baby, wir alle sind wandelbar. Teils sind wir funktionell, teils „symbolisch", teils Firlefanz. Schön geformte und eindrucksvoll beschriftete Plakate führen unseren Geschmack von der süßen, warmen Muttermilch fort zum kalten, kohlensäureversetzten Coca-Cola und selbst zum bitteren Pilsner. Auch der Architekt verändert uns, er stellt uns Barrieren und verkünstelte Hürden in die universale Landschaft hinein, mit der wir, aus ihr hervorgegangen, eins waren. Sodom und Gomorrha, der Menschen stolze Städte, wurden pervertiert.

Das Universum ist nicht bloß eine umgebende Hülle Wir sind ein Teil davon, und es durchdringt uns bis in unser Innerstes. Wir sollten es •respektieren. .. T .

’Der' heutige Architekt übt gewaltige Macht aus'auf einem Gebiet, wo gesteri? „nochte Dinge unkontrolliert zu geschehen pflegten. Er entwirft für die ganze Dauer unseres Lebens. Wir sind zu Lebenslänglich verurteilt, wenn wir in den Rahmen eintreten, den er und die Städteplaner uns vorgezeichnet haben.

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