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Bei schwebendem Verfahren

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Die Straße, die idh sonst immer langsam hinuntergegangen war, lief ich jetzt in schärfstem Galopp entlang. Immer wieder begegnete ich Menschen, die sich gleich mir zu spät auf den Weg gemacht hatten und die nun ebenfalls liefen. Die Straße glich einer Rennbahn. Allerdings strebten nicht alle auf dasselbe Ziel zu, sondern naturgemäß nach den verschiedensten Richtungen. Man hätte beim Anblick dieser in alle Windrichtungen laufenden Menschen glauben können, daß irgendwo in der Stadt ein großes Unglück geschehen sei, daß in irgendeinem nicht allzu fernen Viertel eine Feuersbrunst wüte und daß alles in Schrecken und Panik wirr durcheinanderlaufe.

Die Verachtung, die ich für jene avancierten Kanzlisten empfand, brachte mir meine Beförderungsspekulationen vom Vortag in Erinnerung. „Beim Bankett hat sich in Hinsicht auf eine zu erwartende Beförderung nichts ereignet“, dachte ich, „eine Änderung meiner dienstlichen Verhältnisse hat sich nicht einmal in Ansätzen abgezeichnet. Freilich, wer weiß, was in den Köpfen der hohen Beamten vor sich geht?“ — Eine Beförderung zum Unter-, zum Ober-, ja selbst zum Stäbsassessor würde ich jedenfalls ausschlagen. „Ich danke“, würde ich sagen, „ich danke für Ihr Wohlwollen, aber diese Beförderung kann ich nicht annehmen!“ Nach meinen Gründen für die Ablehnung befragt — ich weiß, daß man nicht befragt, daß man bei einer solchen Beförderung von den hohen Herren kaum angeschaut wird —, würde ich sagen, daß ich es vorzöge, der geringste Diener der Gesetze zu bleiben. In Wirklichkeit wäre meine Ablehnung aber nicht von Bescheidenheit diktiert. „Mit ein paar Millimetern Erhöhung ist mir nicht gedient, meine Herren! Halbheiten sind mir unerträglich!“ So müßte ich zu den Beamten sagen. „Auf einem Bein zu hüpfen, das ist nichts für mich, meine Herren, in einem solchen Fall ziehe ich das Kriechen vor, daran bin ich gewöhnt. Ein Luftsprung müßte es sein, der Wurf eines gewaltigen Katapultes! Dazu würde ich nicht nein sagen, meine Herren, Sie hätten sofort mein Ja, ein unbedingtes, doppeltes Ja! — Wozu übst du solche Reden, dachte ich, zuletzt schon ärgerlieh^jber die Beharrungskraft der eigenen Phantasie. Nichts als Luftblasen, nichts als Hirngespinste!

Obwohl der Gehsteig für fünf oder sechs nebeneinander 'gehende Menschen Platz geboten hätte, wurde ich von einem nach Schnaps stinkenden Mann angerempelt. „Du Hund! Du dreckiger Hund!“ murmelte er ständig vor sich hin. Diese Beschimpfung hatte weder auf -mich noch auf sonst irgendeinen Menschen Bezug. Sie galt allem, was in dieser Straße, an diesem Tag vor sich ging, der Vergangenheit und auch der Zukunft. Der Betrunkene war einmal Beamter in unserer Abteilung gewesen. loh konnte meine Erinnerung an ihn zuletzt zu einem Bild von beinahe photographischer Schärfe zusammensetzen. Man hatte ihn wegen Unregelmäßigkeiten aus dem Dienst gejagt. Seine Stelle ist längst mit einem anderen besetzt. Obwohl der Lohn gering und die Arbeit gewiß nicht leicht ist, drängen sich immer viele junge Leute zur Aufnahme in den ministeriellen Dienst. Auf der einen Seite zwingt sie ein Mangel an Arbeitsplötzen daau, auf der anderen Seite werden sie, von übertriebenen, hochgespannten Hoffnungen verblendet, zu diesem Schritt veranlaßt. So schwierig es ist, aufgenommen zu werden, so leicht ist es, im Dienst alt zu werden. Sobald man aufgenommen ist, beginnt das Trägheitsprinzip der in langsamer Gravitation befindlichen ministeriellen Maschinerie zu wirken. Die Beamten bei der Aufnahme aber gebärden sich so, als gelte es, nicht Kanzlisten, sondern Amtsdirektoren und zukünftige Kammerpräsidenten aus den Bewerbern auszuwählen. Keiner ist gut genug. Der eine stottert, der andere hat, wie es im Amtsjargon heißt,

einen unsauberen Anschlag, der dritte ist angeblich irgendwo in einer Branntweinschenke schon gesehen worden usf. Das sicherste und einfachste Mittel, seine Aufnahme eu erwirken, ist eine runde Summe Geldes, die man den Examinatoren unauffällig zukommen läßt. So habe ich schon von vielen Fällen gehört, wo junge Kanzlisten durch Jahre hindurch den Großteil ihres Lohnes an Wucherer abgezahlt haben, die ihnen einst das Bestechungsgeld vorgestreckt hatten. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die Aufnahmebeamten eine unvorstellbare Mißwirtschaft treiben, aber es ist niemand da, der eingreifen würde. Die hohen Beamten sind mit der Ausarbeitung von Plänen, Berichten und Memoranden beschäftigt. Von einer Konferenz eilen sie zur nächsten. In den letzten Jahrzehnten, seit unter Präsident Gruber am neuen Gesetz gearbeitet wird, kann man mit ihnen überhaupt kein Wort mehr sprechen, es sei denn, es beträfe eine Angelegenheit des Gesetzbuches. Die mittlere Beamtenschaft aber hütet sich, auch nur ein Wort über diese ungesetzlichen Zustände zu verlieren. Eine Hand wäscht die andere, lautet der im stillen befolgte Grundsatz dieser Beamtenschicht. Jeder ist mit jedem gut Freund. Höflichkeit, Zuvorkommenheit und Kollegialität bestimmen die äußere Form. Dabei ist das einzige, worüber sie sich einig sind, die Verachtung der untersten, niedrigen Beamten. Ihr gemeinsames Bemühen ist nur darauf gerichtet, sich gegen unten hermetisch abzuschließen. Dennoch dringen verschiedene Vorfälle gerüchteweise sogar bis zu den Kanzlisten. Man kann solche Gerüchte entweder als Lügenmärchen abtun und damit — billiges Manöver der Seelenkräfte! — seine Ruhe bewahren, oder man kann sie als wahre Aussagen, als Tatsachenberichte, betrachten. Dann aber muß man an sich halten, um nicht vor Zorn und Empörung die Beherrschung zu verlieren.

Vor Jahren hat sich ein Fall ereignet, der so ungeheuerlich war, daß selbst die höchsten Herren ihre Augen davor nicht verschließen konnten. Damals ist ein offensichtlich sadistisch veranlagter Ministe-rialbeamter von seinen Kanzlisten umgebracht worden. Bei den nachfolgenden Untersuchungen hat sich herausgestellt, daß dieser Beamte seine Untergebenen jahraus, jahrein mit allen nur denkbaren Quälereien traktiert hatte. So hat er sie etwa jedesmal, wenn er die Schreibstube betrat, mit einer stets mitgeführten Reitpeitsche geschlagen ...

Obwohl solch schwere Verfehlungen und Unmenschlichkeiten ans Licht gekommen sind, hat die Diszi-plinarkommission, der auch Präsident Gruber angehört hat, die an der Ermordung beteiligten Kanzlisten aus dem Dienst ausgestoßen. Ein Schwurgericht hat sie zu langjährigen Kerkerstrafen verurteilt. Dieses Urteil hat unter allen Kanzlisten Angst und Schrecken verbreitet. Die mittlere Beamtenschaft hat es, nachdem sie eine gewisse Zeit Vorsicht geübt und ihre bösartigen Gelüste bezähmt hatte, als Bestätigung ihrer unumschränkten Herrschaftsrechte aufgefaßt. Der von ihr nach unten ausgeübte Druck ist ärger und ärger geworden. Dieser Druck hat durch seine Überspitzung ungewollt aber auch eine andere Reaktion unter der niederen Beamtenschaft hervorgerufen: In den letzten Jahren haben sich geheime Gruppen gebildet, die den Übergriffen mit verschiedenen Kampfmitteln entgegentreten wollen. Mit vereinten Kräften, so sagen diese Leute, gemeinsam sind wir imstande, uns unser Recht zu verschaffen. Wie ein Mann müssen wir unseren Kampf führen! — Zum Teil streben sie eine Veränderung der Verhältnisse mit friedlichen Mitteln an, sie rufen zur Arbeitsverweigerung, zu gemeinsamen Protestaktionen auf oder wollen aufklärende Petitionen an die hohe Beamtenschaft verfassen, zum anderen Teil aber wollen sie Gewalt mit Gewalt beantworten.

Gerade in letzter Zeit hat die zweite, die kompromißlosere Gruppe starken Zulauf erhalten. Über das Ziel, über das, was auf eine allgemeine Erhebung folgen soll, herrscht in dieser Gruppe weitgehend Uneinigkeit. Außerdem ist unklar, ob nur gegen verbrecherische Beamte vorgegangen werden oder ob man unter vollständiger Suspendierung der bestehenden Gesetze eine Zerschlagung der gesamten Hierarchie ins Auge fassen soll. — Über programmatische Worte, die noch dazu durch die gebotene Geheimhaltung verdunkelt werden, sind beide Gruppen allerdings noch nicht hinausgekommen: „Die Zeit zum Angreifen wird kommen“, heißt es, „wir müssen auf einen günstigen Moment warten. Das kann naturgemäß nur ein Moment der Schwäche, der Konfusion der obersten Ministeriumsführung sein, Solange die Macht fest in einer Hand ist, haben unsere Aktionen keine Aussicht auf Erfolg.“ — Ob die Taktik dieser Gruppen zum Erfolg führen kann, ist ungewiß. Ein paar führende Köpfe sollen, so hat man gehört, bereits festgenommen und abgeurteilt worden sein.

Was mich betrifft, so habe ich durch Zurschaustellen völliger Gleichgültigkeit ein winziges und dennoch unendlich wertvolles Territorium gegenüber der Obrigkeit und ihrem Machtanspruch immer behaupten können. Zum Glück, so dachte }ch nun mit gewisser, auf niemand bezogenen Dankbarkeit, bin ich nur zwei Vorgesetzten direkt unterstellt. Der eine, Stabsassessor Ritzer, ist ein rettungslos dem Alkohol verfallener Mensch, der zweite, Ministerialrat Seidl, ist ein allen persönlichen und praktischen Belangen abgewandter Theoretiker. Ritzer kümmert sich, abgesehen von unberechenbaren Ausbrüchen von Bösartigkeit, nur um seine Schnapsflaschen, Seidl wiederum ist es gleichgültig, wer die Akten kopiert, solange er das, was er zur weiteren Arbeit braucht, nur rechtzeitig und in tadelloser Form erhält. So kenne ich zum Beispiel von ihm, für den ich schon seit meinem Eintritt in den Dienst alle Schriftstücke bearbeite, kaum mehr als den von einer grauen Haarkrause eingerahmten Hinterkopf. Immer wenn ich in seine Kanzlei eintrete, arbeitet er gerade über verschiedene Akten gebeugt und sagt, wenn er am Knarren der Tür mein Kommen bemerkt, ohne den Kopf zu heben: „Legen Sie nur her! Auf Wiedersehn!“ Er ist weder freundlich noch unfreundlich. Er nimmt meine Existenz gerade so zur Kenntnis, wie man die Stufen einer Treppe zur Kenntnis nimmt. Würden die fertig kopierten Akten wie Schneeflocken von der Decke seiner Kanzlei fallen, er würde sich darüber den Kopf nicht zerbrechen. Würde ich außer Dienst gestellt, und ein anderer Kanzlist würde an meiner Stelle seine Unterlagen kopieren, er würde meinen Abgang nicht bemerken. Es ist gewiß nicht erfreulich, wenn man für seine Arbeit nie Dank oder Anerkennung erntet. Ich weiß, es ist entwürdigend, wie mich Seidl behandelt. Wären aber nur alle Ministerialbeamten so wie Seidl, dachte ich, meine Schritte wieder zum schnellsten Lauf beschleunigend, dann könnte man schon zufrieden sein.

Als ich auf den vor dem Ministerium gelegenen Platz einschwenkte — es ist ein weitläufiger, in seiner Größe menschenfeindlicher Platz (früher haben hier Militär-Paraden stattgefunden ) — und eben atemlos um die letzte, mir den Blick versperrende Häuserzeile bog, stellte ich zu meiner Überraschung auf der großen, über dem Seiteneingang angebrachten Uhr fest, daß ich nicht zu spät, daß ich im Gegenteil sogar etwas zu zeitig angelangt war. Das graue Pflaster des Platzes glänzte feucht. Der Wind fuhr kalt und durch keinerlei Hindernis abgelenkt darüber hin. Der Anblick der Vögel, die im Luftraum über dem Platz scheinbar ziellos herumflogen und kreisten, verwirrte mich.

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