6567953-1950_06_07.jpg
Digital In Arbeit

Judas verteidigt sicli

Werbung
Werbung
Werbung

Man kann wirklich nicht sagen, es sei bei mir gewesen, was die Leute ein Strohfeuer nennen. Es hat mich weder kindische Begeisterung mitgerissen noch ein Gefühl, für das ich kaum eine andere Bezeichnung finden könnte als „sentimental“. Es war etwas unbedingt Ernstes, ein tiefes Interesse. Ich wollte darüber ins reine kommen, ich wollte wissen, wohin Er gehen werde. Er seinerseits, als Er mich berief — ich bin wohl gezwungen, anzunehmen, Er wußte genau, was Er tat. Um Ihm zu folgen, habe ich ohne zu zögern meine Familie, meine Freunde, mein Vermögen, meine Stellung geopfert. Es war immer bei mir eine Art wissenschaftlicher oder psychologischer Neugierde und gleichzeitig eine Vorliebe für Abenteuer und Spekulation. Alle diese Geschichten von „unschätzbarer Perle“, von geheimnisvollen Gebieten (man weiß nicht, wo), die hundertfachen Ertrag bringen, von einem bevorstehenden Königreich, dessen Ämter auf uns aufgeteilt würden: alles das — man muß es zugeben — war von solcher Art, daß es im Herzen eines jungen Mannes die edelsten Bestrebungen erregen mußte. Ich habe auf den Köder angebissen, übrigens war ich nicht der einzige, der sich fangen ließ. Es gab da alle diese guten Fischkratzer. Aber andererseits habe ich zahlreiche Persönlichkeiten, wie den Lazarus, Frauen der guten Gesellschaft, Autoritäten in Israel, wie Josef und Nikodemus, die sich vor Ihm niederwarfen, gesehen. Man weiß ja nie...

Ich wage zu behaupten, ich sei von den Zwölfen bei weitem der gebildetste und vornehmste gewesen. Ich war für die Schar eine gewichtige Person. Ich bin immer korrekt gewesen. Ich hatte meinen Dienst, man durfte nicht mehr von mir verlangen. Sonst gab es Unordnung. Man schätzte gleichwohl mein Urteil, meine Manieren, meine Kenntnis der Welt und der Schrift, meinen Umgang mit der Kundschaft. Ich war einer der ersten, die es zum Apostel brachten, einer von jenen, denen man eine Schnur um den Hals legte, was ihr jetzt eine Stola nennt.

Ich war, was man einen guten Verwalter nennt, es war das meine Spezialität. Gewiß ist es vornehmer, wenn man nichts mit dem Gelde zu tun hat; aber schließlich muß es jemanden geben, der sich damit befaßt, und der durfte nicht der Ungeschickteste sein. Man kann nicht ewig davon leben, daß man sich die Taschen mit den Ähren füllt, die einem unter die Hand fallen. Die Eigentümer schauen einen schließlich so merkwürdig an. Wir waren immer dreizehn bei Tische, ohne von Unvorhergesehenem zu reden. Als Säckelwart bedurfte es eines Mannes, der wußte, was aus einem Silberling herauszuschlagen ist. Dreizehn Personen mit einem Silberling zu ernähren, ist beinahe so schwer, wie fünftausend mit zwei kleinen Fischen zu sättigen.

Was für Geschichten man mit mir machte, weil ich von Zeit zu Zeit ein kleines Geschäft auf eigene Rechnung tätigte! Erat enim latro. Das ist leicht gesagt. War ich ein Apostel, ja oder nein? Hatte ich nicht auf meinen Rang bedacht zu sein? Es lag im allgemeinen Interesse, daß ich nicht wie ein Bettler aussah. Wenn ich nach rechts und nach links lief, die schwerfälligen Bürgen an ihre Versprechungen erinnerte, Unterkünfte vorbereitete, die Oberhäupter der Synagogen beräucherte, um die Samstagvorlesungen vorzubereiten, wenn ich alle diese Arbeiten eines Bevollmächtigten verrichtete, ohne ein

Wort der Anerkennung oder des Dankes zu hören — was sagt ihr dazu?

Sprechen wir nicht mehr davon.

Es macht nichts, ich bin froh, all das gesehen zu haben. Ihr fragt mich, ob ich Wunder gesehen habe? Sicherlich habe ich welche gesehen. Wir taten ja nichts anderes. Das war unsere Spezialität. Die Leute wären nicht zu uns gekommen, wenn wir keine Wunder getan hätten. Die ersten Male — ich muß gestehen — machte das Eindruck; aber es ist erstaunlich, wie man sich daran gewöhnt. Ich habe Kameraden gesehen, die gähnten oder der Katze auf der Mauer zusahen, während ganze Reihen von Lahmen sich wie auf Kommando erhoben. Aber ich erlaube mir, euch in aller Aufrichtigkeit zu fragen, was damit bewiesen ist? Eine Tatsache ist eine Tatsache, und ein Vernunftschluß ist ein Vernunftschluß. Es irritierte mich manchmal. Zum Beispiel wußte man, die ewige Frage des Sabbats werde wieder einmal aufs Tapet gebracht werden. Die Leute der Synagoge hatten mir die Linie ihrer Beweisführung erklärt, ich selbst hatte mir erlaubt, ihnen einige kleine Ratschläge zu erteilen, das war begeisternd. Nun, kaum hatte man die Sitzung eröffnet, als pünktlich, im wichtigsten Augenblick, irgendein Krüppel hereinrutschte, den man sofort wieder auf die Füße stellen mußte — und aus war es mit der Diskussion! Ich finde das anloyal. Unter diesen Umständen ist keine Erörterung möglich! Das ist zu einfach! Oder Wenigstens . . . Kurz, ihr versteht, was ich sagen will.

Zuerst ist es eine prächtige Sache, alle diese Kranken, die man heilt, diese Blinden, die man sehend macht! Ich aber, der ich hinter den anderen zurückblieb — wenn ihr glaubt, daß in den Familien alles glatt ging! Ich habe unbezahlbare Szenen gesehen. Diese Krüppel, an die man sich gewöhnt hatte und die nun ihren Platz beanspruchten! Ein Lahmer, dem man wieder auf die Beine geholfen hat — ihr könnt euch nicht vorstellen, was das ist! Ein entfesselter Löwe! Alle diese Toten, die man in kleine Stücke zerschnitten hatte — da sind sie nun zusammengeflickt und fordern ihre Substanz zurück. Wenn man nicht einmal mehr das Todes sicher ist, gibt es keine Gesellschaft mehr, es gibt gar nichts mehr! überall Verwirrung, Durcheinander. Kam unser Trupp in einem Dorfe an, so warf ich einen verstohlenen Blick auf die Leute — und ich sah welche, die recht drollige Gesichter schnitten.

Und die Besessenen! Es gab solche darunter, die keineswegs froh waren, daß man sie von ihrem Dämon befreit hatte: sie waren ihn gewohnt, sie hielten so viel auf ihn, wie eine kleine Unterpräfektur auf ihre Garnison hält; und nun machten sie alle Anstrengungen, ihn zurückzubekommen. Es war zum Totlachen!

Mein ganzes Unglück kommt daher, daß ich keinen Augenblick meine Fähigkeit zur Kontrolle und zur Kritik verlieren konnte. Ich bin einmal so. Die Leute von Chariot sind so. Eine Art von grobem gesundem Menschenverstand. Sicherlich berücksichtige ich Beredsamkeit und Übertreibung, aber so etwas liebe ich nicht, es ist mir zuwider. In mir ist eine Begierde nach Logik oder, wenn es euch lieber ist, eine Art von Durchschnittsgefühl, das da unbefriedigt bleibt. Ein Instinkt für Maß. Wir sind alle so in der Stadt Chariot. In drei Jahren habe ich nicht den Schatten von einer vernünftigen Diskussion gehört. Immer Texte und wieder Texte oder Wunder — das ist das große Auskunftsmittel — oder Histörchen, die ihren Reiz haben; ich bin der erste, es anzuerkennen — aber sie sind gänzlich belanglos.

Um aber auch auf die Pharisäer zu kommen und euch ihre Lage zu erklären: man darf ihnen nicht zu sehr zürnen. Man hatte sie in die Enge getrieben. „Entweder Er oder wir. Seine Haut oder die unsrige. Hat Er recht, so haben wir unrecht. Läßt man ihn öffentlich sagen, Er sei der Messias, so ist Er es. Und ist Er der Messias, was sind dann wir? Was haben wir dann noch am Schauplatz zu suchen? Es gibt da keinen Auswegl“

Deshalb — weil ich, wie erwähnt, eben dieses natürliche Rechtsgefühl habe und auch den gegnerischen Standpunkt kennenlernen wollte — nahm ich den Verkehr mit den Pharisäern auf und fand, wie ich gestehen muß, in ihnen vollkommen höfliche und gut erzogene Menschen. Zum Schluß habe ich mich wohl über sie zu beklagen gehabt, aber das wird mich nicht hindern, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nationales Interesse, öffentliche Ordnung, Tradition, Vernunft, Gefühl für Recht und Billigkeit, Mäßigung — all dies war auf ihrer Seite. Man findet, sie hätten ein wenig zu extreme Maßnahmen getroffen, aber wie Kaiphas, der dieses Jahr Hoher-priester war, autoritär versicherte: „Es ist heilsam, daß ein Mensch für das Volk sterbe.“ Darauf gibt es keine Antwort. Er war unter ihnen ein bemerkenswerter kluger Mann, der aus der Gegend von Gaza stammte, wenn ich nicht irre. Er hat mir die Augen geöffnet oder vielmehr, wenn ich so sagen darf, er hat mir den Hals biegsam gemacht, was mir erlaubte, nach verschiedenen Seiten zu schauen. Denn vorher war ich wie die Leute meines Volkes, hatte einen steifen Nacken, sah weder rechts noch links noch rückwärts, meine Blicke reichten nicht weiter als meine Nasenspitze. Als der besagte Mann erfuhr, ich sei ein Jünger von Sie-wissen-schon, glaubt ihr, er habe sich deshalb über mich lustig gemacht? Im Gegenteil, er hat mich beglückwünscht. „Es sind ausgezeichnete Sachen“, hat er gesagt, „in dem, was Sie-wissen-scho$ lehrt. Ich höre ihm oft mit Vergnügen zu. Unter seinem Einfluß habe ich sogar ein Bändchen Gedichte geschrieben: ,Gesänge für den Monat Nizan', die mir die Bewunderung des Nikodemus eingetragen haben. Aber man muß die Dinge von höherem Standpunkt aus betrachten. Man muß über den Fragen stehenl Bereichert euch — ist mein Wahlspruch I Entwickelt euch in der Richtung, in die euch euer innerer Dämon weist. In den unersättlichen Kammern eures Geistes muß immer Platz für Neues sein. Vollendet eure Bildsäule. Was mich betrifft, ich bin Heide mit den Heiden, Christ mit den Christen, Kameltreiber mit den Kindern Israels. Es ist unmöglich, mich vom echten Artikel zu unterscheiden. Niemand bewundert zum Beispiel mehr als ich den heroischen Starrsinn der Makkabäer. Es ist sogar das Epos, das ich über dieses Thema geschrieben habe, was mir den Zutritt zum Hohen Rat eingetragen hat. Und doch: welche Verführung liegt in dieser griechischen Kultur, der sie sich entgegenstellten! Was für schöne Dinge! Warum sie so brutal verwerfen?“ Also sprach der große Mann, und es war mir, als erklärte er mir buchstäblich mich selbst! Ich entfaltete mich zusehends unter seinen Worten, ich saß in einem Loch, und er entrollte vor meinen Augen ein Panorama. Es war, als trüge er mich mit sich auf die Zinne des Tempels und zeigte mir alle Reiche der Erde und sagte: „Sie gehören dir.“

Ihr könnt euch denken, daß dieses kleine psychologische Drama meine Beziehungen zu den Elfen erschüttert hat. Ich bin das Opfer häßlicher Handlungen von seiten dieser Grobiane geworden. Aber was den Zwischenfall anlangt, der den Bruch vollendet hat, so lege ich Wert darauf, die Wahrheit darüber festzulegen.

Seit langem hatten wir Verkehr mit einer reichen Familie aus Bethanien, der der famose Lazarus angehörte; wir ermangelten nicht, aus ih'-er Schatzkammer zu schöpfen, ganz unbedacht, in den Tag hinein, ohne Rücksicht auf die Zukunft. Ich wollte Ordnung in die Sache bringen. Meine Idee war, in Bethanien eine Art finanzieller und administrativer Basis zu gründen, auf die wir uns stützen könnten. Ich rechnete da besonders mit Maria Magdalena. Das Vermögen des Lazarus bestand vor allem — dessen hatte ich mich vergewissert — aus Hypotheken und Grundstücken, die schwer zu liquidieren waren. Maria Magdalena hingegen besaß eine große Summe baren Geldes, Schmuckstücke, persönliche Effekten usw. Und in einem armen Lande wie Judäa kommt man weit mit nur ein wenig Bargeld. Es gibt genug Gelegenheiten zur Anlage. Ich hatte dieser Person alles erklärt, trotz der geringen Sympathie, die mir ihre unmoralische Vergangenheit einflößte. Ich war der Meinung, alles sei geordnet.

Plötzlich öffnet sich die Türe — wir waren bei Simon dem Aussätzigen — und im selben Augenblick fühle ich, wie mir die Haare zu Berge stehen! Ich begreife nur zu gut, was geschehen werde. Eine jener theatralischen Szenen, deren Zeuge ich niemals sein kann, ohne daß mich eine Gänsehaut überläuft, die eine gräßliche Ungehörigkeit hervorzurufen pflegt. Stellt euch vor, diese dumme Gans hatte das ganze Geld, dieses Geld, das eigeultich gar nicht mehr ihr gehörte, da sie es mir versprochen hatte, in den Basar getragen, wo sie Parfü-merien einkaufte, natürlich nicht, ohne dabei unverschämt übers Ohr gehauen zu werden. Sie brachte davon in einer ganz kleinen Phiole aus weißem Ton. Sie läßt sich auf alle Viere nieder, überglücklich, ihr wunderbares Haar zeigen zu können — und indem sie die Phiole über den Füßen des Gastes zerbricht, verschüttet sie unser ganzes Kapital!

Das war die Höhe!

Ihr versteht, daß ich auf das hin nicht mehr zögern durfte. Vom Hause Simons war es nur ein Sprung zum Synedrium, und die Sache war im Handumdrehen geregelt. Ich kann behaupten, daß alles auf die glücklichste Art, mit einem Minimum an Heftigkeit und Ärgernis erledigt wurde — der offizielle Bericht bezeugt es. Ich war mit den örtlichkeiten vertraut und wußte genau die Stelle und die Stunde, da wir die Freunde unseres Meisters schlummern finden würden.

Ich werde mich immer dieses Augenblicks erinnern. Nimmt man von einer vornehmen Persönlichkeit Abschied, an die man durch drei Jahre ebenso loyale wie unentgeltliche Dienste verschwendet hat, ist eine Gemütsbewegung verständlich. Ich habe also mit der aufrichtigen Sympathie, aber zugleich mit jener inneren Befriedigung, die das Bewußtsein erfüllter Pflicht einem verschafft, nach orientalischer Sitte auf Seine Lippen einen ehrfurchtsvollen Kuß gedrückt. Ich wußte, ich erwies damit dem Staat, der Religion, Ihm selbst einen hervorragenden Dienst. Gleichzeitig mit einer gewissen Erleichterung fühlte ich, ich hätte meine Roll gespielt und das getan, was von mir erwartet wurde und wozu ich auf die Welt gekommen war.

Ich will mich nicht lange mit der Erzählung dessen aufhalten, was nun geschah. Während dieser schmerzlichen Stunden hat mich — wie ich gestehen muß — nichts so betrübt und empört wie die Feigheit meiner Ex-Mitbrüder und besonders der unqualifizierbare Abfall des Simon Petrus.

Aber bin ich nicht selbst das eklatante Opfer eines nicht weniger häßlichen Verrats? Nach dem Akte der Selbstverleugnung, den ich vollbracht, und trotz gewisser Grimassen, die ich schon auf diesen harten priesterlichen Gesichtern wahrgenommen hatte, gewärtigte ich von Seiten meiner Ratgeber einen freundlichen Empfang. Ich hatte mich schon, zwar ein wenig einsam, aber doch von allgemeiner Achtung begleitet, zum Tempel schreiten sehen, geschmückt mit jener ernsten Gloriole, die Helden äußerster Opferbereitschaft und Pflichterfüllung umstrahlt. Welcher Irrtum! Als einzigen Lohn wirft man mir wie einem Bettler ein wenig Geld hin! Dreißig Silberlingel Nun bleibt mir nichts mehr übrig, als die Leiter wegzuziehen. Und das werde ich tun ...

(Aus dem Buch .Die nächtliche Reise“ mit Bewilligung der Amandus-Edition, Wien.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung