6710865-1964_20_03.jpg
Digital In Arbeit

Tagebuch einer Seele (in)

Werbung
Werbung
Werbung

12. bis 18. November 1939

(Exerzitien in Istanbul bei den Jesuiten von Aydarpasa.)

1. Endlich die Exerzitien, die ich mir gewünscht habe: abgeschlossen, ohne Kontakt mit der Außenwelt und methodisch durchgeführt. Ich habe meine Mitbrüder, Bischöfe und Priester, aber keine Ordensleute, aufgefordert, mitzukommen; sie sind alle hier, von allen Riten. Wegen der Messe gehen mehrere allerdings am Abend nach Hause. Das ist weniger gut, aber es ist notwendig. Ich genieße es, die ganze Woche allein zu sein. Und ich preise den Herrn dafür.

2. P. Elia Chäd, Superior der Jesuiten, gibt uns die Punkte nach der Methode des heiligen Ignatius, und er tut gut daran. Aber auch er dürfte mehr geben als die Punkte: statt einer Viertelstunde braucht er eine halbe. Dann muß man im eigenen Zimmer mit der Betrachtung fortfahren. Ich helfe mir, indem ich den ignatianischen Text in der lateinischen Übersetzung mit Anmerkungen von P. Roothaan lese.

Ich konstatiere jedoch, daß diese Art, nur kleine Abschnitte vorzulegen, um der Methode treu zu bleiben und den Rest dann dem Geist des einzelnen zu überlassen, auch für meine Priester und Bischöfe nicht praktisch ist. Wir sind alle ein wenig Kinder und brauchen jemand, der uns leitet, der uns mit lebendiger Stimme die Lehre schön und wohlvorbereitet präsentiert. Also die Methode des heiligen Ignatius, aber den modernen Lebensformen angepaßt. Ach, wo sind unsere braven Bergamasker Priester, die uns im Seminar die Exerzitien gehalten haben! Sie waren treu dem Geist und — den Umständen entsprechend — auch der Methode des heiligen Ignatius.

3. In wenigen Tagen, am 25. dieses Monats, vollende ich mein 58. Jahr. Da ich erlebt habe, wie Exzellenz Radini mit 57 Jahren starb, kommt mir vor, alle Jahre, die über dieses Alter hinausgehen, seien mir als Zugabe geschenkt. Herr, ich danke Dir. Ich fühle mich noch jung an Gesundheit und Energie, aber ich verlange nichts. Wenn Du mich willst, bin ich bereit. Auch Im Sterben, und vor allem im Sterben, „fiat voluntas tua“.

Auch um mich herum fehlt nicht das Geflüster: „Ad majora, ad majora.“ Ich mache mir keine Illusionen darüber, daß diese Schmeicheleien für mich, ja, auch für mich, eine Versuchung sind. Und ich bemühe mich von ganzem Herzen, diese trügerischen und feigen Stimmen nicht zu beachten. Ich nehme sie als Scherz, ich lächle und gehe darüber hinweg. Für das Wenige, das Nichts, das ich in der heiligen Kirche bin, habe ich ja schon meinen Purpur: die Schamröte, mich auf diesem ehrenvollen und verantwortungsvollen Posten zu befinden, obwohl ich so wenig wert bin. O wie tröstlich für mich, daß ich mich frei fühle von diesem Streben nach Posten Wechsel und Aufstieg! Ich betrachte das als eine große Gnade des Herrn. Möge Er sie mir immer erhalten.

4. In diesem Jahr hat der Herr mich mit der Trennung von lieben Menschen geprüft: meine süße und verehrte Mutter, mein erster Wohltäter, Msgr. Morlani... und viele andere sind dahingegangen. ... Die Welt bekommt ein anderes Gesicht für mich. „Praeterit figura huius mundi“ (Vgl. 1 Kor. 7, 31). Wenn ich bedenke, daß ich vielleicht auch bald drüben sein werde, muß meine Vertrautheit mit dem Jenseits wachsen. Ihr lieben Toten, ich denke immer an euch und liebe euch. Bittet für mich.

5. Ich habe meine Jahresbeichte bei Dr. Chäd abgelegt und ich bin froh. Um mich gut vorzubereiten, habe ich die heilige Messe gefeiert, habe außerdem eigens noch an einer anderen Messe teilgenommen und •mich dann reuig und beschämt niedergekniet. „Commissa mea pavesco et ante te erubesco: noli me condemnare.“

Der Beichtvater sagt mir, der Herr sei mit meinem Dienst zufrieden. Wirklich zufrieden? Oh, wenn es so wäre! Ich bin nur zum Teil zufrieden. Meine Standeswahl ist lange schon getroffen; auch was die Einzelheiten meines Lebens und meiner Aktivität betrifft, ist alles klar und fest im „impendam et superimpen-dar pro animabus“ (2 Kor. 12, 15): Ich schlafe nicht auf meinen bischöflichen Pflichten, aber wie fehlerhaft erfülle ich sie! Vor allem quält mich die Disproportion zwischen dem, was ich tue, und dem, was mir zu tun bleibt und was ich tun möchte, aber nicht kann. Die Schuld muß zum Teil bei mir liegen. Meine Briefe sind zu lang, weil ich immer fürchte, zu trocken und zuwenig herzlich zu sein, wenn ich weniger sage, und weil ich der Liebe und der heiligen Kirche besser dienen möchte, indem ich mehr sage.

Es wird gut sein, hier das richtige Maß zu finden, das in der Mitte liegt. Und wenn ich mich dann immer noch ein wenig quäle, so sollte ich es in Frieden ertragen.

6. Zu Allerseelen hat mein lieber Sekretär, Msgr. Testa, mich endgültig verlassen, „ad currendam viam suam“ (vgl. Ps. 18, 6). Er war ein guter Sohn, der zwei Jahre bei mir blieb und den ich im Herrn liebte „Fiat.“

Jetzt nimmt ein anderer seinen Platz ein, ein Junger, Msgr. Vittore Ugo Righi. Meine Vorgesetzten haben ihn mir geschickt, damit ich bei seiner Erziehung für den Dienst beim Heiligen Stuhl mithelfe. Er scheint mir gut und gehorsam. Ich werde mein bestes tun. Gleichzeitig möchte ich mir die Last meiner offiziellen Korrespondenz erleichtern, indem ich sie teilweise auf ihn ablade. Das ist ein Mittel, um das Zu-Erledi-gende mit dem Bereits-Erledigten ins rechte Verhältnis zu bringen „Sic Deus me adiuvet.“

7. Als Lektüre im Refektorium habe ich nach der ersten Enzyklika des neuen Papstes (Anm. Pius XU., Summi pontificatus, 20. Oktober 1939) das Journal intime von Monsignore Dupanloup vorgeschlagen, das ich unter den Büchern der Delegation gefunden habe und gut kenne. Dieses Buch macht großen und erbaulichen Eindruck.

Mich interessiert vor allem, daß dieser Prälat so oft und so energisch auf die Übungen der Frömmigkeit und eines innerlichen Lebens zu sprechen kommt: Das „socios habere penantes“ ist mir ein Trost — ein Trost, aber auch eine Anregung. Vor allem bestehe ich darauf, daß die Matutin am Abend gebetet wird. Msgr. Righi liebt das gemeinsame Beten, und für mich ist es etwas, was ich mir wünsche und womit ich bereits begonnen habe. Wenn man die Matutin am Abend betet, so ist das eine kostbare Vorbereitung für die Betrachtung am folgenden Morgen, und es verleiht größere Elastizität in allem anderen. Ich halte auch daran fest, den Rosenkranz in der Hausgemeinschaft zu beten. Auch bei Exzellenz Radini wurde es so gehalten und bei Kardinal Ferrari in Mailand.

8. Als Übungen der Selbstverleugnung nehme ich mir ganz besonders das Studium der türkischen Sprache vor. Daß ich sie nach fünf Jahren in Istanbul noch so schlecht spreche, ist eine Schande und würde von wenig Verständnis für die Bedeutung meiner Mission zeugen, wenn es keine Entschuldigungsgründe gäbe.

Jetzt werde ich dieses Studium mit aller Kraft wieder aufnehmen; diese Abtötung soll mir zur Freude werden. Ich liebe die Türken und ich schätze die natürlichen Eigenschaften dieses Volkes, das auch seinen Platz im Kulturleben auszufüllen hat. Wird es mir mit der Zeit gelingen? Das hat nichts zu sagen. Es ist meine Pflicht, es geschieht zur Ehre des Heiligen Stuhles und ich muß dieses Beispiel geben; basto. Wenn mir nichts anderes gelänge, als diesem festen Vorsatz treu zu bleiben, so hätten mir diese Exerzitien schon große und gesegnete Frucht getragen.

9. Noch andere spezielle Vorsätze? Ich finde keine, denn ich fühle mich ganz an mein Leben als Apostolischer Vikar gekreuzigt. An meinem Frieden festhalten, und im Frieden glühender Eifer: Nicht von dem System abweichen, das mir in allem Demut und Milde rät, was immer für Impulse und Versuchungen zum Gegenteil mich auch überkommen; eine Milde, die in keiner Weise Kleinmut sein darf. Wenig reden, wenig Politik. Mit dem Gedanken an den Tod stets vertraut bleiben.

10. Vom Fenster meines Zimmere hier bei den Patres Jesuiten beobachte ich jeden Abend eine Ansammlung von Booten auf dem Bosporus. Zu Dutzenden, zu Hunderten tauchen sie vom Goldenen Horn her auf, treffen an einem bestimmten Punkt zusammen, entzünden ihre Lichter — manche heller, manche weniger hell — und bilden eine eindrucksvolle Fantasmagorie von Farbe und Glanz. Ich dachte, es sei ein Fest auf dem Meer anläßlich des Bairam (Anm. mohammedanisches Fest), der in diesen Tagen gefeiert wird. Statt dessen handelt es sich um den organisierten Fang der Bonite, einer Art Thunfisch, die angeblich von weit entfernten Punkten des Schwarzen Meeres kommen. Die Lichter leuchten die ganze Nacht, und man hört die fröhlichen Stimmen der Fischer.

Dieses Schauspiel ergreift mich. Vorige Nacht, gegen ein Uhr, regnete es in Strömen, aber die Fischer waren da und gingen unerschrocken ihrer rauhen Arbeit nach.

O welche Beschämung für mich, für uns Priester, „piscatores hominum“ (Menschenfischer)! Welche Vision der Arbeit, des Eifers, des Apostolats wird uns hier vor Augen gestellt! Vom Reich unseres Herrn Jesus Christus ist hier recht wenig übriggeblieben. Reste und Samen. Aber wie viele Seelen, die in diesem Meer des Islam, des Judentums und der Orthodoxie umherirren, sind für Christus zu erobern!

Die Fischer vom Bosporus nachzuahmen, Tag und Nacht mit brennenden Fackeln zu arbeiten, jeder auf seinem kleinen Boot, unter dem Befehl der geistlichen Führer: das ist unsere ernste und heilige Pflicht.

11. Meine Arbeit in der Türkei ist nicht leicht, aber sie liegt mir und ist mir ein großer Trost. Hier sehe ich die Liebe des Herrn und die Einheit der Geistlichen untereinander und mit ihrem armseligen Hirten. Die politische Situation erlaubt nicht, viel zu unternehmen, aber es scheint mir verdienstlich, wenn ich sie nicht durch meine Schuld verschlechtere.

Meine Mission in Griechenland dagegen — oh, wie lästig sie mir ist! Gerade deswegen liebe ich sie aber um so mehr und nehme mir vor, sie eifrig fortzusetzen und mich zu zwingen, meinen Widerwillen zu überwinden. Sie ist für mich ein Auftrag, also: Gehorsam. Ich gestehe, ich würde nicht darunter leiden, wenn man einen anderen damit betraute. Aber solange sie mir anvertraut ist, will ich ihr um jeden Preis Ehre machen. „Qui seminant in lacrimis, in exultatione metent“ (vgl. Ps. 125, 6) — Die Tränen säen, werden in Freuden ernten. Es macht mir wenig aus, wenn andere ernten.

12. In diesem Jahr hatte ich nur kurz Urlaub und auch diesen trübt der Gedanke an die baldige Rückkehr. Als Ausgleich wurde mir in Rom beim Heiligen Vater, im Staatssekretariat und bei der Kongregation für die Ostkirche ein äußerst wohlwollender und ermutigender Empfang zuteil. Ich danke Gott dafür. Das übersteigt meine Verdienste. Aber ich arbeite nicht um des Lobes der Menschen willen. „Dominus dedit“ — der Herr hat es gegeben. Falls darauf, was gut möglich ist, das „Dominus abstulit“ — der Herr hat es genommen — folgen sollte, würde ich dennoch fortfahren, Gott zu preisen.

13. Ich nehme mir vor, als dauerndes Zeichen größerer eucharistischer Andacht und zur Erinnerung an diese Exerzitien von jetzt an meiner Privatmesse immer die Vorbereitungsgebete vorzustellen. Mein Ministrant muß dann ein wenig warten, aber diese Gebete müssen gesprochen werden. Nur eine einzige „opportunitas“ kann mich davon dispensieren: wenn sehr viele Gläubige warten, die nicht ungeduldig werden sollen. Der heilige Franz von Sales ist mir ein guter Lehrmeister in derlei liebevollem Maßhalten.

... in diesem Jahr hat mir die Vorsehung bedeutende Geldsummen in die Hand gegeben. Dieses Geld war mein persönliches Eigentum. Ich habe es aufgeteilt: ein Teil für die Armen, ein Teil für meine eigenen Bedürfnisse und als Unterstützung für Verwandte, und den größten Teil für die Restaurierung der Apostolischen Delegation und einiger Priesterzimmer. Nach Ansicht der Welt, die auch ein wenig in das Innerste des Klerus eindringt, und nach den Kriterien der menschlichen Klugheit, bin ich ein Armer im Geiste gewesen.

Jetzt bin ich tatsächlich wieder arm. Gottlob. Es scheint mir, daß ich mich mit Seiner Gnade richtig verhalten habe. Ich will mich auch in Zukunft Seiner Güte überlassen. „Date et dabitur“ — Gebt und es wird euch gegeben. (Luk 6, 38.)

(Während einer Reise durch Nordafrika nützt Angelo RoncaUi, damals Apostolischer Nuntius in Paris, die Kartage, 6. bis 9. April, für kurze Exerzitien in Oran, Algerien.) Karfreitag:

Gestern abend die Matutin ganz allein; heute früh in der Kapelle die Hören mit den vier Miserere und die heutige Liturgie — im Geiste nicht allein; ich lese aus dem Missale, so als wohnte ich den feierlichen Zeremonien in irgendeiner Kirche bei, als hielte ich sie selbst wie in Sofia oder in der Heiliggeistkirche in Istanbul.

Die Gegenwart — ich bin noch am Leben, im 69. Lebensjahr... Wie sollte ich Jesus nicht danken, daß ich noch immer so jung und kräftig an Körper, Geist und Herz bin? Das „nosce teipsum“ — erkenne dich selbst — bewahrt mich in der Einfachheit und fern jeder Anmaßung. Manche schauen mit Bewunderung und Sympathie zu meiner armen Person auf, aber — gottlob — ich erröte über mich selbst, über meine Unzulänglichkeit und darüber, wie gering ich auf dem so wichtigen Posten bin, auf dem der Heilige Vater in seiner Güte mich haben will und mich hält. Schon vor langer Zeit, und ohne daß es mir schwerfiel, habe ich Einfachheit gelobt und dadurch liebevoll allen jenen Geistern getrotzt, die bei einem diplomatischen Vertreter des Heiligen Stuhles ein ansehnlicheres Äußeres einer gesunden und reifen Frucht vorziehen. Und ich bleibe meinem Prinzip treu, das — wie mir scheint — in der Bergpredigt einen Ehrenplatz einnimmt: Selig die Armen, die Sanftmütigen, die Friedfertigen, die Barmherzigen, die nach Gerechtigkeit Dürstenden, die reinen Herzens sind, die Bedrängten, die Verfolgten. Mein gegenwärtiges Leben bleibt daher tatkräftiges Wirken in Treue zum gehorsamen und gekreuzigten Christus, so wie ich es in diesen Tagen oft und oft ausspreche: „Christus f actus oboediens“ (vgl. Phil. 2, 8) — arm und demütig wie er, glühend vor göttlicher Liebe, bereit zum Opfer und zum Tod für Ihn und für Seine Kirche.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung