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Chinesische Passion

19451960198020002020

Dies ist das Tagebuch P. Andre Bonnichons. Geboren 1902, 1931 als Missionär nach China, Dekan an der Rechtsfakultät der Universität Aurore ... Da dringen die Kommunisten in Schanghai ein ... Am 15. Juni 1953 wird P. Bonnichon verhaftet und in den Kerker geworfen. Am 22. April 1954 wird er unvermutet freigelassen und aus China ausgewiesen. Die nachfolgenden Teile seines Tagebuches handeln von den letzten Tagen im Gefängnis und sind auf hoher See, im Indischen Ozean, Juni 1954, geschrieben. P. Bonnichon Tagebuch erschien in den Pariser „Etudes“. Die „Furche“ veröffentlicht daraus auszugsweise erstmals eine deutsche Uebertragung

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Dies ist das Tagebuch P. Andre Bonnichons. Geboren 1902, 1931 als Missionär nach China, Dekan an der Rechtsfakultät der Universität Aurore ... Da dringen die Kommunisten in Schanghai ein ... Am 15. Juni 1953 wird P. Bonnichon verhaftet und in den Kerker geworfen. Am 22. April 1954 wird er unvermutet freigelassen und aus China ausgewiesen. Die nachfolgenden Teile seines Tagebuches handeln von den letzten Tagen im Gefängnis und sind auf hoher See, im Indischen Ozean, Juni 1954, geschrieben. P. Bonnichon Tagebuch erschien in den Pariser „Etudes“. Die „Furche“ veröffentlicht daraus auszugsweise erstmals eine deutsche Uebertragung

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Die einzige elektrische Glühbirne brennt immer über meinem Kopf: in einer Art von kleinem Fenster in der Trennungswand ganz am Plafond beleuchtet ihr Licht zwei Waben zugleich von unserem großen Bienenstock. Ich öffne die Augen; eine leichte Bewegung de* Schläfers, der erwacht, ich nehme meinen Körper wieder in Besitz, der auf der Erde ausgestreckt in einer wattierten Decke, an eine der Wände gelehnt, liegt. Mein Blick, nach rechts gewendet, zeigt mir wieder den wohlbekannten Anblick der vierzehn Liegenden, den Boden bedeckend, den man nicht sieht. Meine Kameraden nehmen ihre schmalen Plätze ein, sorgfältig abgemessen und geteilt, jeder hat das Recht auf vier Bretter des Bodens.

Ich sehe die bekannten Köpfe auftauchen: den Studenten, den Bauern, den Protestanten, den Formosaner, die wir nicht mit diesen Namen bezeichnen, sondern mit Nummern. Schlafen diese Bewegungslosen? Vielleicht haben sie, so wie ich, ihren Tag schon begonnen und sie warten. Ich weiß die Stunde nicht, niemand hat hier eine Uhr. Der Himmel erhellt sich noch nicht zwischen den ncfijft schwarzen Gitterstäben des Fensters. Der viereckige Schieber der Tür bleibt offen, so wie jede Nacht. Wenn ich höre, daß er sich schließt, so ist das ein Zeichen, daß die Reveille nahe ist. Ich bin in Schanghai, im zweiten Stock des Gefängnisses Nezeu, Zelle 23, Frühjahr 1954. Ich bin ein französischer Missionär, aber man nennt mich nur 1207. Um mich herum ist die Zelle vollkommen leer, weder Bett, noch Tisch, noch Sessel. Unsere kleinen Kleiderbündel häufen sich in einer Ecke, neben dem Bedürfnisfaß; unsere Becher aus emailliertem Eisen sind auf der Schwelle der Tür selbst aufgereiht. Meine Welt ist bereit für einen neuen Tag, meine enge Welt eines Gefangenen. Unwillkürlich bringe ich sie sofort in Ordnung. Es ist gleich Zeit, die Decken zusammenzufalten, die augenblicklich meine ganze Habe ausmachen. Was mir dringlicher erscheint, ist, meiner ganzen kleinen Welt einen Inhalt zu geben, da ich ja glaube, daß sie einen hat. „Nimm, Herr, meine Freiheit, sie gehört mir immer noch, trotz dieser Mauern, die meinen Leib einengen. Du hast sie mir gegeben, und ich gebe sie Dir wieder, nicht um sie zu zerstören, wie es die Menschen versuchen, sondern, um sie zu vervollkommnen, indem Du sie mit der Deinigen vereinigst ... der Deinigen, diesem ewigen Willen des Heils für die Menschen und der Liebe, dem Vater geweiht, diesem unendlichen Antrieb, den'man durch ein brennendes Herz darstellt.“ Ein Mann erhebt sich ohne Lärm, er geht zu dem Faß. Sein nackter Fuß streift mich, und ich folge ihm einen Moment lang mit den Augen. Wie gut kenne ich alle Einzelheiten in diesem gemauerten Würfel, sowohl die Flecken an der Wand wie auch die Astaugen in den Brettern und die Männer, die ihn bewohnen, so dehnt sich auch der begonnene Tag vor mir aus, mit allen seinen leeren, nichtigen Einzelheiten, jenen verzweifelt ähnlich, die ihm vorausgegangen sind, die ihm folgen werden. Ich bin nichts als die Nummer 1207, einziger Priester, einziger Katholik, einziger Europäer unter meinen vierzehn chinesischen Gefährten, allem Anschein nach von meinen Richtern vergessen, die mich seit sechs Monaten nicht mehr verhört haben und mich langsam verfaulen lassen.

Alles, was ich auf dieser Welt gehabt habe, meine ganze Vergangenheit als Mensch ist mir entglitten, ist wie ein verlorenes Schiff, das einige Schiffbrüchige auf dem Meer verlassen. Instinktiv strecke ich diese habgierige Hand, die den Menschen charakterisiert, der Zukunft entgegen, aber ich greife nur ins Leere. „Gib mir Deine Liebe und ich bin reich genug“, sagt der Kühne, und ich borge mir seine Worte, „Dich zu lieben, das genügt mir“. Meine Kameraden würden lachen, wenn sie mich hören würden. Die Nummer 1112, deren Kopf in diesem Augenblick sehr nahe an dem meinigen liegt, sagte mir letzthin in sarkastischem Ton: „Ah ja, Ihre unsichtbare Welt...“ Da er nur an das Greifbare glaubt, stürzt er sich kräftig auf das, was ihm zugleich die Weisheit seines Volkes zu sein scheint, und das neue, moderne Wissen und die Lehre, die ihm von seinem einzigen Gebieter, „der Regierung“, auferlegt wurde, die uns hier eingeschlossen hält. 1112 verachtet mich, weil ich so unvernünftig bin. Für mich ist es eben jene Unvernunft, die dem beginnenden Tag seine Bedeutung gibt, Unvernunft des Menschen, der gekreuzigt wurde, der wollte, daß man ihm ähnlich würde, Unvernunft des Geopferten, der Sein Opfer fruchtbar machte für unendlich viele. Wenn ich nichts will als Seine Liebe, so kann ich mich nur freuen, an diesen Ort vollkommener Entblößung gestellt zu sein.

Vier lange Pfiffe rollen durch unsere Flurgänge. Das ist der Weckruf. Es ist 5.30 Uhr. Die Liegenden werden lebendig, reiben sich die Augen, und im Aufstehen flüstern sie sich kleine Ereignisse der Nacht zu: Wer geschnarcht hat, wer geträumt hat und wer aufgestanden ist. In wenigen Augenblicken sind die Decken gefaltet und aufgehäuft, der wohlbekannte Boden erscheint. Stehend oder am Boden sitzend wartet man durch fast eine halbe Stunde, daß sich die Tür öffnet. Um mich herum werden nach und nach alle lebendig, dem Tag entgegen, der beginnt, und setzen das Datum fest: „Donnerstag, der 15., nicht wahr?“ Zweifellos rechnet auch jeder unwillkürlich nach: schon drei Monate, daß ich hier bin .. . Ich sage mir: schon zehn Monate, und für die Zukunft vielleicht noch zehn Monate oder zwanzig oder dreißig, wer weiß?

Diese Stunde des frühen Morgens, die der Ruhe des Schlafens folgt, erzeugt für den Gefangenen ein besonderes Leiden, wie der Saft, der aus einer giftigen Pflanze tropft. Hinter den Gesichtern meiner Kameraden, wohlbekannt und zugleich wie zugemauert, kenne ich die Gespenster, die ihren Alpdrucktanz wieder aufnehmen, die Gattin, die nicht einmal weiß, wo ihr Mann zurückgehalten wird, die Kinder, die vielleicht Hunger haben, und die Zukunft, wie ein schwarzes Loch, und der Richter und die allmächtige „Regierung“, von der man ununterbrochen spricht und die dein Schicksal ist.

Mein Nachbar, der neben mir am Boden hockt, will vielleicht seine traurigen Gedanken verjagen und fragt mich unvermittelt: „Gibt es in Frankreich noch unzivilisierte Völker?“ Und ich versichere ihm, daß es das nicht gibt. „Selbst nicht in den Bergen? Denn bei uns gibt es noch die Miaos, die Lolos usw....“ Dieser Nachbar, den man 1052 nennt, hat mir immer Sympathie erwiesen. Heute dreißig Jahre alt, hat er fünf Jahre ohne Gehalt bei einem Auto-reparateur gearbeitet. Er hat sich in den Akkumulatoren spezialisiert und ist dann einige Jahre nach der „Befreiung“, das will heißen vor der Machtergreifung der Kommunisten, Vorarbeiter geworden. Er kann lesen und schreiben, aber außer den Maschinen, die ihn sehr interessieren, zeigt er eine unendliche Unwissenheit, er glaubte ehrlich, daß der Fluß Jangtsekiang von Menschenhand gegraben wurde, wie ein Kanal. Die anderen mußten ihm versichern, daß dieser Wasserweg „vom Himmel“ gemacht wurde, das heißt, natürlich ist. 1052, schon seit einem Jahr Gefangener und in politischer Hinsicht jetzt wohl unterrichtet, sagt bei jeder Gelegenheit dieselbe Redeweise über den amerikanischen Imperialismus, einziges Hindernis für den Weltfrieden, der die Mache der Herren in Wallstreet ist und nicht des Volkes der USA. Man darf nicht versuchen, ihm diese ein oder zwei festgelegten Formeln zu entziehen. Er ist eine mutige, ehrliche Seele, aufrichtig, grob und fein zugleich- Wenn ich die Zelle 23 für immer verlasse, fortgeschleppt von meinem Kerkermeister, dann wird es 1052 sein, dem ich einen' letzten Blick von Freundschaft und Dankbarkeit zuwerfen werde.

In der engen Zelle (6 Meter zu 3 Meter), wo fünfzehn Männer zusammengepfercht sind, gelingt es trotzdem, einige gymnastische Uebun-gen zu machen. Man drückt sich zusammen, soviel man kann, um ihnen einen Spielraum zu geben. Seit seiner Kindheit, die oft in zu kleinen Wohnungen zugebracht wurde, ist der Chinese gewöhnt, in gedrängten Gruppen zu leben; was eine wechselseitige Duldsamkeit verlangt, eine unentwegte Geduld, eine Beherrschung der nervösen Reaktionen. Ich habe schon beinahe ein Vierteljahrhundert unter diesem Volk gelebt, und heute bewundere ich wieder seine bemerkenswerten Tugenden.

Aber die Türe öffnet sich. In Reihe laufen wir zum Waschraum des Flurganges: sechs oder sieben Plätze für fünfzehn. Verbot, Seife fortzutragen. Man tunkt sein Handtuch in die Lauge, man benetzt sich eilig das Gesicht und die Hände. Genau in zwei Minuten muß alles fertig sein, damit die achtundzwanzig Zellen dieses Stockes der Reihe nach im Laufe einer Stunde diesen einzigen Waschraum aufsuchen können. Man muß mit geneigtem Haupt hingehen und zurückkommen — die Haltung von Schuldigen (niemand ist noch schuldig gesprochen worden). Die Kommunisten kennen den Wert dieser Geste; indem man jeden Tag die leibliche Maschine in diese Lage der Beschämung biegt, formt man die Seele zur Folgsamkeit, das Temperament zu dem eines Haustieres, die man jedem Untertan dieser Regierung aufzwingen muß. Warum muß mein ehrlicher 1052 (der Mann der Akkumulatoren) mehr platt erscheinen als die anderen und die Schultern unnobel beugen? Ich leide jedesmal darunter.

Wir gehen zurück und der Schlüssel knirscht von neuem im Vorlegeschloß der Tür, die man wieder verschließt. Wir haben ein wenig Wasser mitgebracht, um uns die Zähne zu putzen. Der Gefangene 1278 prüft zum hundertsten Male die Zahnpasten und Zahnbürsten von jedem, seine Art, sich zurück in das Zauberreich des Gewerbes zu flüchten. Er kennt alle Marken und alle Preise. Ich wundere mich wieder über dieses umfangreiche Gedächtnis von den einzelnen Zahlen und die unausgesetzte Aufmerksamkeit dem Profit gegenüber. 1278 ist der Sohn von Bauern, kleinen Besitzern, die ihren eigenen Grund selbst bebauen, wie es so viele in diesem Land der niederen Klassen gegeben hat. Seine Eltern waren arm, hat er mir gesagt, und konnten ihn nur in die Volksschule schicken. Die agrarische Reform hat sie jedoch in die Kategorie der mittleren Bauern gesetzt (tschong-nong) und hat ihnen einen Teil ihres Erbgutes entzogen.

•Während wir sprechen, hat sich der Himmel hinter den Gitterstäben verdunkelt, es wird Nacht. Mehr als zwei Stunden sitze ich in der Mitte des Zimmers ohne Rückenlehne, das Kinn auf den Knien, erwarte ich mit Ungeduld das Signal von 19.30 Uhr. Obwohl es noch kalt ist, in diesem herben Monat April in unserem Nordzimmer, haben sich mehrere von uns und ich als erster die Füße entblößt. Zu dieser Stunde und während der ersten Hälfte der Nacht haben wir immer brennende Füße. Später sagte man mir, daß dies eine Folge von zuwenig Vitamin B gewesen sei. Aber da ertönt endlich der befreiende Pfiff: zum letzten und dritten Male im Tag werden wir noch eine Stunde lang zwischen unseren vier Wänden im Kreis gehen, bevor wir endlich in die Vergessenheit des Schlafes versinken dürfen.

Zu dieser Stunde erfaßt mich oft eine unruhige Aufregung: „Herr, was tue ich hier? Hast Du mich vergessen? Denkst Du wirklich, daß ich Dir hier nütze? Bis wann? Ach, käme doch der Tod ... Wenn doch diese Beschwerden von Herz und Rippen ihn ankündigen würden ... Werde ich durch die kleine Pforte hinauskommen, der einer unerwarteten Befreiung: oder durch die große Pforte, Krankheit und einsames Ende, wie Du es anderen Bekennern verliehen hast, oder, wer weiß, vielleicht einen Triumphbogen, ins volle Leben der Todesschuß, die Kugel ins Genick, der glorreichste, aber der leichteste Tod ... ?“ Keine Antwort. Unsere Schatten bewegen sich über den Holzboden, die Bretter krachen unter meinen bloßen Füßen. Eine neue Runde und noch eine Runde ... Die Gedanken wenden sich auch dem täglichen Elend zu: „In zehn Tagen werde ich keine Seife mehr haben. Nun also, leider, ich habe ein wenig Ueberfluß während der sechs Monate genossen, steigen wir nun die Stufen der Armut ein wenig herab.“ Um mich herum denkt man bereits an die nächsten Vorbereitungen: noch im Gehen beginnen einige sich teilweise auszuziehen, und ich mache es wie sie. „Was immer die Zukunft bringen mag, sie bleibt eine verschlossene Quelle, aus der ich nicht schöpfen kann ... Die Wirklichkeit ist eine verschleierte Gegenwart, aber glorreich, das ewig brennende Herz des Gottmenschen, glühender Strauch, der die ganze Kirche umschließt, und ich, scheinbar eine Made der Gefängnisse, eingeschlossen in eine Kammer des Ameisenhaufens, in der Zelle 23, auch ich habe teil an diesem ewigen Werk zur Erlösung der Welt.“

Das letzte Signal des Tages (8.30 Uhr) kündet uns die Ruhe an. In einem Augenblick sind wir auf unsere Decken gesprungen und haben jeder unseren kleinen Raum eingenommen. Der Kerkermeister öffnet das Schiebefenster an der Tür, und die ganze Nacht wird er da vorbeigehen, mit den Augen immer seine gefangene Herde zählend. Ausgestreckt auf der Erde erwarte ich ruhig den Schlaf. Ich halte mich nicht für einen Helden: so viele andere sind gemartert worden, und ich hatte nicht einmal Handschellen getragen, so viele andere haben die ununterbrochene Marter der Befragung ertragen, die Tage und Nächte dauert, ohne Pause, und ich weiß, daß ich schlafen werde. Es möge mir genügen, daß ich heute den Willen meines Vaters erfüllt habe ... Der Schlaf beginnt meine Bindungen zu lösen, schon verlasse ich die Zelle 23. Mein letzter bewußter Gedanke überfliegt das große China, übersät von Gefängnissen, ich denke an meine unglücklichen Brüder, an das riesige, niedergedrückte Volk.

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