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Niedcröstcrreidiisdics TagebucJi

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Ankunft in W. Sie strecken uns die Hände entgegen und lächeln. Die Frau mit den seltsamen Augen öffnet die Tür zu unserem Zimmer und der blonde Knabe blickt uns forschend an. Gesprochen wird nichts. Sie sagt nur: „Ich weiß nicht...“ in einem Ton, der auf-und abschwingt, und lächelt mit den hellblauen Augen. Dann sind wir allein in dem großen Raum und ich fürchte mich vor dem riesigen Spiegel, der ohne Rahmen an der Wand lehnt...

Der Gottesdienst hat irgendwie begonnen. Von Zeit zu- Zeit finde ich mich wieder in der Holzbank, und die brüchige Stimme des greisen Priesters kommt auf mich zu. Er beugt mit großer Mühe sein Knie, und ich glaube nun jedesmal, daß es sein letzter Kniefall gewesen sei, der nächste könne ihm vor Schwäche nicht mehr gelingen. Der kleinere der zwei Ministranten schaut manchmal zu mir herüber, er hat dunkle Augen und einen hübschen Mund, ich muß ihm den Blick zurückgeben. Die Messe wird an einem Nebenaltar gelesen, der Hauptaltar'liegt im Dämmer. Von dorther zwitschert es plötzlich so sanft Und rein in die Stille der Wandlung, daß ich sagen möchte: Herr, deine Schörifung ist' schön. Und dann schwingt sich ein kleines Rotschwänzchen in die barocke Kuppel und singt. Der blonde Knabe, ein paar Bänke vor uns, schaut mit weiten Augen hinauf, und sein süßer halboffener Mund sagt: Oh...

Das Haus hat zwei Tore. Durch das eine betritt man den staubigen, mäßig breiten Fahrweg, durch das andere den Garten mit den kühlen Nußbäumen, den leicht geknickten Zinnien und dem Bach, der den Garten abschließt. Dem Eingang von der Straßenseite her geben wir meist deshalb den Vorzug, weil er für uns Reize birgt, die uns an die Kinderzeit erinnern: wenn man durch die im oberen Teil verglaste Türe schaut, sieht man an der gegenüberliegenden Wand sein eigenes Spiegelbild. Inuner wieder gönnen wir uns den Spaß der Betrachtung zweier Köpfe, die eng nebeneinander aus einem Spiegel schauen und lachen...

Wir machen weite Spaziergänge, manchmal auch zur Ruine M. Es ist früher Abend, der Mond leuchtet über den zerfallenen Zinnen. Als wir die Ruine vor Tagen im Sonnenlicht sahen, war alles ganz anders: der herrlich gewölbte Torbogen des guterhaltenen Vorhauses grüßte beinahe weiß und die aufgebogenen Dadienden schauten sehr chinesisch aus. An der Innenseite der Pforte saßen die Tauben, weiße, gurrende, vor ihren Luken oder schweiften zum nächsten Mauervorsprung. Wir standen, geblendet von der Leuchtkraft der scharf konturierten Farben des blauen Himmels und des weißen Gefieders. Ich dachte an Daniele Vares „Tor der Glücklichen Sperlinge“ und gab diesem hier den Namen „Tor der Weißen Tauben“.

Wir wollen uns vor dem Essen noch ein wenig erfrischen und betreten das Haus von der Straßenseite her. Während ich den Schlüssel im Schloß umdrehe, muß ich einen Blick in den Spiegel tun (das ist nun einmal unvermeidlich geworden) und danach auf den runden Tisch, der uns meist die Post entgegenhält, wenn wir am späten Vormittag zurückkommen. Obwohl ich sehe, daß dort ein Brief liegt, vielleidit sogar für mich, mache ich rasch die Augen zu und wünsche mir einen ganz bestimmten Brief. Dann schaue idi auf und erkenne die vertrauten weiten, traumhaften Schriftzüge und juble sehr ...

Es dämmert; wir gehen auf dem Kirchhof von einem Grab zum andern und lesen die Namen der Verstorbenen. Am Ende des Kirchhofs, in die hohe Mauer eingebaut und von ihr gestützt, steht ein breiter Glockenturm. Man verlangt bei seinem Anblick unwillkürlich die Nachbarschaft einer Kirche, muß sich aber erst umwenden, um sie, außerhalb des Kirchhofs und mit einem unsdiönen Holzturm, zu erblicken. Wir horchen auf die dumpfen Schläge, die aus dem Inneren des Glockenturms kommen. Das Tor, hinter dem das Herz schlägt, ist ge-sdilossen. Tiefer sinken die Sterne, und da beginnen wir, einander die Geschichte vom Glockenturm und seinem Türmer zu erzählen, eine erfundene Geschichte, die traurig ausgeht... Wir wandern dabei die stillen Häuser entlang, an dunklen Fenstern vorüber (selten ist irgendwo noch ein Mensch wach unter der Lampe). Diesmal gehen wir durch den Garten ins Haus. Er liegt wie im Schlummer. Weiß und reglos der Phlox und die helleren Zinnien, dunkel die roten und lila Astern. Ist unser Holunderstrauch noch wach? ...

Wenn man den schmalen Weg neben dem Bach gegen die Kirche hin ein Stüde verfolgt, kommt man zum Schuster des Orts; wir sehen ihn beinah jeden Tag, wie er beim hochgelegenen Fenster sitzt und gerade im Augenblick herausschaut und grüßt, wenn wir Vorübergehn. Wenn man nicht in seine Werkstatt schaut, weiß man gar nichts von ihm. Da hockt er, ein kleiner stiller Mann mit einem Kopf wie gemeißelt, mit hoher runder Stirn und klaren Zügen, auf einem Hochsitz aus Holz, umgeben von Schuhwerk, das sich gleichsam bedürftig um ihn schart. Irgend etwas in seinen Augen macht mich still und nachdenklich. Wir holen den ausgebesserten Schuh ab und ich frage ihn, was ich schuldig sei. Er blickt mich an und sagt: „Das geht so —“ und seine Augen sind dunkel, groß, schön ... Da weiß ich, daß ich ihn früher schon einmal gesehen haben muß, am ersten Tag, als er in der Kirche sein „Gott vergelt's“ gesagt hat, leise ...

Mein Traum von heute nacht: Es war irgend etwas sehr Trauriges geschehen auf der Welt und alle wußten es, und alle ging es an. Aber niemand wollte mit der Klage beginnen, sie standen nur so an den Gärten und blickten einander an. Ich aber wußte, daß das • allgemeine Leid sich lindern ließe durdi einen Mensdien, den diese Traurigkeit ganz erfassen könnte. Ich blickte um mich und sah starre Gesichter. Da löste sich aus der dunklen Gleichgültigkeit ein jäher schluchzender Schrei los, ein Kinderweinen, so groß und weltweit, so tief, daß alle hingerissen wurden wie im Sturm und sich niederstürzten und weinten, weinten, heiße Ströme ...

Am Nebentisch sitzt eine blonde Frau. Ihr gegenüber ein magerer Mann, den das kleine Mäddien „Onkel“ nennt. Die blonde Frau ist reif, und schön. Um den Hals trägt sie ein großes mit Halbedflsteinen geschmücktes Kreuz. Sie schaut mit wunderbar blauen, sehr fernen Augen in keine bestimmte Richtung, und wenn das Kind zu ihr spricht, legt sie ihm ihre wohlgeformte Hand auf den Scheitel.

Selten kommen die drei gemeinsam zu Tisch. Manchmal, wenn sie verspätet sind und wir schon während der Mahlzeit, kann es die Kleine nicht lassen, ihr Hälschen zu recken, um zu sehen, was es an guten Dingen gibt. Dann ruft sie eine sanfte traurige Stimme zur Ordnung.

Frühmorgens fahren wir nach M. Grün und taufrisch Wiesen und Blumen. Der Strauß Phlox im Gepäcksnetz über uns läßt Blüten niederregnen.

Während wir versuchen, den Weg zum Strandbad zu finden, gehen meine Gedanken zurück nach W.: Ich ging einkaufen (es gab da ein Geschäft im Ort, in dem man die verschiedensten Waren kaufen konnte), öffnete die Glastür des Ladens und stieg die einzige Stufe hinunter. Da stand der Besitzer, ein fleißiger ruhiger Mensdi, hinter seinem Ladentisch wie hinter einem weißgrauen staubigen Dunst von lange aufbewahrten Karten und Tüdiern, nilampen, pendelnden Sdiuhriemen, blitzenden Kochtöpfen, Wolljacken, Strümpfen, hellgelben Holzlöffeln, Türmen von Ansichtskarten, Kopftüchern und Schuhpasten, mitten in diesen geordneten Massen stand er, weiß wie ein gepuderter Clown, und starrte mich aus tiefliegenden Augen an, als sei es vollkommen unverständlich, seinen Laden zu betreten. Das alles dauerte nur einen Augenblick, eben gerade so lang, um empfunden zu werden — dann war er wieder der freundliche, etwas blasse, aber zu kleinen Scherzen bereite Kaufmann des Dorfes. Einige Tage später erfuhren wir, daß seine Frau vor einer Woche gestorben sei...

Wir steigen die seichten Stufen zum Stift empor und sehen an der obersten Treppe einen untersetzten Mann, der sich mit Schaufel und Schubkarren zu schaffen macht. Beim Näherkommen schaut er uns an und wischt sich mit der blauen Arbeitsschürze über die Stirn. Er hat ein breites zufriedenes Gesicht und schütteres weißes Haar. Wir grüßen und fragen etwas. Da stellt er den Karren nieder und macht eine kleine Verbeugung vor uns, die in ihrer kindlichen Demütigkeit großen Eindruck auf mich macht. Er sagt dazu einen Gruß, aber man versteht, nicht ganz, was er spricht. Während wir auf die nächste Führung v/arten, sehen wir ihn, wie er eine lange Leiter quer über den Schubkarren legt und so versucht, weiterzufahren. Sein Gang ist ruhig und beherrscht, vielleicht war er irüher beim Theater, doch plötzlich hält er inne, wirft die Arme hoch, ergreift die Leiter und stellt sie auf, knapp vor ein Gesicht und beginnt, mit dem Kopf deutend, die Sprossen zu zählen. Ich wende mich ab, es kommt mir schamlos vor, ihn so anzuschauen in seiner Krankheit. Er fährt weiter, durch den äußeren Hof und bleibt vor dem Tor des inneren Hofes stehen, zieht aus der Tiefe des Karrens ein schwarzes bändergesdimücktes Meßbuch hervor, reißt 6ich mit sehr hastigen Bewegungen die blaue Schürze vom Leib, schlägt das Buch damit ein und verbirgt es in einem kleinen Korb, den er mitführt, jagt in schrecklicher Eile davon, mit federnden Schritten, den Kopf wiegend wie in großer Entzückung.. t Während die ausgeleierte Stimme einer ältlichen Frau, die die Führung übernommen hat, in den Hallen und Gängen des Stiftes dröhnt, werde ich auf einmal sehr müde und habe den sehnsüchtigen Wunsch, auszuruhen. Der stille Knabe neben uns, der sich am Arm seiner Mutter ein wenig nachziehen läßt, hat runde Kinderaugen und viel Zartes um den Mund ...

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