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Im Labyrinth der frühen Jahre

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Der Autor, 1928 in Dornbirn geboren, schildert in seinem Roman „Nur die Taube” die verschwundene Welt der Kindheit. Das Buch erscheint demnächst im Verlag Styria, Graz.

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Der Autor, 1928 in Dornbirn geboren, schildert in seinem Roman „Nur die Taube” die verschwundene Welt der Kindheit. Das Buch erscheint demnächst im Verlag Styria, Graz.

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Spielball sein eines gut funktionierenden Systems, angewachsen an die Erde und zugleich von ihr erlöst, erlöst aus den Verstrickungen und doch immer wieder hoffnungslos darin verfangen, umwickelt an Händen und Füßen, gefesselt an eine Wolke, die nicht trägt.

Sprühregen auf der Haut erlebt, erfahren die Wollust des Schmerzes und die Vernichtung durch Freude.

Ein Vogelschwarm, Zugvögel in den Bäumen, ein paar Schneeflocken und der Wind und so vieles. Ich kann es sehen, kann es fühlen, greift aber die Hand danach,

ist es weg, nichts Greifbares, nur hörbar in den Schlägen, die mich abstoßen zum Sprung.

Lautlos ist es bei mir, lautlos halte ich es und wärme mich an ihm und verstecke mich in seiner Weichheit, in der Eile, die mir bestimmt ist und die mir mein Gehorsam vorschreibt.

Wem sage ich es ? Mir selbst bin ich fremd, so gehe ich zu dem Andern, der aber versteht mich nicht, so oft ich mich auch wiederhole; ich bleibe allein mit dem Fremden und folge ihm.

Geißblatt rankt sich an den Holzgittern des Gartenhauses empor, wilder Wein klettert über das Dach. An der Dachspitze ist eine Wetterfahne befestigt, die knarrt, wenn sie der Wind dreht. ^ Tiefe Fensternischen im Wohn- raum, Ausblick nach zwei Seiten, ein Kachelofen, davor ein Sitz- brett, eine Kanne Tee in der Ofenöffnung.

Uber einer Kommode ein schräg aufgehängter Spiegel, in ihm wiedergegeben die darunter auf gestellten Fotografien, Familienbilder an Großvater adressiert, seine Kinder, seine Enkel.

Mutter. Sie ist ein schönes Mädchen, eines aus einer sehr großen Familie, sie hat elf Geschwister.

Das Leben ist einfach, das einschichtig gelegene Haus voller Heiterkeit, sie spricht später davon, sie tut es mit der Ehrfurcht der Beschenkten.

Das Haus liegt nahe der Grenze. Zöllner gehen vorbei, setzen sich ein paar Worte lang nieder, scherzen mit den Mädchen im Gartenhaus, an den Abenden, an Sonntagnachmittagen, wenn keine Arbeit zu tun ist und sie sich mit ei ner Handarbeit beschäftigen dürfen.

Eine ältere Schwester hat in die Stadt geheiratet. Mutter fährt zu ihr, sie besuchen gemeinsam ein Fest. Ein klares Bild, in hellen Farben gezeichnet, es liegt in den angepaßten Bedürfnissen, nicht mehr zu wünschen, als das Leben bietet. Darüber wird nicht gesprochen, es geschieht, die Vertrautheit, allem gemeinsam zu begegnen, ist da. Probleme gibt es, es wird versucht, sie zu lösen.

Mutter spricht leise, ich hörte nie ein lautes Wort von ihr.

Die Schwestern, übermütig, eingehängt spazieren an Sonntagen, über die Grenze, mit bodenlangen Kleidern, raschelnden Unterröcken mit Volants und Schlaufen aus Leinen, abgenäht wie Patronenhalfter, darinnen stecken die langen, geschmuggelten Zigarren für Großvater und bauschen die Röcke, machen den Gang aufrechter und steifer.

Die Grenze verläuft mitten durch einen Kartoffelacker. Ware, die herübergebracht werden soll, wird nachts unter dem Gepflanzten versteckt und bei Tag in Körben heimgetragen.

Pflaumen im nassen Gras. Die Kirschbäume oben auf dem Hügel und von dort der Blick auf das bemooste Ziegeldach, den Stall und die Scheune. Die Kammern der Mädchen, die Kammern der Söhne, Großmutters selbstgewebte Bettwäsche, ein Regal, auf dem kleine Geschenke stehen, Andenken, von Wallfahrtsorten mitgebracht, geschmückte Kerzen, ein Gebetbuch.

Krieg, die Brüder sind eingezogen, die Mädchen müssen zusätzlich deren Arbeit verrichten.

Mutter wacht nachts auf, ihr Name wird gerufen, sie erkennt die Stimme ihres Bruders und glaubt, daß er überraschend Urlaub von der Front bekommen hat. Sie läuft zur Haustür, öffnet, will ihn begrüßen.

Sie ruft, er antwortet nicht, sie hört seine Stimme noch einmal, leiser, verebbend, sie geht in das Haus zurück, traurig.

Nach Wochen kommt der Brief, ihr Bruder ist gefallen, in jener Nacht und zu jener Stunde.

Besuche an Sonntagen, die Eisenbahnfahrt, Blumen im Gepäcksnetz, die letzten Schritte zum Haus, von Großvater erwartet, er mit der Pfeife im Mund.

Zu Allerheiligen die Fahrt zu den Gräbern, Kränze aus Efeu auf der schwarzen Erde, Herbstastern aus dem eigenen Garten. Dicht gedrängt die Menschen in der kleinen Dorfkirche, ich eingezwängt zwischen schwarzgekleideten Frauen, denen lange schwarze Schleier über den Rücken hängen.

Die Zeremonien dehnen sich, die Predigt, schleppend von dem alten Priester gesprochen, Gebete, die Knie tun weh. Vor mir hängt einer dieser schwarzen Schleier, ich nehme ihn zwischen die Hände und spüre den Stoff rauh auf meinen Fingern. Ich schaue zu Mama hinauf und sehe, daß sie lächelt.

Immergrün am Waldrand, die blauen Blüten im Herbst, dürres Laub raschelnd unter den Schuhen, reife Haselnüsse in Großvaters hohler Hand, die Hand zittert beim Entgegenhalten; sie ist knochig und braun.

Mutter ruft mich ins Haus. Ein Kleid von ihr ist über eine Sessellehne gehängt. Sie faltet es zusammen und legt es mir über den Arm.

Ich habe heute auf dem Weg Frau F. getroffen, sie wird es mir bis morgen ändern, sie erwartet dich, ich habe ihr gesagt, daß du es ihr nach der Schule bringen wirst.

Ich nehme den kürzesten Weg über die Wiese. Das Haus ist etliche Stockwerke hoch. Der Hauseingang hat eine Steineinfassung, ein halbes verglastes ovales Fenster über der geschlitzten Tür.

Der Garten grenzt hinten an die Wiese an, dort sind öfters auf Holzstangen gefärbte Wollen und Stoffbänder aufgehängt, die in der im Erdgeschoß untergebrachten Handweberei verarbeitet werden. Die Fenster stehen offen, das Klappern der Webstühle ist im Garten zu hören.

Der Hausflur, breit und mit Steinplatten ausgelegt, ist kühl. Seichte, ausgetretene Steinstufen führen in die oberen Stockwerke.

Frau F., eine kleine Frau, fortwährend an etwas kauend, ihre Zähne bewegend, als hätte sie ein Kümmelkorn zwischen ihnen, öffnet.

Ein Mädchen sitzt nähend am Fenster. Auf dem großen Tisch liegt Stoff und darauf ein ausgebreiteter Papierschnitt. An einer Kleiderpuppe hängt ein halbfertiges Kleid mit noch eingezogenen Heftfäden.

Zeig mir, was du mitgebracht hast. Nimm deiner Mutter diese Stoffreste mit, das letzte Mal hat sie sie vergessen; wart, ich schnür sie dir zusammen, dann kannst du sie besser tragen, verlier sie nicht, aus dem größeren ließe sįch noch eine Bluse machen, und sag deiner Mutter, daß ich das Kleid selbst vorbeibringen werde, morgen, aber es wird spät werden, ich komme nicht früher von hier weg.

Striche, Punkte, Linien, verschiedene Raster übereinander geschoben, eingestellt bis zur äußersten Klarheit und wieder verwischt.

Zu folgen ist einem Schatten, der immer mit uns ist, er richtet sich nach dem Licht und das Licht nach unserem Standort, dem fortwährend wechselnden.

Gedachte Veränderungen herbeiführen, scheinbar der Wahrheit ausweichen und ihr doch in allem begegnen.

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