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BIS DIE SONNE MICH TROCKNET

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Santa Margherita Ligure ...

Ein Vormittag, der nicht gut ist, auch hier nicht, am Meer und unter den Olivenbäumen,

dabei habe ich immer gedacht, wenn man nur

dort wäre, immer gedacht, wenn man nur dort

wäre, dort ist alles für immer anders ... doch das Meer drückt auf die Augen, daß sie schmerzen, das dunstige Licht lähmt, und es ist nicht wahr, daß man nachts, eins mit den Algen und Fischen, getauft worden ist im HEILIGEN MEER, getauft zu neuer Geburt und getrocknet von einem Wind aus biblischen Gärten.

An der Uferstraße ein alter Wehrturm, sie nennen ihn „oastello“, über dem kleinen Tor ein Schild: „rnuseo“. Ich trete ein (ich brauche ein Versteck, ein Versteck vor der Stunde...).

Der Museumswärter, ein Veteran mit dichten, weißen Haaren, hängendem Schnauzbart und braunen Augen, sieht mich an. Seine Augen sind nah, fast glaube ich mich in ihnen zu spiegeln, dennoch sind sie fern.

Er führt mich in einen weißgekalkten Raum, eine feierliche Handbewegung in die Runde, ich bin alllein. Und schon überfällt mich dieser Geruch, dieser erstarrte Geruch nach Friedhof ohne Erde, vertrockneten Blumen und längst erloschenen Kerzen... und von den Wänden schauen die Toten, viele Tote, kleine Tote auf weißem Porzellan, ovale Bilder mit und Ohne Goldrand, glatt, wenn ich mit dem Finger darüberfahre, glatt wie der Schmerz später ... ovale Bilder, aufgereiht: 1914 bis 1918 ... wie bekam man damals die Briefe zurück?

„Gefallen für Großdeutschland“ hieß es

im letzten Krieg, und ich hatte dir kurz

vorher die Feldausgabe von Hölderlin

geschickt und das Gedicht „Da ich ein

Knabe war“ mit rotem Stift umrahmt,

weil ich uns noch in den Armen der Götter wähnte,

da kamen meine Briefe zurück mit DER

Aufschrift und die Arme der Götter

begannen mich loszulassen.

Von der Wand hängen Fahnen, zerfetzt, Dekoration mit Modergeruch, ich fürchte sie zu berühren, ich fürchte den Aschenregen und ziehe mich an den eisernen Sprossen, die in die Wand eingelassen sind, höher hinauf, bis ich auf der Plattform des Turmes stehe, neben einer Kanone aus dem ersten Weltkrieg. Ich lehne mich an sie, um hinauszuschauen, und durch mein Kleid hindurch spüre ich, wie warm sie ist, von der Sonne durchglüht.

Und plötzlich ist das Meer wieder da und der Himmel und alle Verheißungen, und ich koste die Luft in kleinen Wellen, und das Meer bricht die Augen nicht mehr wie ein Feind, sondern wie ein übergroßes Maß an Schönheit und an Lust.

Am Fischmarkt entlädt man Ströme silberner Fische, von den Dächern der Autos schnellen bunte Pfeile zu mir und zwischen den vielen Kinderwagen mit den kleinen Sonnenschirmen und den vielen Müttern, die reden und reden, die Fremden, ich erkenne sie, sie haben die Schrift nicht gesehen am Molo, die einer in den weichen Zement geschrieben hat, mit dem Finger vielleicht oder einem Stein, das Wort „felice“, das in den Stein geschrieben bleibt, solange es diesen Molo gibt.

Auf den Felsblöcken am Ufer, gleich neben der Straße jenseits der Kaimauer, liegt ein Mann in der Sonne, Arme und Hände ausgestreckt. Im Hafen fährt eine Jacht aus, es ist die schwarzgestrichene Jacht, die „terra“ heißt, sie nahm sich seltsam aus zwischen den bunten Schiffen, die nun ihre Sirenen tönen lassen, der „terra“ zum Abschied.

Ich klettere die eisernen Sprossen wieder hinunter, zu den Porzellanbildern der Toten, und es gelingt mir weder Trauer noch Bedauern, nicht weil mir ihre Zeit fern und ihr Schicksal fremd ist, und ihr Leben unbekannt,

doch könnte es nicht genügt haben... und ich erinnere mich an ein winziges Segelschiff in der Vitrine einer alten Dame,

ich durfte es manchmal vorsichtig in die Hand nehmen, es war zierlich aus Holz geschnitzt, von ihrem toten Sohn geschnitzt, ein wunderschönes Schiff mit vielen winzigen Segeln aus Papier, und es hatte in meiner gescHlossenen Hand Platz,

könnte es nicht genügt haben, dieses Schiff,

wie er es das erste Mal aus der klebrigen, tuschverschmierten Hand behutsam aufs Wasser setzte und es schwamm, und wenn er es anblies und die Augen in die Höhe des Wassers brachte, fuhr das Schiff mit ollen Segeln in seine erfüllten Träume...

Am Ausgang steht der Museumswärter und mit derselben Handbewegung, mit der er mir die Toten vorgestellt hat, weist er nun auf einen Opferstock. Ich suche in meiner Tasche nach Geld, ich wühle herum und finde keines. Ich schäme mich und sage:

„No denaro ...“ — kein Geld.

Er öffnet mir gelassen die Türe, lächelt freundlich und erwidert:

„Lo stesso...“, wörtllich übersetzt: „dasselbe“, doch er sagt es, mit seinem ruhenden Blick, als wolle er zu mir sagen:

„Lo stesso ... du Frau ... Mensch ... es ist gleichgültig, so vieles ist gleichgültig... MARTHA, MARTHA, DU HAST VIEL SORGE UND MÜHE; EINS ABER IST NOT...“

Dann stehe ich wieder draußen, das kleine Tor schlägt zu, mit den modrigen Fahnen und den Porzellanbildern der Toten dahinter.

Und für einen Augenblick scheint mir alles anders, und ich möchte mich ausbreiten auf dem warmen Stein wie jener Mann am Ufer und warten, bis ich eines Tages eine Decke von Moos bin über dem Stein und das Meer mich tränkt und die Sonne mich trocknet und ich ganz aus grünfächrigen Mündern bestehe, die Schmerzensschreie und Lobgesänge nicht unterscheiden, stumme Münder, die ihr Lied nur noch leuchten oder wehen.

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