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Fortdauer der Erinnerung: Anna

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Strecke wieder klar. Ähnliches gibt es vor dem Staubecken menschlicher Erinnerungen. So mag es zu erklären sein, daß Weinheber seiner Zeit dem Hirtischen Waisenhaus in Mödling einen Roman widmete, „Das Waisenhaus“ (erschienen 1924), während die weitaus härtere Zeit in der Korrektionsanstalt kaum erwähnt wurde. Auch zu den Fremden sprach er über Ober-Sankt-Veit nur am Rande und recht flüchtig.

Der Durchbruch

Als Weinheber 1908 das Waisenhaus verließ, stand er als Sechzehnjähriger abermals zwischen zwei Welten. Da war er Gehilfe in der Roßfleischhauerei seiner Tante Trbuschek, die das Gasthaus in der Kirchstetterngasse nach dem Tod ihres Mannes verkauft hatte. Die Fleischbank war auf dem Richard-Wagner-Platz, und im Haus nebenan wohnte der spätere Arbeiterdichter Alphons Petzold (1882 bis 1923). Weinheber verschlang hinter dem Hackstock — statt „auszubanln“ — Nietzsche und Schopenhauer. Die erboste Tante warf ihrem Neffen das Messer nach: „Nie im Leben wirst du a anständiger Roßfleischhacker werd'n!“ — Dann kam die Zeit des Postdienstes, ab 1911. Stand er vorher zwischen der Welt der blutbefleckten Fleischerschürze und der Welt seiner Lieblingsphilosophen, war er jetzt zwischen der Welt seiner Göttin, der dichterischen Sprache, und der Welt des Kanzleistils und des Postregals. Daß man dortamts die literarische Begabung Weinhebers erkannte und ihm die Redigierung des amtlichen Telephonbuches anvertraute, ist Tatsache — aber sie darf nicht wahr sein. Das kann nur vom Architekten, Graphiker, Erzähler und Dramatiker Fritz Ritter von Herzmanovsky-Orlando (1877 bis 1954) erfunden sein. Es kam die bittere Zeit des Verkanntwerdens, bis im Jahre 1934 „Adel und Untergang“ den endgültigen Durchbruch erwirkte. Da horchte man im deutschen Sprachraum fasziniert auf, da zog der Name „Weinheber“ als leuchtender Komet über den literarischen Himmel. Als ein Jahr später „Wien wörtlich“ erschien, meinte der Lyriker, Erzähler und Dichter Franz Karl Ginzkey (1871 bis 1963): „Das ist das Buch, auf das Wien Jahrhunderte gewartet hat!“ Man darf hinzufügen: „Das Buch, das Wien noch lange begleiten wird!“ Aber zeigte sich Weinheber mit diesen beiden Werken nicht wieder als Dichter zwischen zwei Welten?

„Wien wörtlich“

Die Frage wer ist größer, Schiller oder Goethe, wird salomonisch beantwortet: „Seien wir froh, daß wir beide haben!“ Was ist bedeutender, „Adel und Untergang“ oder „Wien wörtlich“? Da gilt wohl die gleiche Antwort: „Seien wir froh, daß wir beiden haben!“

Wünschelrutengänger der Tiefenpsychologie, die nach den Quellen von Weinhebers Wesensspaltung suchen, werden in der St.-Veit-Gasse beginnen müssen. Weinhebers Werk aber steht heute, mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod, so über allem Menschlichen und Allzumenschlichen, daß sich Debatten erübrigen. — Ihm stand über allem die Humanitas, die Menschlichkeit, ihm, dem Dichter zweier Welten. Dem Wienerischsten aller Wiener.

Zwischen Anna und mir herrschte ein dauernder Kampf seit ich mich erinnern kann, offen ausbrechend, wenn ich an ihr in die Höhe sprang, um sie an den Haaren zu reißen, weil sie mich gereizt hatte mit ihren Sprüchen, wie zum Beispiel auf meine Frage: Was gibt es heute zu essen? Ihre Antwort: Ein silbernes Nixle und ein goldenes Warteweilchen. Oder wenn sie mich, weil ich Sturm geläutet hatte, extra lange warten ließ und mir vor meinen Freundinnen befahl, die Schuhe gut abzuputzen und irgend etwas murmelte, das klang wie: Ich mach nicht euren Deppen. Wobei sie beim Einkaufen begeistert erzählte, was ich für gute Noten hätte, wie fleißig ich lernen würde und wie gut ich schwimmen könne, und daß ein junger Mensch doch auch einmal was Süßes brauche. Und so handelte sie für mich in der Zeit der Lebensmittelkarten manche Tafel Schokolade ein, mit rosafarbenen oder giftgrünen Füllungen, künstlich gesüßt und gefärbt, aber mir zerschmolzen säe köstlich auf der Zunge.

Noch lieber waren mir jene Gummischlangen, die es an Marktständen gab. Man konnte sie mit den Zähnen festhalten, lanigziehen und dann in den Mund schnellen lassen, um sie genüßlich längere Zeit zu kauen und am Gaumen zu spüren, wie ihre Festigkeit allmählich zerging. Anna und meine Mutter verabscheuten diese Schlangen, sie seien ungesund und ordinär, und wenn ich Anna in ihrer Köchinnenehre gekränkt hatte, weil ich nichts essen wollte, so waren immer diese Schlangen daran schuld, und natürlich mein Vater, der sie mir heimlich unter den Teiler schob.

In bezuig auf meinen Vater bestand zwischen meiner Mutter und Anna ein geheimes Einverständnis, das über das Bündnis der Frauen dem Mann gegenüber weit hinausreichte.

Wenn meine Mutter, wie so oft, Anna während des Essens herbeiläutete und ihr sagte, sie solle abräumen, während sie sich bemühte, meinen Vater, der mit glasigen Augen am Tisch saß, aufzurichten, funkelten die sonst unbewegten Augen Annas plötzlich auf, öffneten sich, wurden rund und schwarz und schienen sich an meiner Mutter festzusaugen, die meinen Vater mühsam hinausführte, und ich saß da und starrte die Augen Annas an, voll Furcht, sie könnten plötzlich Risse bekommen, zerspringen, und voll Scham vor einer solchen in Augen zusammengedrängten Hin/gäbe.

Doch kaum hatte sich die Türe hinter meiner Mutter geschlossen, fuhr Anna mich an: Für was koche ich eigentlich ... da plagt man sich den ganzen Tag... nur zum Schuhe-putzen ... und sie stellte eine Riesenmenge Grießflammeri vor mich hin, der mich auch ohne vorherigen Schlangengenuß schon anekelte, und sie blieb neben mir stehen, murmelte etwas vom Deppen, und ihre Augen waren wieder stumpf und glanzlos.

Am Abend lagen auf meinem Nachttisch zwei Rippen Pfefferminzschokolade.

*

Wie alt Anna in der Gummischlangenzeit war, könnte ich nicht sagen, sie sah immer gleich aus, mit strähnigen, am Hinterkopf zusammengedrehten Haaren, hinter der Schürze ohne Körper, so erschien es mir damals, und ich weiß nur, daß sie 20 Jahre bei uns war, kochte, Wärmeflaschen füllte, denn wir froren in den Schlafzimmern, es gab nicht genug Kohle für die Heizung und in den Zimmern mußten häßliche kleine Eisenöfen mit langen, schwärzen Rohren aufgestellt werden, und wenn sie im Sommer keine Wärmeflaschen füllen mußte, so füllte sie unentwegt Gläser mit Früchten, kochte an den heißesten Sommertagen stundenlang zähe, klebrige Flüssigkeiten, deren süßer Geruch das Haus erfüllte und den Gaumen verklebte, ohne daß man davon gegessen hatte. Und Anna schöpfte immer wieder rötlichen Schaum ab und ich aß ihn, noch warm, bis ich Zahnweh bekam oder Anna um eine Essiggurke anflehte.

Während ich schreibe, daß Anna keine Angehörigen hatte, bekomme ich Bedenken wegen dieses Wortes, man meint damit wohl eine Tante, einen Sohn, eine Mutter, einen Bruder oder den Ehemann, aber ein Geliebter wäre schon kein Angehöriger mehr — und da stimmt etwas nicht, wahrscheinlich hat kein Mensch einen Angehörigen, und so auch Anna nicht, und schon gar keinen Geliebten.

Oder könnte man sagen, Anna gehörte uns an?

Wenn wir auf meinen Vater warteten — und wir haben immer auf meinen Vater gewartet —, meine Mutter, Anna und ich, seltener mein Bruder Roderich, weil er kaum zu Hause war. Doch er mußte auf andere Weise dafür büßen, auf die letzte Weise, mit seinem Leben, doch das erfuhr Anna nicht mehr, und auch nicht, wie ihr geliebter „junger Herr, unser Roderich“ mit zuckendem Unterkiefer und hängenden Augenlidern im Morphiumrausch am Grab seiner Mutter stand, von der man behauptete, sie sei an Leukämie gestorben, doch ihre Augenlider wollten einfach nicht mehr in die Höhe gehen, vor dem Bild von Vater und Sohn ... *

Anna, die an jedem Festtag und nach zurückgenommenen Kündigungen ein Geschenk gut hatte, wünschte sich ein Kaffeeservice, ein Eßservice, Kompottschalen, Biergläser, Bettwäsche mit Zierpolster und so fort, und nachdem sie im Verlauf von Jahren alles hatte, in ihrer Dachbodenkammer verstaut, es abstaubte und lüftete, erhielt sie Kleider, schwarze mit weißen Punkten, dunkelblaue mit weißen Blättern, Dirndl mit weißen Schürzen, und in den letzten Jahren des Krieges auch Unterwäsche, die meine Mutter den Geschäftsinhabern und -inhaberinnen durch geduldiges Zuhören entlockte, und Anna legte die rosaroten Hosen auf die hellblauen und war glücklich.

Doch sie war ebenso glücklich, wenn meine Mutter ihr sagte, daß sie im Augenblick nicht Geld genug habe, um ihr den Lohn geben zu können. Und wenn mein Vater von einer seiner Kuren zurückgekommen war und alles wieder von vorne anfing, trug sie ihm den fehlenden Lohn am wenigsten nach, viel mehr, daß er meiner Mutter noch keinen solchen Pelzmantel gekauft hatte, wie ihn die Damen der Stadt trugen.

Dann kamen die letzten Tage des Krieges. - Anna hatte gehört, daß man unsere kleine Stadt verteidigen wollte, mit alten Männern, Flammenwerfern und Kindern, und sie nahm ihr Geschirr, die sorgfältig abgestaubten Kaffeetassen, die Bettwäsche mit dem Zierpolster, ' die rosarote und die blaue Unterwäsche, die gepunkteten und die geblümten Kleider, ich durfte ihr dabei helfen, und wir trugen die Kisten und, die Kleiderbügel hochhaltend, Kleid für Kleid in den Keller, in einen Raum, der als Abstellraum diente, eine Art Rumpelkammer, mit Haken an den Wänden für geräuchertes Fleisch, leere Haken jetzt. Anna hatte an ihnen Schnüre befestigt und sie von Wand zu Wand gezogen, Schnüre, an die sie ihre Kleider, eins nach dem anderen, jedes liebevoll ausstreichend, hängte. Bei der Unterwäsche zögerte sie, schließlich polsterte sie mit den nie getragenen Hemden und Hosen in Hellblau und Rosa die Hohlräume zwischen den Kaffeetassen, den Schüsseln und den Tellern aus. Als ich die Türe öffnete, um hinauszugehen, bewegten sich die Kleider über den Bruchstücken einer Badewanne, die unter dem Staub noch weiß schimmerten, bewegten sich die Kleider gespenstisch über einem alten Zimmerklosett mit rotsamtenem Deckel.

Später, als wir hinter den verdunkelten Fenstern saßen, die keinen Schimmer hinaus in die Finsternis und keinen Windhauch hereinließen, sprach man davon, was draußen vorgehen könne, jetzt, in diesem Augenblick, und sie sprachen von einer großen Wende und daß man sich diese Tage bewußt machen müsse, und in der Zukunft läge wieder Hoffnung, die Hoffnung. Und ich dachte, daß meine Guimimischlangen-zeit weit hinter mir liege, weiter als die Jahre, die inzwischen vergangen waren ... und sah zu den anderen hin ... da merkte ich, daß meine Mutter völlig mit der Sorge um meinen Vater beschäftigt war, mein Vater mit der Sorge um die nächste Ampulle, er bemühte sich gar nicht mehr, dies zu verheimlichen, und Anna mit der Sorge um ihre Kleider in der Abstellkammer.

Endlich waren die Amerikaner da und wir mußten für einige Zeit unser Haus verlassen. Als wir zurückkehren durften, fanden wir eine Art Gabentisch aufgebaut, mit dicken Schokoladetafeln, Corhed-beef-Do-sen, Kaffee, Kakao, Chesterflelds, und inmitten, nach Baukastensystem, einen Turm weißer Kekse.

Vielleicht hatten die Soldaten das alles für die Unordnung hinterlassen, die sie angerichtet hatten, oder für die Mitnahme des Buches „Mein Kampf“, das von meinem Vater in letzter Minute unter den Töpfen im Küchenschrank versteckt worden war.

Doch die sauber geschrubbten Töpfe Annas standen überall im Haus umher, mit Resten von Suppe und Fleisch und unseren Löffeln darin, und Gläser, wo man hinsah, zerbrochene und ganze, auch unsere zarten, geschonten, die Anna mit zitternden Händen abgewaschen hatte, weil sie so leicht zerbrachen, und die Teller aus der Vitrine, die nur meine Mutter hatte berühren dürfen, entdeckten wir schmutzig, verkrustet und angeschlagen auf Stühlen, die wir nie gesehen hatten, Stühlen aus den Nachbarhäusern vielleicht, an einer Stuhllehne hing noch ein Rosenkranz, und auf Boden, Teppich und Tischen lagen halbgerauchte Zigaretten. Ich sah, wie mein Vater sich bückte und schnell einige in seine Rocktasche steckte.

Und überall der Geruch von Alkohol aus noch halbvollen Gläsern, von Rauch, Speiseresten und Lederstiefeln.

Selbst in der Dachbodenkammer Annas war das Bett zerwühlt und der Inhalt eines zerbrochenen rohen Eies war weißgelb auf ihrem Nachttisch erstarrt.

Nachbarn erzählten uns, daß nach dem Auszug der Amerikaner das Haus völlig offen geblieben wäre, einen Tag und eine Nacht lang, und sie hätten Leute, Zivilisten, Einheimische aus und ein gehen gesehen.

Mein Vater zog sofort seine Lederhose an, es sollte aufgeräumt werden, aber Anna fehlte. Wir fanden sie schließlich im Keller, im Abstellraum, an einem Haken erhängt, mit einem Stück jener Wäscheleine, an der sie ihre Kleider befestigt hatte, die alle verschwunden waren.

Ihre goldgeränderten Tassen und Schüsseln lagen in Scherben zwischen dem Gerumpel. Über das Zimmerklosett war eine hellblaue Hose gespannt worden.

Es nahmen sehr viele an ihrem Begräbnis teil, einem kirchlichen Begräbnis, ohne Totenbildchen allerdings, denn einerseits war noch keine Druckerei in Betrieb, anderseits, wem sollte man diese Totenbildchen schicken, da Anna keine Angehörigen gehabt hatte?

Sie konnte eine wunderbare Apfeltörte backen, deren Rezept sie niemandem verriet. Ich habe jahrelang versucht, diese Torte; in genauer Erinnerung an ihren Geschmack, nachzufoacken, es ist mir nie gelungen. Anna hat auch in die* sem Kampf über mich gesiegt. ZEICHNUNG: SUSANNE THALER

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