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Neue Kurzprosa

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Fritz W.

entweder ein älterer Bruder rothaariger Stotterer, oder Irci Vor- oder Frühstadiuni der ihm selbst noch verborgenen Anomalie das Märchen von der Seejungfrau vom Mann ohne Schatten mit allen Konsequenzen erzählt bekommen — ansonsten die geistesgegenwärtige Reaktion bei der Entdeckung und der ökonomische Umgang auf Jahre unerklärlich.beim ersten Versuch (und zu diesem, als ob er es bereits ahnte, erst nach mehreren Ermunterungen bereit) auf einer der von den Schulkameraden auf Dezemberwegen auf dem Januarteich angelegten Schleifen oder beim Filzpantoffelwettbewerb über den Schulgang betroffen festgestellt, daß er ohne Anlauf nach höchstens zwei bis drei Schritten die Marke der Geübtesten spielend übertreffen könnte: reflexhaft der Versuchung widerstanden, unauffällig abgebremst.

nachher im Hausflur in der leeren Mittagskirche auf dem Dachboden und dem aufgeschotterten Platz hinterm Haus die Fähigkeit (ohne auch nur sein Schattenbild zu betrachten) heimlich erprobt — keine Freude daran, nur den Drang nach Gewißheit und die Hoffnung auf ein Versagen oder wenigstens ein Nachlassen durch ein 'mehrmaliges Hintereinander.

I bei allem Unbehagen über den ihm fast realisierbaren Wunschtraum zu schweben (nach unruhigen Träumen mit einem ängstlichen Blick auf das Bild des Vaters immer wieder mit dem Rücken zum Spiegel bloßfüßig überprüft, ob die Sohlen ohnehin noch den Boden berühren, mit Erleichterung am Morgen die Schiefer entfernt) halbwegs ausgesöhnt mit dem Schicksal, da ihm dieses manche Probleme der anderen Knaben erspart — niemals (nicht auf einem Felsblock dem Dach oder Damm) die Angst, es könnte ohne einleitende Schritte von selbst beginnen.

am Ende der Kindheit, als er, zum ersten Mal ganz Erinnerung an ein Mädchenlachen, die Brücke überquert, aufgeschreckt durch das Geschiebe der Wellen mit einem Blick an sich hinunter den Mechanismus völlig erfaßt: er sieht sich edlen, ohne daß die Füße sich bewegen, er sieht sich mit geschlossenen Beinen vorwärtsstreben — etwas vom Rhythmus von Schritten ist da, als ob nichtgetane Schritte sein Gleiten begleiteten wie der Ruderschlag das Boot, und kaum, daß er begreift, springt er — Sohlittschuhläufer vor einem Wasserloch — aus seiner Bewegung und geht nach einem raschen Blick, ob ihn jemand beobachtet hat, mit Anstrengung gegen das sich verflüchtigende Mädohenlachen weiter.

von da an auf der Straße nie mehr unbefangen — in Schuhen, deren gerade noch erträgliche Enge ihn an seine Pflicht gemahnt, mit großer Vorsicht und Verbissenheit Schritt nach Schritt gesetzt.

einige Male das blonde Mädchen begleitet: blickt er im Gehen lachend in ihr Gesicht, ein kleines Stolpern, weil die Füße, gut dressiert, sich überkreuzen; überglücklich, verlacht sie deshalb seine Ungeschicklichkeit, an einem Abend vor dem ersten Besuch unabstellbar das mühsam als große Schritte getarnte Gleiten, sein Vorsprung ihr eine unverzeihliche Ungeduld — von nun an allein In die Schule.

die Berufswahl eine Rücksicht auf das Gebrechen — dem leichtfertigen Wunsch, Briefträger zu werden, widerstanden, und aus Einsicht, die niedergehaltene Natur würde ihm, sollte er sich für eine Büroarbeit entscheiden, nach siebzehn Uhr erst recht zu schaffen machen, ein Kompromiß: Schankbursch in Zell am See. die Beine hinter der Theke verborgen, mit Leidenschaft zwischen den Gläsern Fässern und Flaschen unterwegs, dienstfertig und dankbar für die kleinste Bestellung, die Beschwingtheit, wenn die Gäste betrunken sind — sollten sie etwas bemerken, so nur ihren eigenen Zustand.

wenn der letzte Gast gegangen ist, das Geheimnis auf den Hotelgängen nach einem eigenen Kalender ausgelebt (im Schlafraum der Angstschweiß vor dem Koch trotz dessen tiefen Atemzügen): an Feiertagen über roten Teppichen, in der Fastenzeit mit dem Rosenkranz über kalten Fliesen und über schadhaftem Holz, wenn ein Laut aus einem Gästezimmer ihn seine Enthaltsamkeit vorzeitig beenden läßt dabei größere Skrupel als beim Beitrug in der Öffentlichkeit, denn dort alle Verschleierungen Notwehr —

endlich wird es Herbst: jede freie. Stunde mit der Köchin durch aufgehäuftes Laub, endlich Sommer: Hand in Hand mit der Kellnerin in den See hinausgewatet, endlich eine Woche Regen: von geringem Risiko dann die Wanderung durch hohe Wiesen, die Bewegung über die Wege zwischen den Getreidefeldern — sommers dienstlich gern in die De-pendance auf der Alm unterwegs — für den Fall, daß der Bauer oder ein Sommerfrischler in der Nähe ist, durch unregelmäßige Schulter- und Armbewegunigen neutralisiert, ein Anflug von Melancholie, wenn das Getreide reif wird, in der Dämmerung vor Angst so sicher, daß er das Gleiten über den Kies, ohne in ein Stottern zu verfallen, mit dem Geräusch auftretender Füße begleitet, in der Hauptsaison Volkstanzabende nicht ängstlich gemieden, aber trotz dem Gedränge der vielen Paare in Sorge um seinen Ruf.

wenn er für die erkrankte Serviererin im großen Speisesaal einspringen muß, schmerzende Schritte über das spiegelnde Parkett, durch die Tische in vollendete Bahnen gegliedert — das niedergehaltene Bedürfnis, einen Arzt oder Pfarrer aufzusuchen, tagsdarauf durch kühne Unternehmungen entschädigt: er fährt in flachen Mulden Schi und rettet sich aus der Bedrohung durch diplomierte Schilehrer mit zitternd vorgebrachten Hinweisen auf die Länge der Schier sein Körpergewicht und ein Spezialwachs, oder er wagt sich, wenn Sommer ist, aufs Wasser: den Fremden — ganz Bewunderung für den Sportler und seine Schleifen — entgeht genauso'wie dem Motorbootlenker, daß daa Schleppseil etwas durchhängt

und wenn ihn die so provozierte Angst zu überwältigen droht, setzt er sich aufs Fahrrad, dort versagt seine Kunst, oder studiert den Fahrplan der Bundesbahnen und reist in der Nacht auf den Schienen heimlich Zell-Bischofshofen retour.

eines Abends, als er von der Alm zurückkommt, die Frage einer Engländerin, das Fernglas noch in der Hand, ob er ein Gelübde abgelegt habe, als er an ihrem Tisch serviert, die Bemerkung eines Deutschen, es sei üblich gewesen, Zucbthausinsas-sen mit Eisenketten um Hände und Füße — mit einem Blick auf den Fernisehschirm kurz erwogen, als georgische Tänzerin einem Provinzvariete beizutreten, jedenfalls sofort gekündigt und tags darauf per Bahn davon in Richtung St. Pölten.

als er beim Umsteigen in Iinz Bahnsteig II die Rolltreppe hinunter- und dann Bahnsteig I wieder hinauffährt, von einem Polizisten angepfiffen — da sieht er, die Rolltreppe steht, noch bevor er an Flucht denkt, erblickt er auf dem Perron einen Rollstuhl, als mit lautem Signal ein Expreßzug in die Station stürzt.

Morgenspaziergang: vom Kurpark an einem vom Regen zerschlagenen und .mit Unkraut durchsetzten Haferfeld vorbei, vom Hügel gegenüber dieses auf einmal ein mottenzerfressener Filz, zur Bestätigung fliegt da und dort etwas Graues auf (im Hotel, einen Umweg um jeden Teppich) Frühstück: ein Stück Zucker in den Tee — die Zauberpille der Kindheit, die, je kleiner sie wird, desto mehr Netze, Fallschirme und Lampions auswirft und öffnet, über zwei Tische hinweg in ein Gespräch die Frage an den alten Arzt, was geschehen würde, wenn ein Kind eine Erbse aufschnupft.

Vormittagsspaziergang: an der Weggabelung ein wurmstichiger Kruzifixus — die vernichtende Betrachtung der eigenen Poren.

Miitjtagstisch: seinen Holzsessel, kaum daß er die Armlehnen betrachtet hat, weggestoßen und auf einen Stahlrohrsessel bestanden, die Insekteneinstiche auf dem Unterarm vom Arzt bagatellisiert.

Mittagsspaziergang: der mottenfressende Teppich verschwunden, aber in der Nähe eine Hausrudne, ihm ein durchlöchertes Tuch, aus dem ersten Stockwerk der Streit zwischen etwas wie Kiniderstimmen um Kirschen (im Hotel die die Ahnung bestätigende Übelkeit beim Kirschenkompott: der gequollene Kopf schon mit der ersten Frucht auf der Gabel).

Nachmittogsspazierganig: ganz ruhig beim Anblick der zerquetschten Ringelnatter, geballte Reiskörner im Darm, die Korrektur des Eindrucks, es seien Maden, als das Bild sich zu rühren beginnt, niedergehalten, aber im Klubzimmer unabwendbar, als seiner Tischnächbarin ein Stück Watte aus dem Ohr rutscht.

Abend, Hoteligarten: unmittelbar vor ihm eine Dame mit großem Rük-kendekollete, zwischen ihren Schultern ein kleiner Punkt, der sich etwas vergrößert und aus der Haut schiebt, er rafft sich auf zu diskreter Ritterlichkeit — greift heimlich hin und hält eine Raupe zwischen den Fingern, noch ein Kopf, reißt eine Raupe nach der anderen heraus, immer hastiger, immer mehr der Rük-ken von zylindrischen Kanälen zersiebt, nun schon verkrümmte Bewegunigen zwischen den Fingern, auch eine Puppe, dann ist es zu spät: alles schlüpft aus und öffnet die Flügel, aber da erstickt sie ahnungslos das Entsetzen mit dem hochgezogenen Pelz.

Hotelgang, Nacht: aus den Teppichen den Bodenfugen und Mauerritzen, unter dem Kasten hervor geordnete Züge von Maden Käfern Maden und Käfern quer über den Gang unter einer Tür hindurch, er stürzt ihnen nach —! vor einem Bett ein sternförmiges Zusammenlaufen der Straßen, in dicht geschlossenen Reihen das Bett hinauf und unter die Decke, oberhalb der ein Gesicht mit geöffnetem Mund ruhig schläft.

Hotel, Morgen: beim Aufstehen einen neuen Leberfleck, nun am linken Unterarm, entdeckt, ganz ruhig zum Frühstück und höflich die Anfrage beim Hoteldirektor, warum ein wenn auch nicht dringend benötigter Sessel ohne jede Begründung aus seinem Zimmer entfernt worden sei. vom korrekten Tonfall der Antwort beschwichtigt.

Hotel, Mittag: eine Pigmentverfärbung an der rechten Hand, mit Leukoplast zum Schweigen gebracht, irritiert den Portier benachrichtigt, er möge sein Personal et cetera, man habe ohne Hinterlassung eines Entschuldigungsschreibens auch seinen Kasten weggeschleppt, nach einer Unterbrechung des Mittagmahles — die Haare über das Muttermal gekämmt, nun oberhalb der rechten Braue aufgegangen — die sehr erregte Beschwerde beim Koch — den Leberfleck, am Hals während des Stiegenhinunter entstanden, schnell durch den hochgezogenen Kragen verdeckt —, während der Suppe seien auch Schreibtisch und Lampe verschwunden, und sofort ohne Rückkehr ins Zimmer — die Vergrößerung eines Muttermales auf dem Rücken deutlich genug zu spüren — beim Gärtner der Zomausbruch, nun sei auch sein Bett nicht mehr da, welches Zimmer man ihm nun zuzuweisen gedenke.

sobald die Vollendung des Domes selbst alten Leuten nahe Zukunft 'geworden ist, die ersten Zeichen: trotz dem Lärmen der Steinimetze eines Morgens ein mächtiger Adler mit gespreiteten Flügeln ein Avemaria lang über dem Westturm, die darauffolgende Nacht ein weißer Hirsch um die Hütten der Maurer; manche Kinder — solche, die den Namen eines bescheidenen Heiligen tragen, betagten Deuten geboren worden oder als Findelkinder ohne Abstammung sind — führen ihre Eltern täglich zur Kirche, zeigen auf einen Torbogen, auf eine Säule, zu einer Nische hinauf, nehmen dann im Schatten des Westchors auf Stunden eine ernste Haltung ein und verweigern zuhause außer einigen Löffeln Mehlbrei jede Nahrung.

einige Damen und Ritter unbekannter Herkunft (obwohl den Einwohnern immer deutlicher ist, als hätten sie manche von ihnen schon gesehen) beziehen die Hütte, aus der der Dombaumeister die erst roh be-hauenen Sandsteinblöcke entfernen und auf dem Bauplatz* ohne Sorge verfallen läßt.

als der letzte Ziegel auf das Dach gesetzt wird, ein Zug Lämmer von den Almen herbei, eine Prozession Krabben und Kröten aus dem Fluß, ein Jäger geleitet einen Hirsch und ein Wildschwein zur Rampe, zwei mal vier Adler setzen,.,unverletzte Hasen vor den Fenstern der Haupt-türme nieder und spreiten dann die Flügel in die vier Himmelsrichtungen, ein Hüterbub entaiimmit seinem Rucksack große Eier, legt sie in die Dachrinnen und schmückt dann die Fialen mit Alpenrosen, und die adelige Gesellschaft folgt der von ihm gelegten Spur; die Kinder knien vor den Eltern nieder, auf daß diese sie segnen, erklimmen dann die Leitern und lassen sich, sobald eine Dame oder ein Ritter von der Säule herab ihnen zugenickt hat, auf ihren Plätzen nieder.

sobald alles gruppiert ist, steigt der blinde Dombaumeister als letzter hinauf, öffnet den mittlerweile ausgeschlüpften Echsen den Rachen und richtet alle Gesichter in die Ewigkeit, als der Regen kommt, ein erinnerungsloses Lächeln um jeden Mund, als der Regen geht, die Farbe der Wangen und Rosen weggewaschen.

Text und Satzzeichen folgen genau dem Typoskript. Der Residenz Verlag. Salzburg, bringt demnächst einen neuen Band mit Erzählungen von Jutta Schütting.

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