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DER RICHTER

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Die alte Beerenfrau ging mit ihrer Nachricht nicht zur Polizei, denn damals, kurz vor dem zweiten großen Kriege, gingen die Rechtlichen nicht mehr zu denen, die das Recht hätten hüten sollen, aber nur der Gewalt dienten.

So trat sie, ohne anzuklopfen, in den kleinen, niedrigen Gerichtssaal, aus dem das Bild des Erlösers über dem Richtertisch längst verschwunden war, und sie blieb ein wenig an der Tür stehen und blickte auf die Bauernfrau im Zeugenstand, die in schwarze Seide gekleidet war und mit der erbitterten Wut der in ihrem Besitz Bedrohten sich über die „Ausgeschamtheit“ ihrer Magd verbreitete.

Der Oberamtsrichter hatte den Kopf in die linke Hand gestützt und blickte an der Redenden vorbei in den Hintergrund des Saales. Aber jedermann sah, daß er durch diesen Hintergrund bis in eine weite Ferne blickte, die keinem von ihnen zugänglich war oder jemals zugänglich sein würde. Ein schmaler Streifen der Augustsonne fiel über sein dunkles, an den Schläfen schon ergrautes Haar, und unter diesem goldnen Reif sah sein Gesicht traurig und wie verfallen aus.

Die Bauernfrau erhob ihre Stimme, weil sie sah, daß der Richter nicht zuhörte, und plötzlich, wie erweckt von dem schrillen Klang ihrer Schmähungen, wendete er seine Augen auf ihr gerötetes Gesicht und fragte leise:

„Wie viele Söhne haben Sie, Riederbäuerin?"

„Drei!“ erwiderte sie empört nach einer Pause, und sie habe es doch schon ein Dut- zend Mal gesagt, und der jüngste solle" es doch gewesen sein, von dem die „Ausgeschämte“ ihre Lügen erzähle.

„Drei sind viel“, sagte der Oberamtsrichter ebenso leise. „Drei Herzen und sechs Hände können viel Schmerz bereiten.“

Es war nun lautlos still im Saal, und selbst der Protokollführer hob seinen grauen Kopf und sah seinen Vorgesetzten mißbilligend an.

Die Riederbäuerin schluckte ein paarmal, wahrscheinlich aus Empörung, und man sah, wie unter dem seidenen Halstuch ihr Kropf sich bewegte. Aber bevor sie den Mund auftun konnte, ging die Beerenfrau auf den Richtertisch zu. Ihr Stock stieß hart auf die Fichtendielen, der Landjäger hob verweisend die Hand, aber sie achtete es nicht.

Sie beugte sich über den grünbespannten Tisch, der mit Akten bedeckt war, und wartete, bis der Richter seine Augen ihr zuwendet. Es geschah ohne Erstaunen oder Mißbilligung, und sie bemerkte mit einem scheuen Mitleid, daß er sie gar nicht erkannte, so oft sie in der Küche bei seiner toten Frau und den beiden Kindern gesessen hatte. So weit waren seine Gedanken von diesem Saal und seinem Amt entfernt.

„Er hegt an der Kiesgruben", sagte sie leise, „wo sie die Sonnwendfeuer brennen, und das Licht scheint in seine offenen Augen’ er ist schon kalt."

Die Augen des Richters versanken in ihrem Blick. Sie waren so müde, daß sie ohne sein Zutun wie in einen kühlen, dunklen Brunnen fielen, und die Beerenfrau merkte, daß es dem Richter schön war, in ihre Augen zu sehen, auch wenn er sie nicht erkannte. Ihr Herz begann zu klopfen, so sehr erfüllte sie das Mitleid, und leise und mahnend sagte sie:

„Herr Richter!“

Er erwachte. Sie sah es an seinem veränderten Blick, und einmal sah er sich wie ein heimlich Belauschter im schweigenden Saal um. „Was ist, Veronika?" fragte er leise. „Wer liegt?“

„Der Huber-Joseph", erwiderte sie ebenso leise. „Und sie haben ihn durchs Herz geschossen."

Eine Weile starrte der Richter sie an, und eine Weile schloß er die Augen, als könnte er im Dunklen den Sinn ihrer Worte besser finden. Und dann, als er es begriffen hatte, blieb sein Gesicht so still wie bisher. Aber er beugte sich über den Tisch und legte seine Hand auf die um den Stockgriff gefalteten alten Hände, als wäre es der Sohn der Beerenfrau, der dort im Walde mit offenen Augen liege. „Viele werden heute durchs Herz geschossen, Veronika", sagte er. „Und ich will nun tun, was nötig ist."

Sie blickte auf die schmale, feingliedrige Hand nieder, die so blaß unter dem Schwarz des Talars erschien, und es war ihr seltsam und feierlich, daß eine solche Hand auf ihren harten, groben Fingern lag. „Es war eine große Freundschaft früher zwischen Chri- stean und ihm“, sagte sie in ihrer Verwirrung. Und Christean war der Sohn des Richters und ein Jugendführer in dem kleinen Ort.

„Viele Freundschaften sind vergangen in dieser Zeit, Veronika“, erwiderte der Richter. „Die Zeit fragt nicht nach Menschenherzen, aber gehe nun, damit er seine Ruhe bekommt.“

Der Richter stand auf und unterbrach die Verhandlung. Während er zum Fernsprecher ging, bedachte er die Reihenfolge, in der er die Meldungen vornehmen sollte. Er tat es nach der alten Ordnung des Gesetzes, so daß zuerst der Staatsanwalt und zuletzt der Kreisleiter es erfuhr. „Huber?“ fragte die scharfe Stimme des Parteimannes. „Ist das nicht der Lump, den wir schon vor zwei Jahren fertiggemacht haben? Der Kommunist?"

Es handle sich nicht um eine Parteisache, gab die leise Stimme des Richters zur Antwort, sondern um einen Mord.

Also um das, was für diese Burschen ein tägliches Handwerk gewesen sei, erwiderte die Stimme, noch schärfer geworden.

Der Richter legte den Hörer in die Gabel und blickte noch eine Weile auf die Nummerscheibe nieder. Tote sollte man doch nicht Burschen nennen, dachte er noch. Dann ging er langsam in den Sitzungssaal zurück und beendete die Verhandlung.

Die Polizei hatte die Lichtung abgesperrt, und der Richter blieb an ihrem Rande stehen, wo die blauen Glockenblumen aufrecht und ungeknickt um den Toten standen. Der leise Mittagswind bewegte die Kelche, und es war dem Richter, als schwängen auch die Kirchenglocken in den Türmen der Gotteshäuser nicht anders hin und her. Der Tote lag auf dem Rücken, und die hohe Sonne fiel immer noch in seine offenen Augen. Der Richter hatte ihn von Kind auf gekannt. Er war der Sohn armer, sehr frommer Häusler, und sein tapferer, gerechter, fast wilder Sinn hatte ihn früh zu den radikalen Gemeinschaften des Volkes getrieben. Und daran war auch die Freundschaft mit Christean jäh zerbrochen. Später hatte man ihn trotz seiner Jugend verhaftet und für eine Weile verschleppt, und er war finster und schweigsam zurückgekehrt.

Auch jetzt noch, dachte der Richter, liege ein Zug einsamen, fast jähen Schmerzes in dem erloschenen Gesicht, als wäre der Tod aus dem Hinterhalt über ihn gekommen.

Er betete ein Vaterunser und sah die Reihe der Gesichter entlang, die sich auf der Lichtung versammelten, gleichgültige oder harte oder verschlossene Gesichter, wie die Zeit und ihr Schrecken sie langsam zugeschlossen hatten. Er sprach nicht, und man fragte ihn auch nicht. Und er würde wohl ohne ein Wort das Ganze überstanden haben, wenn nicht der Gerichtsarzt, ein junger Mann in schwarzer Uniform, mit der Stiefelspitze den linken Arm des Toten aufgehoben hätte, bevor er sich zur Untersuchung hinabbeugte.

„Lebt Ihre Mutter noch?" fragte der Richter mit seiner leisen Stimme, und nur an der Falte zwischen seinen Augenbrauen war zu erkennen, daß ihn etwas bewegte.

Der Arzt sah ihn befremdet an. „Nein", erwiderte er kalt. „Weshalb?"

„Weil ich gern wissen wollte", sagte der Richter, „ob es in Ihrer Familie Brauch ist, die Arme der Toten mit der Stiefelspitze aufzuheben."

Das Gesicht des Arztes war blaß geworden, aber er beherrschte sich, als er erwiderte: „Zwischen Müttern und Verbrechern gibt es Unterschiede bei uns!“

„Auch bei uns", sagte der Richter. „Aber der Tod löscht sie aus. Und ein Richter braucht viel Zeit, um einen Menschen einen Verbrecher Zu nennen. Selbst den, der hier getötet hat, nennt er nicht ohne weiteres so.“

„Ich habe nicht den gemeint, der getötet hat", erwiderte der Arzt ungeduldig und beugte sich dann widerwillig zu dem Toten.

Es war bald zu Ende, und eis blieb bei Vermutungen und dem lässigen Befehl an die örtlichen Behörden, Nachforschungen anzustellen.

Der Richter nickte, und während man den Toten auf eine Bahre legte, ging er langsam über die Lichtung zu dem steilen Abhang, der mit Brombeeren bewachsen war. Manche der grünen Früchte hatten schon einen rötlichen Hauch, und der Richter glitt in Gedanken verloren mit den Spitzen seiner Finger über die halbreifen Beeren. „Hier könnte er gut hinabgestiegen sein", dachte er, und wie er es dachte und auf die Ranken niederblickte, erblickte er das Weiße, das wie von einem Stiefelabsatz halb in die Erde gedrückt war. Aber er sah, daß es ein Briefumschlag war, und als er sich tiefer beugte, konnte er deutlich und ohne Mühe den Namen lesen. Vornamen und Zunamen, und ein grauer, schmutziger Knick lief zwischen beiden hin, als sollten sie getrennt sein, der der Taufe und der des Blutes. Es war kein Tau gefallen, kein Regen, und sie blickten ihn unbeweglich und unverlöscht aus dem grünen Moos an, die beiden Namen, die zusammen mit dem Toten hier gelegen hatten, eine lange Nacht hindurch, wie der Arzt es von dem Toten festgestellt hatte, und nur die Sterne hatten auf sie niedergeschienen, auf das weiße Gesicht und das weiße Blatt.

Ein wenig schwindelte es den Richter wohl von der Hitze, die aus dem Abhang aufstieg, denn er griff mit der rechten Hand in die Ranken, und die Hand wurde blutig von den scharfen Dornen.

So blieb er, die Augen auf den Marktflecken im Tal gerichtet, und erst als die Bahre und alle Amtspersonen im Gebüsch verschwunden waren, stieg auch der Richter langsam zu Tal, den steilen Hang hinunter.

Er ging langsam und gerade die heiße, schattenlose Straße bis zu seiner Dienstwohnung, und die kleinen Kaufleute und Gewerbetreibenden, die hie und da vor ihren Türen standen, grüßten ihn, manche mit dem alten Gruß, die meisten mit dem neuen, aber er neigte nur stumm die Stirn, und sie sahen ihm alle nach, manche bekümmert und manche mit einer leisen Schadenfreude. Und der Redakteur des Lokalblattes, der sich gern in einem „höheren Stil“ ausdrückte, sagte zu dem Druckereibesitzer: „Er sieht aus, als habe er eine Kugel in den Rücken bekommen.“

Vor den Fenstern des Speisezimmers standen noch voll belaubt die Linden, und ihr grünes Licht tat den Augen des Richters wohl. Barbara saß in ihrem Rollstuhl an der schmalen Seite des Tisches, und wie immer dachte der Richter, daß ein Haus wohlbehütet sei, in dem eine Heilige das Brot mit ihnen breche. Er küßte ihren dunklen Scheitel und fragte, ob Christean noch nicht da sei. Nein, er war noch nicht da. „Wahrscheinlich hat er eine Falme getroffen“, sagte sie mit ihrem gütigen Lächeln.

Dann küßte sie die Innenseite seines Handgelenks, wo die Adern sich bläulich unter der dünnen Haut verflochten. „Weshalb war es besondere schwer heute?" fragte sie leise. Seit sie ihre Füße nicht mehr bewegen konnte, war es, als gebe es kein Geheimnis mehr vor ihr.

„Sie haben einen durchs Herz geschossen", erwiderte der Richter.

Zwischen ihren Brauen erschien eine feine Falte des Schmerzes, und sie barg ihre Wange in der Hand des Vaters.

„Joseph", sagte der Richter nach einer Weile. „Der dir die Windmühlen geschnitzt hat. Und er pflegte zu sagen, daß sie das Abendrot für dich mahlten, zu einer goldenen Krone für deinen Scheitel. Er hatte eine schöne Sprache für seine einfache Herkunft.“ Sie weinte nicht. Sie sah nur gerade vor sich hin, auf die Phloxblüten in der Vase, wo eine Biene von Kelch zu Kelch summte.

„So war es wohl, als die Wölfe die Herren der Erde waren", sagte sie endlich. „Durch das Herz’ weshalb immer durch das Herz?“

„Weil es wohl Gott am nächsten ist“, erwiderte der Richter.

Dann kam Christean. Er war atemlos, und sein blondes Haar war an den Schläfen feucht. Er war so lustig, daß die Hände des Richters zitterten, mit denen er sein Mundtuch auseinanderfaltete. Und er konnte doch nicht unterlassen, seine Augen immer wieder auf dieses helle Gesicht zu wenden, das Gesicht eines Kindes, dem die Zeit eine Maske vorgebunden hatte, und die Maske war viel zu groß für das kindliche Gesicht.

Der Richter wartete daß der Name des Toten fiele.

Und dann, während Christean die Hand nach einer Birne ausstreckte, lächelte das junge Gesicht auf eine seltsame Weise, als ob die Maske lächle, und dann sagte er: „Das mit Joseph hast du wohl gehört?“

Es war so still, daß das Summen der Biene um die Phloxkelche den ganzen Raum wie eine tönende Glocke zu erfüllen schien, und Barbara schloß die Augen, nachdem sie das Gesicht ihres Bruders mit einem langen Blick umfangen hatte.

Bevor der Richter antwortete, streckte er die Hand aus und nahm von der Unterseite von Christeans Ärmel ein Blatt, das dort haftengeblieben war. Er wendete es zwischen den Fingern langsam hin und her, als betrachte er liebevoll das Vollkommene der Form, der Äderung, der Farbe. „Ein Brombeerblatt’“, sagte er dann leise, „und bald werden die Früchte reifen ..

Barbara öffnete die Augen und blickte auf das Blatt, und dann sahen sie beide, Vater und Tochter, wie auf einen geheimen Befehl Christean an, dessen Gesicht so weiß geworden war wie das Tuch, das er unter die Birne hielt.

„Ja“, fuhr der Richter wie in Gedanken verloren fort, „das habe ich natürlich gehört, es ist mein Amt, solche Dinge zuerst zu hören’ ich war auch dort und bin durch den Brombeerhang hinabgestiegen’“

„Vater’ lieber Vater’“, sagte Barbara, „Mir ist angst’“

Der Richter legte das Blatt auf seinen Tellerrand und nahm die durchsichtige Hand des Mädchens zwischen seine kalten Hände.

„Fürchte dich nicht, Kind", sagte er gütig. „Solange dein Herz schlägt, fürchte dich nicht.“

Danach wurde nicht mehr gesprochen.

Erst als sie aufstanden, Vater und Sohn, und der Richter die Hand auf den Krankenstuhl legte, um ihn auf die stille Terrasse zu schieben, sagte er im Hinausgehen: „Du brauchst nicht mehr zu suchen, lieber Sohn .., ich habe es gefunden, ich allein." Er wandte sich nicht zurück, um Christeans Gesicht zu sehen. Er beugte sich nur nieder, um die Räder behutsam über die Schwelle zu heben,

Der Richter hatte allein zu Abend gegessen, aber er hatte die Speisen kaum berührt. Barbara hatte sich früh niedergelegt, und Christean war seit der Mittagszeit außer dem Hause. Der Richter saß noch eine Weile an Barbaras Bett und hielt ihre rechte Hand zwischen seinen beiden Händen.

„Ach, Vater“, sagte sie schluchzend. „Mit seiner Hand ‘ mit einer Kinderhand ‘“

„Auch Hände haben sie verwandelt“, sagte er leise. „Kinderhände und Kinderaugen und Kinderherzen ‘ wir müssen sie nun noch fester halten als bisher’"

Dann hatte er ein Feuer im Kamin anzünden lassen, weil ihn fror. Und dann saß er davor die Hände um die Knie gefaltet, und wartete.

Als Christean kam, war nur noch das rötliche Licht der Flammen im dunklen Raum, Ein unruhiges Licht, aber es ging doch Wärme und Trost von ihm aus. Christean setzte sich so, daß die Hälfte seines Gesichtes im Schatten blieb, und er sah an dem Vater vorbei zur rückwärtigen Wand, wo das Bild der Mutter von dem roten Licht beglänzt wurde. „Es hat keinen Zweck, zu leugnen“, begann er endlich ohne Einleitung. „Und ich will es auch gar nicht leugnen.“

Er versuchte, ruhig und entschieden zu sprechen, aber seine Stimme war heiser, und sie schwankte wie vor aufsteigenden Tränen.

„Versuche, es ohne Stolz zu sagen, Chri- stean!“ sagte der Richter endlich leise. „Für uns liegt Schmerz im Bekennen, nicht Stolz.“ „Ich weiß, daß ihr im ‘Alten lebt“, fuhr Christean fort, „aber wir leben im Neuen, und ihr müßt endlich versuchen, es zu begreifen.“ „Was Abel widerfuhr, ist alt“, erwiderte der Richter, „uralt. Und auch das Zeichen ist nicht neu, das Kain trug ‘“

„Er war ein Feind und ein Verräter“, sagte Christean heftig. „Du weißt, daß der Krieg vor der Tür steht, und er wollte es mit den Feinden halten. Er hat es mir gesagt, gestern, dort. Er hat es mir ins Gesicht geschrien, und da’"

„Da dachtest du, ein verschlossener Mund sei ein stiller Mund. Aber du weißt nun, daß er nicht still ist, lieber Sohn. Er hat sich aufgetan. Schon die ganze Nacht war er aufgetan, unter den kalten Sternen ‘ und nun spricht er immer weiter, immer lauter. Eben jetzt in diesem Raum ‘ hörst du ihn nicht, lieber Sohn?“

Der Richter vernahm, daß Christean einmal aufstöhnte, und er sah, daß er einmal die Hände vor das weiße Gesicht schlug. Aber dann ließ er sie wieder sinken und blickte finster auf den Vater. „Ihr wollt uns zurückführen“, sagte er. „Wie mit einem bösen Zauber. In das Alte und die alten Märchen. Ihr wißt nichts von dem, was wir denken."

Der Richter neigte sich poch tiefer zum Feuer, und sein hageres Gesicht war nun ganz von den Flammen erhellt. „Ihr denkt nicht, lieber Sohn", sagte er müde. „Ihr werdet gedacht. Denken ist die Frucht eines langen Lebens.“

„Für uns denkt einer!“ erwiderte Christean kalt.

Der Richter nickte. „Als du ein Kind warst“, fuhr er fort, „hat die Mutter dich genährt. Der Arzt wollte es nicht. Sie war zart, und es kostete- sie fast das Leben. Aber sie wollte nicht, daß eine Fremde Speise für dich hätte. Wir haben uns immer von unserem eigenen Blut genährt. Und Blut war immer etwas Heiliges für uns’ auch für seine Mutter wird es etwas Heiliges gewesen sein ‘"

„Es gibt minderwertiges Blut“, erwiderte Christean finster.

„So sagen sie“, antwortete der Richter. „Und der Arzt hob ja auch den Arm des Toten mit der Stiefelspitze auf’ Ach, lieber Sohn, soll ich es nun sein, der mit dem Briefumschlag vor den Tisch der Richter tritt?“

Er hatte nun den Kopf in beide Hände gestützt und starrte in die langsam erlöschenden Flammen. Man konnte nicht erkennen, was in seinen Augen vorging.

Aber Christean war aufgesprungen und hatte sich vorgebeugt. „Vater!“ sagte er heiser. „Du’ du selbst willst gegen mich zeugen? Du selbst?“

Nun erst sah der Richter auf, so langsam, als müßte er sich aus den Binden eines Toten lösen. Er streckte die Hand aus und ließ sie langsam über die geballten Hände seines Kindes gleiten, zuerst über die rechte und ‘dann über die linke. „Es gibt nur zwei, Kind, die es können“, sagte er voller Liebe. „Der Vater oder der Sohn. Und meinst du nicht, daß es dem Vater zukomme, das Schwere zu tun, wenn der andere noch ein Kind ist?“

Es war nun totenstill im Raum, nur das ersterbende Feuer knisterte leise vor sich hin. Und sie wendeten beide das Gesicht zu dem, was das einzig "Lebendige in dieser Nacht schien, als könnten sie sich daran halten in diesem schweren Gespräch über Schuld und Tod. Die aufgeschichteten Scheite waren zusammengefallen und in glimmende Asche verwandelt, und nur dort, wo der Ansatz eines Astes das Holz verhärtet hatte, glühte es in einem bläulichen Licht und hatte die unverkennbare Form eines Menschengesichts. Sie war so deutlich, als hätte ein Maler sie mit einem phosphoreszierenden Licht auf einen dunklen Karton geworfen. Aber das Gesicht ruhte nicht still in sich wie eine Nachbildung der Natur; es war in der Wandlung begriffen, in einer Auflösung durch das Feuer, die wie Verfall und schnelle Verwesung erschien. Zuerst fiel das Kinn zusammen und -sank in die Asche, und die nicht mehr gestützten Lippen hingen schaurig wie über einem Abgrund. Dann zerbröckelten auch sie, und die Glut machte eine Gebärde des Lächelns daraus, eines furchtbaren, wesenlosen und gespenstischen Lächelns. Dann vergingen die Augen, so deutlich und sichtbar, daß man sie austropfen sah, und dann neigte sich die Stirn, eine hohe, schimmernde, wie von innen erleuchtete Stirn. Sie neigte sich wie über das Bodenlose, und in einem Aufsprühen winziger Funken stürzte sie in die Nacht. Es wurde dunkel im Raum, und nur ein mattes Nachleuchten ging von der Asche aus wie von einem Totenfeuer. Und die ganze Zeit stand ein singender, klagender Ton über der Glut, wie er manchmal über einem verschwelenden Feuer steht.

Sie starrten beide auf das Ende dieses Spiels der Flammen, und einer wußte vom anderen, daß er dasselbe gesehen hatte. Aber beide bewegte es auf eine verschiedene Weise. Denn während der Richter in seiner Haltung verharrte, vorgebeugt und die Hände zwischen den Knien gefaltet, hob Christean zum zweitenmal an diesem Abend die Hände vor sein Gesicht, und der Richter erbebte unter dem Laut der Qual, der von den jungen Lippen kam.

Vor den offenen Fenstern standen reglos die Linden, und nur in langen Abständen, wenn ein Hauch des Windes über die nächtliche Erde ging, flüsterten die Blätter einmal auf und verstummten. Sie hielten beide den Atem an. Es war, als spreche jemand aus der Ferne zu ihnen.

Dann klopfte es leise, kaum vernehmbar an die Wand des Kamins. Dort stand Barbaras Bett, und es war das Zeichen, daß sie etwas verlangte. Der Richter stand auf und kam nach einer Weile mit ihr wieder. Er hielt sie in den Armen, und ihr langes Nachtkleid zog sich wie ein Schleier hinter ihr her. Er bettete sie sorgsam in seinen Sessel und legte ein Tuch um ihre Schultern. „Mir war angst“, sagte sie leise.

Und dann hörten sie, daß Christean tief aufatmete, so tief wie aus einem tödlichen Traum. Sie konnten nicht sehen, ob er seine Hände bewegte oder seine Stellung veränderte, und es war ihnen, als ob sein ganzes Leben sich in diesem Atem offenbare. „Ich will es selbst tun, Vater“, sagte er. „Ich ganz allein!“

Sie lauschten eine Weile dem Nachklang dieser fremden heiseren Stimme, als ob sie sie niemals vernommen hätten in diesen langen Jahren der Kindheit und der Jugend. Als sei sie nicht ihres Blutes, sondern eines fremden, das wie durch einen Zufall in ihr Leben gekommen war. Aber die nun „Vater“ gesagt hatte, und es war, als sei dieses Wort zum erstenmal über die unsichtbaren Lippen gekommen, mit einer besonderen Bedeutung, die niemals vorher in diesem Wort gelegen hatte.

Dann griff der Richter langsam in seine Tasche, nahm den weißen Umschlag aus einer besonderen Hülle und reichte ihn über Barbara hinweg in die ausgestreckte Hand Chn- steans. „Du wirst nicht allein sein, lieber Sohn“, sagte er gütig. „Auch wenn ich nicht dabei bin.“

Er hob Barbara wieder aus dem tiefen Sessel, und’ als er sie langsam an Christean vorübertrug, dessen Gesicht wie das einer Maske in dem schwachen Mondlicht war, aufgehängt an eine dunkle Schattenwand, neigte sie sich in seinen Armen vor und schrieb zweimal das Zeichen des Kreuzes mit unendlicher Behutsamkeit über das Schattenbild des Bruders. Einmal über seine Stirn und dann über sein Herz. Christean empfing das Zeichen bewegungslos, und als der Richter wieder in den Raum zurückkehrte, war er nicht mehr da.

Er sah ihn erst am nächsten Vormittag in einer Verhandlungspause im Amtsgericht. Er stand in dem kleinen Dienstzimmer des Richters am Fenster, die Stirn an die Scheiben gelehnt, und wandte sich erst um, als er die Tür gehen hörte. Sein Gesicht war bleich und ver. stört, und der Schmelz der Jugend war wie mit einem harten Tuch abgewischt von ihm. Er streckte die Hand mit dem Briefumschlag aus. „Er wollte ihn nicht nehmen“, sagte er. „Er fragte, ob ich verrückt geworden sei, ich verdiente eine Belohnung und keine Strafe.

„Wer wollte ihn nicht nehmen?“ fragte der Richter.

„Der Kreisleiter."

Der Richter zog die Uhr aus der Tasche und blickte auf das Zifferblatt. „Ich würde nicht dorthin gegangen sein“, sagte er. „Dort ist kein Gericht. Du kannst nun in die Stadt zum Staatsanwalt. Ich will dir einen Brief mitgeben.“

Als er geschrieben und den Umschlag verschlossen hatte, legte er die Hand auf Chri- steans Schulter. „Ich weiß nicht, lieber Sohn, ob dort ein Gericht sein wird“, sagte er. „Aber du mußt es versuchen. Und wenn auch dort keines ist, werden wir zusammen versuchen, das letzte Gericht zu finden. Du wirst nicht allein sein, lieber Sohn ‘"

Er sah ihm nach, wie er langsam die Straße entlangging, den hellen Kopf erhoben wie sonst, aber in seinem Gang war etwas Starres, wie in dem Gang eines künstlichen Menschen, und der Richter bemerkte auch, daß er keinen Gruß erwiderte.

Der Richter war es nun, der die Stirn an die kühle Fensterscheibe lehnte und seinem Kinde nachblickte, solange er es sehen konnte. Und hinter der aufrechten, starren, wie blinden Gestalt sah er die tausend Formen der Erinnerung, immer kleiner werdend, je weiter die Jahre zurückgingen, bis der sich Entfernende an seiner, des Richters Hand, ein Kind war, in einen blauen Samtkittel gekleidet, und über dem Spitzenkragen schimmerte das goldene Haar wie eine ferne leuchtende Monstranz.

„Ein Mörder ‘“, sagte der Richter flüsternd vor sich hin. „Dort geht ein Mörder’ und als er ein Kind war, habe ich doch seine winzigen Hände geküßt’“

Dann ging er in den Sitzungssaal zurück, so gerade, wie Christean die Straße hinuntergegangen war, und den Parteien und Zeugen fiel nichts auf, als daß sein Gesicht so unveränderlich erschien wie ein wächsernes Gesicht, das dankbare Mütter an die Kirchenwand hängten zum Lobe der Jungfrau Maria.

Christean kam erst am Abend zurück, als sie im Dämmerlicht auf der Terrasse saßen. Ein fernes Wetter warf seinen bläulichen Glanz über den Garten, und die Lautsprecher schrien die Drohung des Krieges über die Dächer hinaus.

Christeans Gesicht war erschöpft, und wenn das Licht hinter den Wolken aufflammte und über seine Züge glitt, sahen sie aus wie die eines Sterbenden.

„Hilf mir, lieber Vater!“ sagte er endlich. Er hatte es seit Jahr und Tag nicht gesagt: „Lieber Vater!“, und es ergriff sie mehr als die Verstörung seiner Augen.

Es ergab sich, daß auch dieser Weg umsonst gewesen war. Der Staatsanwalt war schon unterrichtet gewesen. Er hatte den Brief des Richters in den Händen hin und her gewendet und gesagt, daß er angewiesen sei, das Verfahren nicht zu eröffnen. Die Zeiten seien nicht so, daß die Gerichte sich mit einer Marotte zu beschäftigen hätten.

„Eine Marotte’", wiederholte der Richter.

„Hat er so gesagt?“

„Ja, genau so. Ich habe geantwortet, daß das Recht bei uns keine Marotte sei."

„Hast du ,bei uns’ gesagt?" fragte der Richter nach einer Weile.

„Ja, Vater."

Ein Militärmarsch aus den Lautsprechern fuhr klirrend und dröhnend über die reglosen Lindenwipfel, und sie wendeten alle drei die blassen Gesichter dem Drohenden und Unaufhaltsamen entgegen.

„Komm nun, Christean", sagte der Richter, als der Marsch geendet hatte, und stand auf. „Wie es ein letztes Recht gibt, so gibt es auch ein letztes Gericht, vor dem Jüngsten Gericht noch, und dorthin wollen wir nun beide gehen.“

Sie gingen durch die belebten Straßen, die wie im Fieber zitterten, bis an den Rand des Ortes, und dann zwischen Feldern in die Nacht hinein. Der Weizen war noch nicht geschnitten und die gebeugten Halme glänzten wie bläulicher Stahl, wenn das Wetterleuchten darüberglitt. Ein schwerer, warmer Duft lag über dem stillen Weg.

Als der Richter in einen schmalen Wiesenpfad einbog, blieb Christian stehen. Sie hatten kein Wort miteinander gesprochen. „Vater“, sagte er, „wohin führst du mich?"

Der Richter ließ einmal mit einer scheuen Bewegung seine Hand über die Schulter des Sohnes gleiten. „Wußtest du nicht, lieber Sohn“, fragte er, „wo das letzte Gericht ist?" Dann gingen sie schweigend weiter.

Der Sarg stand in dem niedrigen Raum, der nur an Sonntagen benutzt wurde. Er war schon geschlossen, und zwei hohe gelbe Kerzen brannten an seinem Kopfende. Auf der Bank unter dem Fenster saßen die Eltern des Toten. In ihren schwarzen Gewändern, klein und gebeugt, sahen sie wie verflogene Vögel aus, die unter fremden Bäumen sich aneinandergedrückt hatten. Sie blickten einmal auf, als die angelehnte Tür sich bewegte, wie zwei Masken, die ein Luftzug berührt, und wendeten ihre Blicke dann wieder auf den Sarg zurück. Der Mann hielt die Hände um den Griff eines Stockes gelegt, die Frau die ihrigen um ein Gesangbuch gefaltet. An diesen Händen blieben nun die Blicke des Richtens haften.

Die Stimme der Lautsprecher drang nicht bis hieher, obwohl die kleinen Fenster geöffnet waren. Mitunter flackerten die Kerzen leise auf, und manchmal bewegte sich eine Strähne in dem weißen Haar der Sitzenden.

Eine Weile standen sie unbeweglich, der Richter und sein Sohn. Die Zeit glitt an ihnen vorbei, lautlos und ewig, zwischen weißen Masken, die an den dunklen Ufern hingen. Sie hörten ihre Herzen schlagen, aber nur die Flamme der Kerzen war das Lebendige in Sem schweigenden Raum. Alles andere glitt mit der Zeit dahin, unwiederbringlich und nicht zu halten. Sie selbst, die Eltern, der Sarg und der Tote.

Und dann, mit einer schrecklichen, jähen Bewegung trat Christean vor die regungslos Sitzenden und warf sich auf die Knie. Er stützte die Hände auf die weißen Dielen und beugte den Kopf über seine Hände. „Ich habe ihn getötet", flüsterte er. „Ich allein ..“

Keine Bitte um Vergebung, keine Träne, kein Aufschrei, aber der Richter schwankte unter der Last der kaum hörbaren Worte: „Ich allein ‘“

Der Mann und die Frau hatten einmal niedergeblickt und die Füße angezogen, als wollten sie dem Knienden Platz machen, und die Frau hatte die Hände mit dem Gesangbuch schnell aufgehoben, wie zur Abwehr oder zur Bannung eines bösen Geistes. Aber dann blickten sie über den gebeugten Scheitel hinweg wieder in die gelbe Flamme der Kerzen, so, als ob ein Buch von dem Wandbrett gefallen wäre und es würde immer noch Zeit sein, es aufzuheben, wenn der Sarg nicht mehr im Raume stände.

„Ich allein ‘", wiederholte der Kniende flüsternd. „Ich allein ‘“

Der Hauch der Worte erfüllte die Kammer. Er erfüllte sie so, daß er den Lebenden den Atem zu nehmen schien, und deshalb wohl stand der alte Mann endlich auf, stützte sich auf seinen Stock und blickte den Richter an, als läge niemand vor ihm auf den weißen Dielen. Es war kein Vorwurf in seinem Gesicht, nicht einmal eine tiefere Erschütterung als bisher, nichts als das unbewegt Gewordene eines langen Lebens, das auch dieses Flüstern empfing, wie es siebzig Jahre der Zeit empfangen hatte. „Der Herr Richter", sagte die leise, aus einer weiten Ferne kommende Stimme, „der Herr Richter möchte seinem Sohn sagen, daß er es nicht allein war. Gewalt kommt von Tausend oder Hundertäusend, und nur Buße kommt von einem Herzen, das allein ist. Und auch dies möchte der Herr Richter seinem Sohn sagen, daß kein Herz in dieser Kammer Schwereres zu tragen hat als des Herrn Richters Herz ‘"

Auch der leise Klang dieser Worte erfüllte den Raum. Er erfüllte ihn mit solcher Schwere, daß das Gesicht des Knienden sich fast bis zur Erde neigte. „Ich allein ‘“, flüsterte er noch einmal, und nun war es so, als spräche er es in die Erde hinein, dorthin, wo die Särge aller Getöteten ständen.

Der alte Mann hörte die Stimme nicht, denn er blickte noch immer den Richter an, unverwandt und unbeweglich, als hätte der Richter getötet und nicht der Kniende. Der Richter aber erwiderte seinen Blick nicht mehr. Seine Augen wären längst auf das erloschene Gesicht der Mutter gerichtet, mit einer so beschwörenden und verzweifelten Inbrunst, als wollten sie durch die starre Maske des Gesichtes bis in die dunkle Kammer des Herzens reichen, wo das alte, müde Blut ein- und ausging.

Ein Vogel rief über den nächtlichen Feldern, einer von denen, die unter den Sternen nach ihrer südlichen Heimat zogen. Es war ein ferner, verwehender Ruf, aber in der tödlichen Stille war er wie eine Menschenstimme, eine unbekannte, die den Mund öffnete, um zu den Sternen zu rufen. Es war nicht, als ob ein Vogel riefe, sondern als ob eine ferne Macht jemanden zu rufen bestimmt hätte, damit das geschehe, was dieserNacht vorbehalten und bestimmt gewesen war seit Anbeginn.

Und noch während der Ruf die Kammer erfüllte, ohne sie noch verlassen zu haben, wendete die alte Frau langsam, ganz langsam ihr erloschenes Gesicht von dem Schein der Kerzen in den Blick des Richters, und ohne ihn von dort zu wenden, löste sie eine ihrer alten, zitternden Hände von dem schwarzen Gesangbuch und ließ sie einmal ganz leise und behutsam über das helle Haar des zu ihren Füßen Knienden gleiten.

Und darauf faltete die Hand sich wieder um das Buch und vereinigte sich mit der anderen, die sich nicht gerührt hatte, so als gehörten sie gar nicht zusammen.

Dann stand Christean auf, und der Richter verließ mit ihm den Raum.

Als drei Tage später der Krieg begann, bald nach der Mitternachtsstunde, war Christean schon jenseits der Landesgrenze, auf einem schmalen, mondbeschienenen Weg, der nach Westen führte und über den Westen hinaus in die Buße, von der der alte Mann gesagt hatte, daß sie nur aus einem Herzen komme, das allein sei, und der Richter setzte an dem Tisch vor dem erloschenen Kamin seinen Namen unter das Schreiben, in dem er sein Amt niederlegte.

„Wo ein Richter sein soll“, stand am Ende des Schreibens, „muß ein Recht sein. Und wo ein Recht sein soll, muß gerichtet werden. Wo aber nicht gerichtet wird, ist auch kein Raum weder für ein Recht noch für einen Richter."dieser Frage zugewendet und durch’ gemeinnützige Wohnbau Vereinigungen Werksiedlungsbauten unter Inanspruchnahme verlorener Baukostenzuschüsse verschiedener Industriebetriebe errichtet. Zur Sicherung tragbarer Mieten sind solche gemeinnützige Wohnbauvereinigungen auf die Gewährung von Zinszuschüssen des Bundes- wohn- und Siedlungsfonds für den Dienst der beanspruchten Hypothekardarlehen angewiesen. Diese notwendige Förderung des Bundes ist aber nur unter der Voraussetzung möglich, daß die gemeinnützige Bauvereinigung Bauträger und Eigentümer der zu errichtenden Werksiedlung ist. Da das Eigentumsrecht nicht bei der Industrieunternehmung an einer solchen Werksiedlung liegt, bewirkt bei der bestehenden Rechtslage, daß die für derartige Bauten gewährten Kostenzuschüsse im Rahmen der steuerlichen Investitionsbegünstigung nach der gegenwärtigen Rechtslage als steuerfrei®. Rücklagen nicht berücksichtigt werden können. So wird die bestehende Steuergesetzgebung zu einer sehr empfindlichen Hemmung der Wohnbauförderüng. Es ist die Absonderlichkeit geschaffen, daß Industrieunternehmungen für die Errichtung von Werksiedjungen die Förderung durch den Bundeswohn- und Siedlungsfonds versagt bleibt und daß andererseits für die Gewährung verlorener Baukostenzuschüsse an eine gemeinnützige Wohnbauvereinigung eine steuerliche Begünstigung nicht in Anspruch genommen werden kann. Dieser Zustand ist auf eine mangelnde Abstimmung der Steuergesetze auf die für den Bundeswohn- und Siedlungsfonds maßgebenden Vorschriften zurückzuführen.

Die Wirkung ist eine unbillige Härte, die letzten Endes die Gesamtwirtschaft belastet und damit auch das Steueraufkommen nachteilig beeinflussen muß. Die wohnungsmäßige Versorgung der Belegschaft ist für zahlreiche Industrien eine Lebensfrage, so daß sich manche Betriebe zur Wahrung der mit der bestehenden Investitionsbegünstigung verbundenen Vorteile zur Errichtung eigener Werksiedlungen unter Verzicht auf eine Förderung durch den Bundeswohnungssiedlungsfonds entschließen werden. Gerade dieser Ausweg ist aber für die österreichische Wirtschaft nachteilig, weil dadurch nicht unerhebliche Mittel dem so notwendigen Ausbau der maschinellen Anlagen zur Erhöhung der heimischen Produktionskapazität entzogen werden. Auch bedeutet ein Entfall des Zinsenzuschusses des Bundeswohn- und Siedlungsfonds eine Erhöhung der zu Selbstkosten ermittelten Mieten und damit bei Gewährung von Mietzinsbeihilfen an die Arbeiter eine Steigerung des Regiefaktors, die letzten Endes im Preis der hergestellten Erzeugnisse berücksichtigt werden muß. Bilden diese Wirkungen ein schweres Hemmnis für unsere wirtschaftliche Entwicklung und die Hebung unserer Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt, so ist gleichzeitig der Ausschluß einer Investitionsbegünstigung für verlorene Baukostenzuschüsse für die Staatsfinanzen selbst nachteilig. Denn für einen Baukostenzuschuß kann klarerweise nur eine weitaus kleinere steuerliche Begünstigung beansprucht werden als für die Bereitstellung der gesamten Baukosten aus den Eigenmitteln eines Industriebetriebes. Es wäre deshalb sogar im Interesse der Finanzverwaltung gelegen, solche verlorene Baukostenzuschüsse unter den Begriff der steuerbegünstigten Investitionstätigkeit aufzunehmen, da die Industrie für die Errichtung notwendiger Werksiedlungen auf eigene Kosten eine weitaus größere Steuerbegünstigung beanspruchen wird, die das Steueraufkommen zwangsläufig verringern muß. Ein verständnisvolles Nachgeben in dieser Frage wäre eine wertvolle Förderung der heimischen Wirtschaft und zugleich eine Erhöhung des Abgabenertrages.

Abgesehen von diesen Erwägungen darf nicht außer Betracht gelassen werden, daß durch die Erbauung von Werksiedlungen eine fühlbare Entlastung des Wohnungsmarktes eintreten wird. Dabei kann man nicht übersehen, daß die Bauwirtschaft eine Schlüsselindustrie darstellt, deren Belebung einen wertvollen Wirtschaftsimpuls auslöst und aus dem schaffenden Baugewerbe zusätzliche Steuereinnahmen erschließt. Die angespannte Lage des Staatshaushalts läßt eine vorsichtige Führung des Finanzressorts gewiß verständlich erscheinen, diese darf aber nicht so weit gehen, daß dadurch eine gesunde Wirt- sc h a f t s e n t w i c k 1 u n g gehemmt w i r d und sogar Zum Schaden der Finanzverwaltung selbst zusätzliche Abgabenerträge ausgeschaltet werden. Vor allem bildet die Lösung der Wohnungsfrage eine soziale Aufgabe ersten Ranges, die nur durch ein verständnisvolles Zusammenwirken aller beteiligten Ressortstellen gemeistert werden kann.

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