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Die alte Uhr

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Es ist schon gut eine Zeit her, und am Bergfriedhof von B. haben die rauhen Stürme Name und Todestag des Jakob B. vielleicht gar schon vom rohgezimmerten Grabkreuz weggewischt. Aber ich sehe ihn immer noch dort hocken, den alten Joggei, wo er bis in seine hohen Jahre täglich seinen Feierabend hielt. In der großen braungetäfelten Bauernstube, am Auslauf der rundum führenden Bank, knapp an der Tür, haargenau unter der meeralten knarrenden Uhr. Hier döste er Arend für Abend oft stundenlang vor sich hin, die knochigen Beine schwer übereinandergeschlagen und zog, bald den einen, bald den anderen Ellbogen hart aufs Knie gestemmt, bedächtig an seiner pechverschmierten Holzpfeife, auch wenn sie längst ausgegangen war.

An den schier endlos langen Winterabenden mochte die Stube reich bevölkert gewesen sein, der mächtige Ofen umlagert, die Weiber am Spinnrad und die Kinder auf wackeligen Hockerin ihr ABC buchstabierend. Aber des Sommers, so die liebe Sonne noch wohl eine Weile in die feierabendliche Stille hereingrüßte und die Pelargonien und Fuchsien und der stattliche Christusdorn an den niedlichen Fenstern ihr krauses Schattenspiel länger und länger hinschoben über den blanken Fußboden, des Sommers Abende sahen den Joggei durchwegs allein in der Stube.

Daß er es nicht vorzog, in frischer Luft sich der wohltuenden Ruhe hinzugeben, draußen in der offenen, so anheimelnd einladenden Laube oder auf der Bank neben der Haustür? Gerade hier an diesem Hof! Der, wie keiner weitum, sich rühmen darf, selbstherrlich wie ein König, frei und stolz in den Bergen zu stehen! Auf einsamer Höhe, die Grenzen des Besitztums weit, weit in die Gegend gesteckt. Im Rücken das Schweigen des eigenen Hochwalds und der steinerne, himmelanragende Schild einer unbezwinglichen Felswand. Und dem Hof breit und behäbig vorgelagert, ebenes Feld, zu beiden Seiten die Bergwiesen, die steil“ abfallen ins Geschröf, in dessen Tiefen die Wildwasser aus zwei Schluchten zornig ineinanderstürzen. Und dem Süden zu, weit und tief: Berge und Berge, Kette hinter Kette. Selbst für das verwöhnte Auge ein überwältigendes Schauspiel, ob in die Glut der scheidenden Sonne getaucht, ob von Nebeln umflattert, ob diese Gebirgs-herrlichkeit im Gewittersturm steht oder in der heiligen Ruhe der anbrechenden Nacht.

War es bei einem Joggei, der mit der wundersamen Gottesnatur doch von Kindes-, tagen an auf du und du stand, nicht mehr als wunderlich, daß es ihn nicht ins Freie zog, um all die Köstlichkeiten des sinkenden Tages noch geruhsam aufzutrinken, ehe er sich in seiner Junggesellenkammer zum Schlafen niederlegte? Oft und oft lag mir diese Frage auf den Lippen. Aber eine ganz eigene Scheu hielt mich ab, sie laut werden zu lassen. War doch der gute Mann die Einsilbigkeit selbst, ein beharrlicher Schwelger, der nie herwärts zu reden anhub, ja, auch auf eine Frage nur zögernd und karg Antwort gab. Zumal vor einem Sommergast, in dem er wohl immer nur den Fremden sah, und mochte man ihm ein noch so wohlwollendes Herz entgegenhalten.

So unterblieb die Frage. Doch um so mehr lockte es einen, über das seltsame Rätsel nachzusinnen, an Abenden, die mehr oder weniger gleich schweigsam mit dem Alten zu verbringen waren, wenn es draußen ungemütlich wurde, der Jochwind gar zu scharf ums Haus pfiff. Ob ich dem Geheimnis auf die richtige Fährte kam? Vielleicht. Ich kann es mir bis heute nicht anders erklären: nur die alte Uhr mag es dem Joggei angetan haben, die Schwarz-wälderin, die mit ihrem zittrigen Pendelfinger ihm in den grauen Schopf gezupft hätte, wäre es ihm einmal eingefallen, sich behaglich zurückzulehnen. Ob der Einsame und Versonnene am eintönigen Sing-Sang der Altvertrauten, an dem gesetzmäßig ewig gleich ruhigen Schlag und Gang, an ihrer niemand enttäuschenden Verläßlich lichkeit nicht etwas Verwandtes, Nahverwandtes, mit seinem eigenen Wesen und Leben entdeckt und heimlich-selig auf der Friedensinsel seines lauteren und tiefen Gemüts behütet haben mag?

Er, einer von der unübersehbaren Heer-sdiar der sogenannten kleinen Leute, deren Tun und Leben zu normalen Zeitläuften in festgefügten Bahnen verläuft, auf den eisernen Schienen täglich treu erfüllter Pflicht, mit dem einzigen Zug, die Notdurft des Lebens zu meistern, froh um ein bißchen Sonne und stilles Glück, mit kurzgesteckten, tagnahen Zielen, dankbar für jeden, noch so spärlichen Erfolg. Ja, der alte Joggei zählte zu diesen kleinen Leuten, die ohne Aufhebens ihre schmale Aufgabe im Weltplane Gottes zu erfüllen bemüht oder — gezwungen sind. Kleine Leute? In den Augen der Welt, ja, aber vor Dem, der mit ganz anderer Elle mißt, vor Gott, mögen sie ungleich höher gewertet werden als die Mehrzahl der vermeintlich Großen.

Im Leben dieses „kleinen Mannes“ gab es keine merklichen Sprünge, weder über Stock und Stein noch solche an der äußeren oder inneren Schale, die alles eher als glatt, die rauh, aber wetterfest war, und einen guten Kern umschloß, einen gesunden und herzensgütigen. Und ging sein ganzes Leben nicht in der ruhigen Gangart und Gesetzmäßigkeit eines Uhrwerks? Fürwahr, gerade sein Leben war von frühen Tagen an in eherne Klammern gezwängt, in ein Gesetz, das seit eh und je ins Mauer- und Holzwerk unserer alten Bauernhöfe gehämmert ist: daß Hof und Besitz der älteste Sohn erbt. Joggei war der jüngere und verblieb als Bruder und Knecht. Sah neidlos zu, wie der junge Bauer ein tüchtiges Weib heimholte, wie die Famalie wuchs von Jahr zu Jahr. Aber ehe noch der älteste Bub den Pflug führen konnte, traf den Vater auf der Jagd das tödliche Blei. Wie ein Mann sprang die Wittib in die Bresche und führte mit starker Hand Wirtschaft und häusliche Zucht. Die Buben wurden zu Männern und ersetzten den Joggei vollends. Der verdingte sich als Holzknecht und blieb bei dem Handwerk bis ans Ende. Vorarbeiter wurde er mit den Jahren, die einzige Erhöhung, auf die er in seinem ganzen Leben rechnen konnte.

Nur zweimal gab es an dem Arbeitsuhrwerk eine nennenswerte Störung. Das eine Mal, als Joggei zu des Kaisers Fahnen gerufen wurde, in den Krieg zog, in Gefangenschaft geriet und irgendwo in Rußland — den langen Namen der Ortschaft konnte er sich unmöglich merken — als Bäckergehilfe Verwendung fand. Aber, war es überhaupt eine Störung? Wohl eher eine Umschaltung auf ein anderes Räderwerk. Auf die hartgezahnte und durchweg, r-i*r minder eintönige Ordnung des Kasernenlebens und im Fron der Front, mitgerissen von der alle erfassenden Walze des schicksalhaften Kriegsgeschehens.

Und die zweite Störung? Die war nicht mehr behebbar. Die setzte ein mit dem Tag, mit dem Morgen, da sich der hohe Siebziger erstmals im Leben nicht mehr zur Arbeit erheben konnte, ans Bett gefesselt blieb und untätig nur mehr dem Sterben \ entgegenschauen konnte.

Uhrwerk eines Lebens! Was Wunder, daß es den Joggei wie mit geheimen Ketten hingezogen und festgehalten haben mag bei der einen ebenso Einsamen, bei der guten alten Schwarzwälderin, die unter engverwandten und unveränderbaren Gesetzen eines und desselben Meisters ging, in gleichbleibend ruhigem Herzschlag, in derselben selbstlosen Treue, unaufdringlich und doch auch selbstverständlich, ja, auch etwas wertvoll den Menschen dienend.

Wiesen dem einfachen Mann die äußeren Umstände eine fast schnurgerade Bahn — der allerhöchste Gesetzgeber für die innersten Bezirke des Lebens, der in jede Menschenbrust die Unruhe nach dem Ewigen einsetzt und in Schwingung hält, mochte an dem Joggei eine besondere Freude haben. Ging doch sein Uhrwerk auch in höherer Ebene verläßlich in Ordnung. Hielt der Zeiger auf Sonntag, heiligte er ihn zeit •eines Lebens als den Tag des Herrn. Und mochte es Schneemassen herwerfen, so hoch es wollte, wer sich die Mühe und Plage antat, immer als erster, dem ganzen Christenvolk des Hofes voran, nicht selten bis über die Hüften im Schnee, die Spur zu waten bis zu der, gut eine Wegstunde entfernten Pfarrkirche — der Mann hieß Joggei. Und festverankert im Brauchtum seiner Altvordern, standen und blieben ihm im Gang des Kirchenjahres die heiligen Tage seines Sakramentsempfangs. Die vielen tausend Arbeitswochen seines Lebens hat der große Schweiger als treuer Werkmann Gottes erfüllt, Tag und Tagewerk mit Weihbronn segnend und beschließend in derselben Ehrfurcht.

Seine Welt war der Wald. Mit seinem Raunen und Rauschen, seinem Werden und Wachsen, mit dem Auf und Ab der Jahreszeiten, mit dem wohlabgewogenen Wechsel im Farbton alles Schönen, der Wald mit all seiner verhaltenen Kraft und dem un-ausschöpfbaren Reichtum. Ein heimliches Königreich, in dem der Friede daheim war. Und das ehrsame- Handwerk als Holzfäller machte den besinnlichen Mann hellsichtig für die unsdieinbarsten Kleindinge im Haushalt der Natur und verwies ihn Schritt um Schritt auf die hohe Wohltat von Ordnung und Gesetz. Ob sie ihm entgegentrat im winzigen Tun des kriechenden Käfers, in der Pünktlichkeit des balzenden Auerhahns oder im erhabenen Wuchs der säulenschlanken Tanne. Und so oft einer der mühsam zu Tod gefällten Riesen des Waldes krachend hinstürzte und im Fallen noch den und jenen mitriß, so oft sich Joggei zu knapper Rast neben dem kurzgehaltenen Strunk ins weiche Waldmoos niederließ, mag der immer nach Innen Gekehrte an der hellblinkenden Schnittfläche ahnungsvoll des ewigen Schöpfers eigene Fingerspur bewundert haben, in den Runen der Jahresringe. Und was noch jeder gutdirist-liche Holzfäller im Lande tat, versäumte auch ein Joggei nie: mitten ins Mark des Strunkes ein Kreuz einzuhauen, scharf und sauber. Dann ging es mit schwingender Axt ans nächste Opfer, das der Wald unabdingbar den Menschen zu leisten hat. Für einen Mann seines Schlages und Berufes wurde es zum tagtäglich geschauten Geheimnis, daß bei all dem saft- und kraftstrotzenden, überreichen Leben des Waldes doch einer einherschreitet, der fällt, was zu fällen ist.

Das macht reif und klar zu sehr ernsten Gedanken: daß auch auf den Starken und Kerngesunden ein Stärkerer zutritt und die Axt an den Stamm legt, wenn's Zeit ist. Und diese Zeit witterte Joggei mit dem Feingefühl des Waldmenschen, als ganz unvermutet der Tag da war, an dem es auch für ihn Absdiied nehmen hieß von Handwerkzeug, Beruf und Leben. Hielt er bis in sein hohes Alter eisern an Gesetz und Ordnung fest — als es dem Ende zuging, offenbarte sich dieser schöne männliche Zug seines Wesens in fast ergreifender Verklärung. Wie er mit schwerfälliger, des Schreibens ungeübter Hand in klobiger Schrift sein Testament verfaßte, wie der rechtschaffene Junggeselle sein sorgsam gespartes Geld und die wenige Habe genau und gerecht denen zuschrieb, die ihm auf Gottes weiter Erde allein nahestanden, den Kindern und Enkelskindern seines Bruders und dem übrigen Hausgesinde. Dem letzten, dem jungen Roßknecht, vermachte er die Hirschhornknöpfe und den Gemsbart.

Wird auf so alten. Höfen auch von Liebe kaum je gesprochen, nicht einmal zwischen Mann und Weib in den frühen Tagen der Ehe, geht man mit diesem Wort und jedem Ausdruck der innersten Gefühle auch noch so sparsam um, wie mit den ehrlich und hart erworbenen Kreuzern — gewertet wird der Herz- und Handschlag, die einfache Tat. So hat auch das Herz des Hofes wortlos an Joggeis Krankenbett gewacht und gesorgt und man versuchte gar noch das Letzte, um sein Leben noch eine Weile zu erhalten, man brachte ihn in das weitentlegene Bezirksspital. Und der Kranke ließ es ohne Widerrede geschehen. Noch war ja seine letzte Kraft und sein Lebensmut nicht gebrochen. Aber, gelang es auch der Kunst der Ärzte, ihn über die Operation an Magenkrebs hinwegzuretten, fern von Hof und Wald verdorrten doch zusehends die Wurzeln von dieses Mannes festgefügtem Leben. Heim wollte er noch der gute Joggei, nur heim. Nur nicht unter fremden Menschen sterben müssen!

Und gerne holte man ihn ab. Bis zur großen Talgemeinde fuhr ihn das Rettungsauto, dort wurde er auf den Leiterwagen gehoben und sorgsam auf Stroh gebettet. Die zwei Haflinger des Hofes griffen aus und zogen mit dem Todgeweihten talein und bergauf.

„Heimat“ — das einzige Wort in hochdeutscher Sprache, das ich aus Joggeis Mund in zwei Sommern vernahm —, „Heimat!“ habe er still vor sich hingesagt, so erzählte er mir, als er von russischer Kriegsgefangenschaft ins Tirolerland heimkehrend erstmalig wieder den Berg vor sich gesehen habe, der zu seiner Gemeinde gehört wie der Kirchturm. „Heimat!“ Gruß und Wortmag wohl auch in jener Stunde in derselben

Wärme seiner Brüst entstiegen sein, als es im Schatten jenes Berges heimzu ging, zum letztenmal- Das Ziel war noch bei weitem nicht erreicht, man befand sich erst auf halbem Weg, da hörte das abgearbeitete und erschöpfte Herz auf, zu schlagen; nahm der Herr über Leben und Tod die wohlvorbereitete Seele dieses goldtreuen Mannes hinweg in eine bessere Welt.

Bäuerin und Roßbub. die vorn auf dem Wagenbrett saßen und wohl immer wieder nach dem Kranken sahen, glaubten, er schlafe, es sei besser, ihn nicht durch Anruf zu stören. So fuhren sie bis nahe an den Hof ahnungslos einen Toten. Dort wurde er in der Stube aufgebahrt und von weither kamen die Leute, um beTend von ihm Abschied zu nehmen. Aber des späten Abends wurde es stille in fler Stube, in der ein Lichtleiri weiterbrannte, indes der Hof zur Ruhe ging.

Draußen im nahen Hochwald rauschte es in den urmächtigen Buchen und das Tosen der Wildbäche drang durch die Stille der Sommernacht, wie immer und je, wenn über Zinnen und Zacken der Bergkronen friedvoll aufzieht das leuchtende Heer der Sterne.

In den drei Nächten, die der ehrwürdige Hof seinem treuen Sohn und Knecht noch Obdach gewähren konnte, und letzte Rast, war der Joggei wieder, wie an so vielen, ungezählten Abenden, allein mit der alten Uhr. Mutterseelenallein mit der guten Schwarzwälderin, die ihm nun die Totenwache hielt und, unverändert ruhigen Atems, in ihrer eigenen Art ein monotones Totenlied sang.

Wie eine herzliche Schwester dem entschlafenen Bruder...

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