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Der Hirt in der Porsalenga

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Porsalenga, so heißt ein hoher Wald, der mit schwarzgrünen, weitastigen Tannen aus den saftigen Weiden des Bergtals aufsteigt und weit droben mit den letzten grauen, vermoosten und zerrissenen Wetterstämmen im Moränensdiutt und Geröll wilder, unfruchtbarer Kälkberge wurzelt. Manchmal taucht dieses Tal aus dem Schatten der Erinnerung auf um einer Begegnung willen, die ich nicht vergessen kann. Es war am Tage Maria Geburt. Am Land war es noch Sommer und die Männer und Weiber, die zur Muttergottes in Tschagguns wallfahrte-ten, hatten Tschopen und Schlutte ausgezogen in der warmen Sonne. In den Bergen ist es schon Herbst um diese Zeit und die Alpleute sind keinen Abend sicher, daß sie beim Erwachen nicht das ganze Tal in Schnee gehüllt finden.

Es waren die letzten Ferientage und ich nahm Abschied von meinem lieben Tal. Ich lag hoch im Hang zwischen harzig riechenden Zunderbüschen und Alpenrosen. Da mischte sich in die tonlose Windmusik ein farbiger Klang. Er kam von den Matten her, die sich da und dort in den dunklen Tannenwald sdinitten, und näherte sich rasch. Im Herbst, wenn die Weide spärlich geworden ist, bewegt sich die Herde schneller von Hang zu Hang als im fetten Sommer. Jetzt traten die ersten Kühe aus dem Wald und bald erfüllte das Geläut von mehr als zweihundert Tieren die weite Liditung. Der Wind trug das Klöpfeln und Schellen und Singen hin und wider, dämpfte es, daß es klang wie geisterhaftes Orgelspiel aus dem Berg, oder ließ es anschwellen, bis es brauste und dröhnte wie Nachtvolkmusik.

Mit langsamen Sdiritten stieg der Hirt am Hang empor. Man hörte in Abständen sein gedehntes Hoihoiho. Kein Schelten und Hetzen war in der Stimme, es war ein freundliches Mahnen, ein begütigender Zuruf. Wer mochte in diesem Jahre Hirt sein in dieser Alpe?

Ein sandfarbiger Rundhut aus grobem Filz verbarg das Gesicht des Mannes. Ich schickte einen lauten Juhschrei hinab. Da wandte er sich und ich erkannte in der hellen Sonne einen schwarzen Schnurrbart, der den Mund verbarg, uad hagere Züge, in denen große, dunkle Augen brannten.

„Grüß Gott, Feschner!“ rief ich und nannte seinen Hausnamen. Daran mochte er merken, daß ich ein Bekannter sei.

„Grüß Gott auch!“ erwiderte er zögernd und prüfte mein Gesicht. NadT einer Weile fragte er lebhafter: „Gehörst du nicht dem Bastian Schoder? Bist du nidit derselb, der mir die Aufnahmen gegeben hat ... damals ...?“

Idi nickte. „Damals“ in den ersten Morgenstunden hatte idi am Ort des Unglücks zwei Aufnahmen gemacht. Einige Wochen später erfuhr der Feschner davon und bat mich um Abzüge, um sie“ dem Gesuch beizufügen, das er auf Rat des Vorstehers an die Regierung richtete, um Hilfe zu erbitten für seine Wirtschaft, die die Katastrophe vernichtet hatte.

„Hat es genützt?“ fragte ich und bereute im gleichen Augenblick die Worte, da ich ihn ja als dürftig gekleideten, besitzlosen Hirten vor mir sah.

Sein Gesicht verriet keine Regung, und mit der geduldigen Stimme eines Lehrers, der einem Kinde eine Aufgabe erklärt, nahm er meine Worte auf: „Genützt und nicht genützt. Wie man es nimmt. Ich meine aber: genützt. Ich bin der reichste Mann.“

Verwundert schaute ich auf: „Dann hast du wieder zu handeln und zu spekulieren angefingen nach dem Unglück? Man hat nie etwas gehört davon.“

„Nein, das habe ich nicht getan. Idi habe seither nie mehr besessen als meine Liegerstatt und genug zu essen und Gewand ..., aber das ist viel mehr!“

Ich schwieg und wagte das Gespräch nicht wieder aufzunehmen. Das große Unglück mußte seinen Geist verwirrt haben.

Nach einer langen Pause, in der er mich mit einem überlegenen, fast spöttischen Blick im Auge behielt, fuhr er ruhig fort: „Mein Vater, tröste ihn Gott, sagte oft am Feierabend, wenn wir vor der Tür auf der Hausbank saßen: Drei sind alle guten Dinge ... Morgen, Mittag und Abend.“

Der Hirte blickte um sich, ob kein Tier der Herde zu hoch grase, dann ließ er sich nieder, nahm einen Halm zwisdien die Lippen und fuhr fort: „Wir beide sind, glaube ich, in den Jahren so weit auseinander, daß du auf die Welt kamst, als ich die Schule verließ. Das war das Jahr, da mir die Vögel fortgeflogen sind ...“

„Man hat sie dir heimlich aus der Steige gelassen. Ich habe es einmal erzählen gehört. Ich weiß noch, wer dabei gewesen sein soll. Sie hatten dann Furcht. Es ist nicht recht gewesen.“

„Meinst du? Aber ich hatte die Vögel ja auch gefangen und nicht gefragt, ob sie in meine enge Dachkammer wollten, Käfig über Käfig. Zuerst war ich von Sinnen, als ich die Steigen und das Kammerfenster offen fand. Ich griff zu einer Axt im Zorn ... der Vater hielt mich auf ... lang tat ich keinen Schritt ins Dorf, wo Spott und Gelächter auf mich warteten. Einmal aber, nach vielen Wochen Wut und Stubenhocken, ging ich in den Wald. Da tönte mir das Zwitschern und Singen neu und wunderbar ... anders als sonst. Nodi einmal stellte ich, aus Unmut, den Meinen zum Trotz. Aber als ich den Deckel des Schlages klappern hörte über den Flügelstößen einer kleinen, angsterfüllten Blaumeise, da ließ ich den Sänger fliegen und zerschlug das Gerät. Ich habe das Ganze dann lange vergessen, aber in den Jahren, die jetzt sind, denke ich oft daran ...“

Dann verstummte der Hirt abermals. Er rüdtte den sdiweren Hut in den Nacken, als ob ihn die Stirne sdimerze. Ich wartete mit Ungeduld und mir entglitt die Frage: „LTnd das Zweite?“

„Als das Zweite gesdiah,“ fuhr er fort, „warst du selber fast erwachsen und hast alles mitangesehen. Es war viel Geschwätz. Aber du hast es vergessen gleich den andern. ... Ich hatte sie gern vor allen Mädchen im Dorf und sie mochte mich audi leiden, meine ich. Sie war schön und reich. Das ist wahr. Als ich mit anderen Bursdien im Langsen auf Saisonarbeit ins Frankreich zog, haben Übelwollende ihr das oft gesagt, daß sie sdiön und reich sei. Die Kreszenz schrieb mir fleißig, aber sie ließ mich wissen, wie sie die Leute einschätzten Sie merkte es wohl nicht, wie sie mir fremder wurde mit jedem Brief. Wir hätten uns wiedersehen, miteinander reden müssen. Nicht jedermann vermag sein Herz, so wie es wahrhaft ist, in die geschriebenen Worte zu legen. Ich hatte früher nie Stolz entdeckt bei ihr. Dann kam der Krieg. Im August wurde ich interniert in Frankreich. Ich schrieb Kreszenz heim, sie sei frei, ich käme wohl lange nicht mehr. Als ich dann dodi aus dem Lager zu fliehen vermodite und auf einmal daheim war im Dorf, da spürte ich, daß ich ihr und manchen Leuten ungelegen kam. Die Hochzeitsmusikanten waren schon gedungen. Da rückte ich ein zum Militär, noch ehe sie mich holten. Ich war oft verwundet und kam doch leidlich gesund zurück. Aber ihr Mann nicht mehr. Sie hatten ihm aus dem Dorf geschrieben, daß sie auch ihm abspenstig gemacht worden sei. Die Eltern haben ihre Tochter nicht mehr aufgenommen. Jetzt ist sie eine Verlassene und viel krank. Der Kleinhirt dort ist ihr Bub. Sie hat mich gefragt, ob ich Altes vergessen und ihren Buben neben mir im Dienst leiden woHe. Ich habe es getan. Der Hansli ist fleißig und soll es nicht entgelten, was die Eltern sich angetan haben.“ — Und der Erzähler wies mit dem Stecken zur Herde hinüber, von wo man das Hoiho des jungen Hüterbuben hörte.

Aber diese Geste unterbradi die Gedanken des Hirten nicht. Er schloß eintönig, als ob er nur für sich spräche: „Ich wollte aber doch besitzen. Die Freunde sagten, mit meinem Verstand könnte ich der reichste Viehhändler im Tal werden. Ich hatte Haus und Güter und einen Stall, der mit allem wohl versehen war. Da kam der Tobelbach in der Nacht und hat alles anders gerichtet. Der hat mich mit Gewalt zum Guten folgsam gemacht.“

Bei den letzten Worten. wandte sich der Hirt lächelnd zu mir, ob ich zustimme oder nicht. Ich wußte, was er mit jenem Satz verschwieg. Lag das alles wirklich hinter ihm und war verwunden?

Damals hatte sich zwischen Mitternacht und Morgen dies zugetragen. Ein steiles Bachtobel mündete hinter des jungen Fesdmers Anwesen, ein gut Stück seitab, in die Talmulde. Das war so seit Menschendenken. Man hatte dort nie gebaut, ja kaum sich . die Mühe gemacht, Staudenwerk und Steine wegzuräumen zu einem ordentlichen Äckerlein oder doch zu einer Magerwiese. Der Bach sollte Platz und Rank haben auch in Zeiten von Sturm und Wetter. Es hatte zwei Tage und Nächte durchgeregnet und die spärlich bestockten Steilhänge zu beiden Ufern des Tobels hatten sich vollgesogen wie ein Schwamm. In der dritten Nacht löste es sich. Ein Strom von Schotter und Gestein, mit Lett und Schlamm vermischt, setzte sich in Bewegung mit einem unhörbaren Ruch. Wie ein Ungeheuer mit tausend Tatzen schlich die Lava aus Schutt und Schlamm herab aus dem Wald, aus der finsteren Nacht. Die Luft die Hochwetter, Blitz und Brand verkündet mit furchtweckenden, schaurigen Lauten, schwieg in dieser Nacht. Selbst wenn ein Mann vor Mitternacht mit einer Laterne durch die Wiesen um des Feschners Anwesen geschritten wäre, er hätte nur sickerndes, trübes Wasser bemerkt zwischen den Stengeln des dichtaufgesdiossenen Grases. Aber es bricht immer einmal eine Quelle auf in den moosigen Wiesen unter dem Waldhang her. Nur an der Mauer, die nah dem Stall ein schmales Sträßlein vorüberleitete, hätte ein genauer Beobachter entdecken können, daß sich das Wasser schlammig staute und an den Mauersteinen hin zu einem immer tieferen Tümpel aufwuchs.

So schwer es zu glauben scheint, kein Insasse des Hauses gewahrte, wie sich ein See von Geröll, Sand und zähem Schlamm um den weißgekalkten Sockel des Hauses, um Grundmauer und Balkenwand des an den Hang gelehnten Stalles legte und Wiese und Baumgut zuschüttete. Daß das Vieh sich nicht vernehmlich machen konnte, daran waren die wohlgefügten, feuerfesten Mauern schuld und die Betondecke, mit der der junge fortschrittliche Feschner in seinem Stall, zum Unterschied von allen Nachbarn, den Heustock vom1 Kuhstall getrennt hatte. Da die hintere Einfahrt zu den Heubarren höher am Hang lag, durchbrach die Mur mit träger, fast lautloser Gewalt das Tor und füllte das Tenn, bis die dünne Decke unter der wachsenden Last nachgab.

Als im grauenden Morgen der nächtliche Schrecken seine Boten fand, da liefen die Nachbarn zusammen zum Rettungswerk.

Die Tiere mußten ausgegraben werden wie aus einer Grundlawine. Drei Kühe waren erstickt und wurden herausgeschleift. Ein Rind und zwei Kälber machten zitternd und von Schlamm triefend ein paar Sprünge, fielen um und mußten getötet werden. Der Feschner ging auf den Trümmern des Stalles und auf den verwüsteten Feldern umher, bleich und mit flackerndem Blick wie ein Irrsinniger. Zwei Männern war aufgetragen, ihn nicht aus den Augen zu lassen.

An einem der nächsten Sonntage nach der Messe forderte der Gemeindevorsteher den Feschner zu jenem Bittgesuch auf, dem meine Lichtbilder beigefügt wurden. Als, ziemlich spät, von der Regierung die Zusage einer Unterstützung kam, hatte sich der Gesuchsteller schon verdungen. Er hatte sich als Hirt versprochen in die Alpe, in der er früher für seine Kühe drei Weide-rechte genutzt hatte. Um das verschüttete Grundstück kümmerte er sich nicht mehr. Es war auch kaum noch urbar zu machen. Von einem Verkauf wollte er nichts wissen. Es sei doch seine Heimat gewesen. Und wenn die Haustür von Sand und Schotter verrammelt sei, so könne er ja zum Fenster hinein, sagte er lächelnd. Er mied aber die Stätte des Unglücks und nahm bei einem entfernt wohnenden Vetter, einem alten Sonderling, Wohnung.

Jenen Sommer des Unheils überdachte ich, während der Hirt neben mir saß und an seinem Stabe schnitzte. Ich brach das Schweigen und sagte aus meinen Gedanken: „Es wollen dir viele helfen, Feschner. Ich weiß Leute, die dir Geld leihen. Du brauchst nicht zu verzweifeln.“ .

Da schaute der Hirt auf und es traf mich wieder das Lächeln, gemischt aus Güte und einem leisen Spott. Mit kleinen Pausen zwischen den Sätzen — als ob er mir Zeit lassen wollte zu begreifen — sprach er: „Das Dritte ist gekommen, Abend, nach dem Sagen meines Vaters. Ich bin nicht verzweifelt. Ich habe es schon manchem gesagt. Sie wollen es nicht glauben. Sie halten mein Reden für Verbitterung, für Schwäche oder Narrheit. Sie wollen mir immer helfen. Du jetzt auch. Und ich muß euch doch helfen ... Es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre ich im Tal geblieben. Man darf nicht im Tal bleiben. Dann wäre ich nie Hirt geworden. Berg und Wald wären mir nur Nutzen und Ertrag, Weidrecht und Holzrecht. Ich hätte nie erfahren, was ein Langsen ist und ein Herbst. Wenn es im nächsten Jahr den Mai ausläutet, wenn die Unterländer schon aufgebrochen sind in die Alpen und die Gassen im Dorf strömend voll sind von Kühen und Stieren, von Rossen und Schafen, dann schmücke ich meinen Hirtenhut und trete zum Alpmeister und sage: Es ist keine Sorge mehr wegen Schnee. Wir können getrost fahren. — Dann billigen sie es alle und sie geben mir Vertrauen für ihr Eigentum. Sie wissen, daß ich die Tiere bewahre vor dem Blut-schlag und dem gelben Galt und daß ich sie in den Waldschatten treibe in der sengenden Zenitstunde. Ich weiß jedem Tier Zeichen und Namen und ich kenne sie ohne Zeichen und Namen. Und sie folgen meiner Stimme...

Im Langsen und nach Hohenunserfrauen-tag ist es am schönsten in den Bergen. Aber Frühling und Herbst ist nicht alles. Jeden Tag kommt viel Neues und Wunderbares in die Welt. Die im Tal handeln und verhandeln, die — möchte ich sagen — halten nur einen Zipfel vom großen Gewand der Welt gepackt wie Kinder. Ich stehe frei vor ihr. Deshalb sieht sie mich an und beginnt zu sprechen zu manchen Stunden ...

Oder ist das Größte und Wunderbarste nicht die Welt?“ schloß der Hirt mit der abwesenden Stimme tiefer Begeisterung und beschrieb mit der Hand das Viertel eines Kreises, als ob er freilich auf das, was uns im Abendglanz der Sonne leuchtend und voll Hoheit umgab, aber auch nicht allzu deutlich darauf weisen wollte — als ob er vielmehr außer diesem noch etwas meine, was man mit Händen nicht zu erreichen und zu zeigen vermag.

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