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Der Engel im Glochenturm

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Alfred Buttlar von Moscon über- trug aus dem Kroatischen für die „Furche" die von Vladimir Nazor stammende kleine Erzählung, deren Abdruck wir hier beginnen. Vladimir Nazor darf ah der bedeutendste lebende Vertreter des kroatischen Schrifttums bezeichnet werden, das er, der heute 72jährige, durch eine Fülle gemütvoller Schöpfungen, Romane und epische Dichtungen und Märchenerzählungen und Lyrik bereichert hat. Er stammt aus Postize, einem kleinen Örtchen auf der Insel Brazza. Des Dichters dalmatinische Heimat, ihre farbenre-che Landschaft, ihr Volkstum und ihre reiche Sagenwelt sind der unerschöpfliche Born, aus dem ihm seine Motive quellen; sie sind von eigenartigem Reiz durch ihre Naturnähe und einem mystischen Zug, der das Geschehen und d'e Gestalten seiner Schöpfungen überza"jbert. Zu Nazors reifsten Schöpfungen zählen ,,Der Hirte Loda" und „Die Ringelnatter“. Zu den Uebevollen Erzählungen aus seiner Jugend gehört die vorliegende liebliche Kindheitserinnerung „D e r Engel im Glockentur m‘\ Einige seiner schönsten Arbeiten wurden durch Camilla Lucerna ins Deutsche übersetzt und vor vier Jahren von der Steirischen Verlagsanstalt unter dem Titel: „An den Tränken der Cetina“ herausgebracht.

In einem Städtchen am Gestade eines breiten Meerarmes wurde ich geboren.

Von dort aus wandert der Blick hinaus aufs Meer. Segler und Dampfschiffe ziehen vorüber, meist fahren sie nach anderen Küsten, selten nur gehen sie im Hafen vor Anker. Jenseits de tiefblauen See, deren Farbe nicht Witterung noch Jahreszeit trübt, schimmern violett die bewaldeten Gebirge des Festlandes. Das Städtchen schmiegt sidi an die Höhen der kleinen Insel. Weingärten und Olivenbäume schmücken ihre Felsenflanken mit spärlichem Grün.

Seit meinem fünften oder sechsten Lebensjahr habe ich diese Gegend nicht mehr gesehen, aber noch heute lebt sie mit all ihrem Sonnenschein und hellen Glanz in meiner Erinnerung.

Auch so mancher Geschehnisse aus jenen Tagen kann ich mich lebhaft entsinnen.

Bilder erstehen unvermittelt und ohne Zusammenhang, aber klar und deutlich sind sie mir gegenwärtig. So mag es einem Sdilummernden zumute sein, der in seinem dumpfen Traumempfinden helle Augenblicke erlebt, die wie kleine, von Sonnenlicht verklärte Inseln aus den grauen Fluten des Vergessens emportauchen.

Wir wohnten in der Nähe der Kirche, die inmitten des Ortes von einer begrünten Böschung auf den Marktplatz hinabschaut.

Oft stahl ich mich als Knabe unbemerkt aus dem Haus und schlich den Fußsteig empor, der sich vom Rasenplatz der Kirche in die Berge hinaufschlängelt, um den Glockenturm, das Kreuz, das ihn krönt, und das Zifferblatt mit den schwarzen Zeigern unter dem Turmdach ungestört zu betrachten. Knapp unter dem Dach konnte man auch durch die geräumigen Turmfenster die Glocken sehen. Manchmal blinkten sie im Widerschein der sinkenden Sonne.

Nichts hörte ich lieber als das Geläute dieser Glocken.

Beim ersten Klang schon wußte ich, ob die große, ob die mittlere oder die kleine Glocke geläutet wurde. Nach ihren Größen nannten wir sie „Großvater“, „Vater“ und „Enkel". Auch die Glockenstränge, mit denen die drei Glocken zum Schwingen gebracht wurden, entgingen nicht meinen Blicken, und ich zweifelte nicht, daß ein eisgrauer, hochbetagter Greis den gewichtigen „Großvater" läute, während meiner festen Überzeugung nach der „Vater“ von einem schwarzbärtigen Mann und der „Enkel“ von einem Buben meines Alters zum Tönen gebracht wurde.

Weil ich diese drei jedoch nie zu Gesicht bekam, besdiäftigte ich mich mit ihnen um so mehr in meinen Gedanken: in der

Kirche hausen sie nicht, aber auch im Turm können sie nicht wohnen. Er besitzt ja weder verglaste Fenster noch einen Rauchfang. Weiß der Himmel, woher sie kommen mögen, um jeden Morgen, Mittag und Abend die Glocken zu läuten. Nach getaner Arbeit kehren sie wieder in ihre Behausung zurück. Abends ertönt zuerst die Stimme des „Vaters“, dann läßt der „Enkel“ sein hohes Klingen hören. Der Kleine kommt wohl immer in Begleitung des bärtigen Mannes zur Zeit des Aveläutens. Nicht Regen noch Sturm hält ihn von diesem Weg ab. Vielleicht trägt der Mann den Kleinen auf seinen Schultern oder er hält ihn in seinen Armen, wenn sie müde heimkehren. Tagein, tagaus verrichten sie unverdrossen ihren Dienst.

Diese drei geheimnisvollen Glöckner wurden mir irgendwie vertraut, weil sich meine Gedanken mit ihnen so lebhaft beschäftigten. Ja, ich war sogar einigermaßen befriedigt, denn ich glaubte fest, doch wenigstens zum Teil, des Rätsels Lösung gefunden zu haben.

Doch plötzlich wurde meine Neugier wieder wach, denn ich bemerkte etwas, was ich bisher nicht beachtet hatte:

Dann und wann hört man ein Klingen im Turm, doch alle drei Glocken blinken in eherner Ruhe.

„Kling, klang!“ Es tönt, als klopfe der Glockenschwengel zwei-, dreimal oder gar zwölfmal mit hallendem Schlag an den „Enkel", denn so oft erklang der kleinen Glocke heller Ruf. Doch sie bewegt sich nicht und niemand zieht den Glockenstrang.

Ich stehe und warte.

Die Zeit vergeht, schon will ich nach Hause gehen, da ertönt wieder des „Enkels“ Stimme.

„Kling, klang!"

Rasch eile ich hinab zum Glockenturm und lasse mich vor der versperrten Tür nieder.

Nichts anderes höre ich als das ferne Summen des Marktgetriebes auf dem Platz und das scheltende Gezwitscher der Spatzen- familien, die unter dem Turmdach nisten. Spielte ich nicht mit Steinchen, würde ich auf der Stufe, die zum Turmeingang führt, einnicken. Doch plötzlich erklingt hoch oben im Turm der seltsame Glockenton:

„Kling, klang!“

Ich laufe, so schnell ich kann, zur Stelle zurück, von der aus man durch die Fenster ins Turminnere sehen kann. Die Glocken rühren sich nicht.

Zum erstenmal in meinem Leben überkommt mich ein eigenartiges Bangen vor etwas Unbekanntem, das mich anlockt und doch mit Grauen erfüllt.

Schon dämmert es. Vater merkt, daß ich jetzt erst heimgekommen bin.

„Wo warst du so lange, du Schlingel? Marinetta, du mußt strenger sein! Weiß Gott, wo er immer herumstrolcht.“

„Vater, kein Mensch ist im Turm. Die Tür ist zugesperrt, aber es läutet. Wie ist das möglich?"

Zuerst versteht mein Vater nicht recht, was ich sagen will.

„Was soll das heißen? Es läutet!"

„Ja, es läutet! Kling, klang! Kling, klang!“

„Ach so! Die Glocken läuten nicht. Das ist die Uhr, du hörst ihren Stundenschlag."

„Die Uhr? Welche Uhr?"

Mein Vater erzählt mir von dem schwarzen Kreis an der Turmwand, knapp unter dem Dach, und von den Zeigern, die sich wie schwarze Finger langsam bewegen. Von Minuten, Stunden und Viertelstunden ist die Rede.

Doch ich verstehe seine Erklärung nicht.

„Und wer setzt den Glockenschwengel in Bewegung? Der ,Enkel läutet ja!“

„Kein Mensch ist im Turm. Der Hammer des Uhrwerks schlägt an die Glocke.

Schau, so... Kling, klang! Kling, klang! Die Schläge geben die Stunden an, jeder Schlag bedeutet eine Stunde und alle früheren Schläge werden bis zwölf wiederholt. Auch die Viertelstunden werden von der Uhr geschlagen. Alle fünfzehn Minuten schlägt die Uhr, zuerst einmal, dann zweimal und dreimal. Wenn die Stunde voll ist, ertönen vier Viertelstundenschläge. Später einmal wirst du das alles besser verstehen. Jetzt sollst du nicht über solche Sachen nachdenken.“

Ich muß aber dennoch grübeln und mache mir über alles meine eigenen Gedanken.

Wenn mir auch der größte Teil der Erklärung meines Vaters unverständlich ist, so habe ich doch begriffen, daß ein Hammerschlag die kleine Glocke, den „Enkel“, ertönen läßt. Das leuchtet mir ein, habe ich mir doch selbst dieses seltsame „Läuten“ so vorgestellt.

Wer aber klettert mit einem Hammer bis zur Glocke hinauf? Wer vermag denn, durch die versperrte Tür in den Turm einzudringen, um sich über eine steile Wendeltreppe, falls es überhaupt im Innern Stiegen gibt, kalte und düstere Wände entlang emporzutasten? Der geheimnisvolle Glöckner müßte bis zum Turmdach hinansteigen, denn die Glocken hängen hoch oben im Gebälk. Der alte Glöckner ist zu gebrechlich, um dieses Kunststück zu vollbringen, aber auch dem Mann mit dem schwarzen Bart kann ich eine solche Kletterei nicht zumuten und dem Buben erst recht nicht. Den einen oder anderen hätte ich auch längst schon durch die Turmfenster erspähen müssen.

„Mutter, sag’, wer läutet denn die Glocke?“

„Gestern abends hat dir doch der Vater alles erklärt. Ein Hammer schlägt, vom Uhrwerk bewegt, die Stunden."

„Ein Uhrwerk? Was ist das?"

„Frag den Vater! Sei schön ruhig und laß mich in Frieden, ich habe genug Arbeit!"

Still drücke ich mich aus dem Haus und schleiche auf dem Fußsteig zu meinem gewohnten Platz. Ich warte und schaue.

Ein strahlender Frühlingsmorgen breitet seinen Glanz über Häuser, Gärten, Berge und Meer. Da und dort blüht noch ein Mandel- oder Pfirsichbaum. Menschenleer ist das Städtdien. Wer nicht in den Weingärten arbeitet, treibt sich im Hafen herum. Ich höre nichs anderes als Vogelgezwitscher und den schrillen Pfiff eines Dampfers, der sich der Insel nähert. Rings um die Kirche herrscht heilige Ruhe. Sdiwalben umkreisen in blitzendem Flug das Dach des Glockenturms. Über den Rasenplatz flattern zwei weiße Falter, sie spielen in der Luft miteinander, dann lassen sie sich auf Blumen nieder, um wieder aufs neue ihr Gaukelspiel zu beginnen.

Ich schaue in den Himmel.

Hoch über dem Glockenturm schwebt eine kleine Wolke. Sonnenlicht durchleuchtet sie uiid säumt sie mit gleißendem Gold. Sie steigt empor und ihre gedrungene Gestalt wandelt sich. Nun gleicht sie einem Jüngling mit langen, weißen Schwingen,.

„Ein Engel!"

Gebannt betrachte ich ihn. Immer tiefer senkt er sich herab, seine Gestalt sdieint kleiner geworden zu sein, aber sein wallendes Gewand strahlt jetzt so rein wie frisdi- gefallener Schnee. Von der Sonne geblendet, vermag mein Blick kaum seinem Flug zu folgen. Hat er sich nicht auf den Turm herniedergelassen? Ja! Und jetzt ist er hinter dem Turmdach verschwunden. Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann ihn nirgends mehr erspähen

„Kling, klang, kling!“ hallt es laut und fröhlich durch den Frühlingsmorgen und ein Spatzenschwarm schwirrt scheltend vom Turmdach herab.

Diese drei hellen, klingenden Schläge erwecken in meinem Herzen jubelnden Widerhall. Es pocht, als wollte es zerspringen.

Nachdem ich mich von meinem Staunen einigermaßen erholt habe, überkommen mich Stolz und Freude.

Schnurstraks renne ich nach Hause, eile zur Mutter und krame mit geheimnisvoller Miene mein Wissen aus:

„Mutter! Jetzt weiß ich, wer die Glocke läutet. Ich habe ihn gesehen!“

„Wen hast du denn gesehen, du kleiner Knirps?“

„Den Engel! Er fliegt in den Glockenturm und schlägt mit dem Hammer an die kleine Gocke."

„Hast du wirklich gesehen, wie er mit dem Hammer an die Glocke schlägt?“

„Nein, aber ich habe ..."

„Schweig und laß Engel und Glockenturm in Frieden. Untersteh’ dich nicht, wieder herumzulungern! Von nun an bleibst du schön zu Haus! Verstanden?"

Meine Mutter ist jedoch allzu beschäftigt, um mich ständig im Auge zu behalten. Ihre Frage hat einen neuen brennenden Wunsch in mir erweckt.

Ja, natürlich, man müßte den Engel anschauen ..., aber ganz aus der Nähe. Man müßte dabei sein, wenn er an die Glocke schlägt.

Wie mag er wohl aussehen? Funkelt sein Haar wie Feuer? Sind seine langen, weißen Flügel wirklich befiedert? Und ist der Hammer, den er in Händen hält, vielleicht gar aus lauterem Gold?

Und wieder sdileiche ich insgeheim aus dem Haus.

Eine Zeitlang stehe ich unschlüssig auf meinem gewohnten Platz, dort oben auf dem Fußsteig, und warte.

Nichts regt sich ringsum. Das Städtchen scheint zu träumen im milden Sonnenschein.

Ich gehe über den Rasenplatz zur Pforte des Turmes hinüber. Sieh da, — die Tür ist diesmal nicht zugesperrt, sondern bloß leicht angelehnt.

Ich zögere einen Augenblick.

Warum sollte ich mich fürchten? Etwa vor dem Engel? Ihn schickt doch der liebe Herrgott vom Himmel auf die Erde herab. Bete ich nicht ' jeden Abend zu meinem Schutzengel?

Diese Gedanken verscheuchen meine Angst.

Schnell schlüpfe ich durch die halbgeöffnete Tür in das Innere des Turmes.

(Schluß folgt)

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