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Gott schaut su..

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Vom Autor erscheint im Herbst unter dem Titel. „Und was bleibt, ist der Mensch“ ein Roman, der das deutsche und europäische Schicksal des verflossenen Jahrzehnts gestaltet. Wir bringen einen Auszug aus einem Kapitel: Ein amerikanischer Fliegerhaupt-mann, der kurz .vor Kriegsende in einem deutschen Dorf mit seinem Fallschirm abspringen mußte, besucht ein halbes Jahr später die Stätte seiner Niederlage als Sieger.

John hebt zuerst nur den Kopf, doch dann blickt er mit einem leisen Erschrecken in die Richtung, aus der der Lärm kommt, Kinderstimmen und Füßegetrappel. Aus einem Waldweg biegt das Häuflein ein, und dahinter sieht er auch schon die hochgewachsene Gestalt des fremden Mädchens. In sein Erschrecken über die unerwartete Begegnung mischt eich sofort ein dunkles Gefühl von Angst, er weiß auch gleich wovor, Angst vor den kühlen Kinderaugen unter der zopfbekränzten Stirn, vor diesem kalten Haß, der etwas so Uraltes und Gefährliches hatte. Sein erster Gedanke ist Flucht. Aber ehe er ihn ausführen kann, sind die Kinder schon bei ihm. Ihr geschwätziges Lärmen verstummt, als sie ihn sehen. Sie blicken neugierig her. Einige schauen sich nach dem Mädchen um und deuten flüsternd mit den Fingern auf ihn.

Das Mädchen bleibt stehen, wenige Schritte vor der Bank, hebt den Kopf, den sie im Gehen unverwandt auf die Erde gesenkt hielt, und richtet ihre Augen langsam auf ihn. Auch John sieht ihr gegen die Helle, aus der sie kommt, leicht blinzelnd entgegen. Nur undeutlich erkennt er den Umriß ihres Gesichtes. Ihr Blick streift ihn nur flüchtig, sein Antlitz, die Uniform, verläßt ihn sofort wieder und heftet sich stirnrunzelnd auf die Kinder. Ein verächtliches Lächeln fliegt dabei über ihre Lippen.

„Nun, macht schon weiter!“ sagt sie gelassen, und die Kinder gehorchen.

John beobachtet das Mädchen genau. Außer diesem kaum wahrnehmbaren Lächeln ist keine Regung auf ihren Zügen zu erkennen, kein Erstaunen, keine Abwehr und auch kein Haß. Immer noch etwas unruhig sich nach ihm umwendend, schiebt sich die Kinderschar weiter. Keines der Kinder erkennt ihn offenbar wieder, wie auch das Mädchen ihn nicht erkannt hat. Vielleicht sitzt er zu tief im Schatten? Er greift in seine Taschen und holt eine Tafel Schokolade und Pakete mit Kaugummi hervor, dabei erhebt er sich und tritt zwischen die letzten der vorüberziehenden Kinder. Zuerst sind sie erschrocken und zögern, als er ihnen die Süßigkeiten hinhält, aber dann greifen sie plötzlich hastig danach, als könnte die verlockende Beute jeden Augenblick wieder verschwinden. John fühlt die Vielzahl der kleinen Hände um sich.

Da fährt die helle Stimme des Mädchens wie ein Schlag, unter dem sie sich ducken, unter die Kinder.

„Rührt mir ja nichts an!“ sagt sie zornig, ohne Haß sagt sie es, nur mit der gleichen Verachtung, die schon in ihrem Lächeln lag.

Die Kinderarme sinken herab, und plötzlich steht John allein. Langsam steckt er die Sachen wieder in seine Taschen. Das Mädchen — er sieht ihren Schatten über seine Füße gleiten, auf die sich sein Blick wie beschämt gesenkt hat — will als letzte an ihm vorüber.

„Warum verbietest du ihnen das?“ fragt er sie und vertritt ihr den Weg.

Sie weicht erschrocken zurück und hebt die Arme abwehrend vor die Brust. Ihre Augen haben sich verengt, wie ein Tier sieht sie ihn an, das in eine Falle oder ein Netz geraten ist. Da John ihr unverwandt in die Augen schaut, senkt, sie schließlich den Blick und will mit einer schnellen Bewegung an ihm vorbei. Doch er hält sie am Arm fest und nun entfährt ihrem Mund ein zorniger Laut.

„Lassen Sie mich in Ruhe!“ hört er sie sagen.

„Erkennst du mich nicht?“ fragt er langsam und läßt ihren Arm los. Sie tritt einen Schritt zurück und legt ihre Hand auf die Stelle des Arms, wo er sie hielt, als empfände sie dort einen Schmerz. Dabei sieht sie scheu und schnell zu ihm auf, Es ist nun etwas Verschüchtertes in ihrem Wesen, die schmalen Schultern hat sie noch enger zusammengepreßt und die Ellbogen in die Hüften gestützt. Fast sieht es aus, als ergäbe sie sich nun in ihr Schicksal, denn sie könnte jetzt leicht flüchten, den Kindern nachlaufen, die auf die Zurückgebliebene nicht achten, und denn Gelächter immer leiser hjrüber-klingt. Aber sie scheint nun wie gebannt an den Ort zu sein, wo sie steht. Sie schiebt die Unterlippe trotzig nach vor, John ist schon versucht zu lächeln, weil sie jetzt doch aussieht wie ein trotziges Kind, als ihn noch einmal ihre scharfe, verächtliche Stimme trifft.

„Ich kenne keine Amerikaner!“

Wie schön ihr Haar ist, denkt John. Die Sonne, die darauf liegt, läßt es aufschimmern wie Seide, und der Wind bewegt leicht den Flaum an den Schläfen und über den Ohren.

„Mich kennst du aber doch“, sagt er ruhig.

Von seiner Ruhe und Sicherheit ist sie sichtlich ein wenig betroffen. Sie schüttelt nur stumm den Kopf, während ein Funken von Neugier und Nachdenklichkeit in ihren Augen aufglimmt

„Es ist schon einige Monate her. Damals war ich der einzige Amerikaner im Dorf“, versucht er ihrer Erinnerung nachzuhelfen.

„Ich habe Sie jedenfalls nicht gesehen“, fährt es zornig aus ihr heraus, „daß S i e mich gesehen haben, kann ich nicht verhindern.“

Sie läßt ihre Arme sinken und strafft sich ein wenig, einen Augenblick lang sieht sie unruhig den Kindern nach, weil sie nichts mehr von ihnen hört. Doch sie stehen auf ein Häuflein zusammengedrängt am Ende des Waldes und schauen verwundert her, nachdem sie das Zurückbleiben des Mädchens entdeckt haben.

Indes wird auch John nun ein wenig zornig. Auch etwas Enttäuschung wallt In ihm hoch. Seltsam! Dieses Kind, dessen Gesicht, dessen Augen sich ihm am unverwischbarsten eingeprägt haben, das erkennt ihn jetzt nicht.

„Du hast mich genau gesehen“, sagt er,und sie erschrickt vor seinem finsteren Blick, „ich lag dort auf der Wiese, eine Pistole auf der Stirn, und du hast mich angesehen und darauf gewartet, daß sie abgedrückt wird. Damals war...“

Mitten im Satz verstummt John, so unheimlich ist die Verwandlung ihres Gesichtes. Sie hat die Lippen etwas geöffnet, und ihre Augen werden zuerst ganz groß und starr, ihre Wangen zucken, füllen sich abwechselnd mit Blut und erblassen, und John sieht, wie sich ihre Hände langsam zu Fäusten ballen und gegen die Schenkel pressen. Aber mitten in dieser Verwandlung, die so ist, als löse und spanne sich etwas Furchtbares in ihr, geschieht das Ungeheure mit ihren Augen. Es sind blaue Augen, die sich ein wenig verdunkeln, gleichsam feuchten und tiefer in ihre Höhlen sinken, die Lider zittern dabei und stehen dann wieder ganz still, als seien sie ohne Leben, und dann werden die Augen langsam schmäler und — John weicht unwillkürlich einen halben Schritt zurück — schlägt ihm wieder der Haß aus ihnen entgegen, keine wild entflammte, ungestüm hervorbrechende Leidenschaft, sondern jener kühle, wie erstorbene Haß der nur ganz Verlorenen eigen ist. John senkt seinen Blick und starrt auf die Füße des Mädchens. Leichte Sandalen umschließen die nackten Zehen. Wie gefesselt liegen sie vor ihm, rosige, kleine, ganz kindliche Zehen und kindliche Füße, und magere Kinderbeine wachsen darüber empor bis zu den knochigen Knien, über die das blumengemusterte Kleidchen fällt.

John dreht seine Mütze nervös in der Hand, sieht unruhig zu den wartenden Kindern hinüber und lauscht dann gespannt auf das verklingende Klappern der Mähmaschine am jenseitigen Rande des Haferfeldes. Ihm ist so, als müsse er eine Ablenkung suchen für seine Erschütterung, die ihn allmählich befällt, so heftig befällt, daß er sich an den Hals fährt und an seinen Hemdkragen reißt, als würde er ersticken. Und in einem plötzlichen Entschluß tritt er ganz nah an das Mädchen heran, packt sie mit beiden Händen an den Schultern, beugt sie heftig zurück, so daß es ihr Gesicht fast heraufwirft zu ihm, und so fragt er sie und sieht dabei in die schmalen Augen voll Haß:

„Was habe ich dir getan? Warum haßt du mich so?“

Sein Griff lockert sich ein wenig, und fast flüsternd fährt er fort: „Wie kannst du, ein Kind, nur so hassen?“

Sie windet sich unter seinem Griff, und da läßt er sie los. Sie bleibt jedoch dicht vor ihm stehen, und es dünkt ihm, als recke sie sich noch ein wenig und stünde jetzt, leicht auf den Fußspitzen federnd, vor ihm, und in ihrem Gesicht ist etwas, als weide sie sich an seinem Entsetzen, an seiner Fassungslosigkeit und Angst. Aber vielleicht glaubt er das nur, vielleicht sieht er überhaupt alles zu sehr mit seinem erschütterten Herzen, weil es so ungeheuer ist, daß ein Kind so uralte Augen hat.

„Ach ja“, hört er sie leise zwischen den Zähnen murmeln, auch dieses Murmeln scheint aus dem Haß zu kommen. „Sie sind der Flieger von damals... aber da habe ich wohl Ihr Gesicht nicht gesehen, sondern nur die vielen Gesichter. Ich hasse S i e nicht, ich hasse euch alle.“

„Wie alt bist du?“ fragt John unvermittelt.

Uberrumpelt von seiner Frage, antwortet sie:

„Zu Weihnachten werde ich sechzehn.“

Doch dann huscht schon der Ärger über ihre vorschnelle Antwort über ihr Gesicht.

„Und was ist der Grund?“ fragt John weiter.

Sie schweigt. Er fühlt die Erregung, die in ihr aufsteigt. Plötzlich sinkt sie zusammen und schlägt auch die Augen nieder. Ihre verkrampften Fäuste lösen sich, sie schwankt ein wenig, und John greift nach

ihrem Arm, weil er fürchtet, sie würde fallen.

Aber sie fährt zurück, wie vor einer giftigen Schlange. Wie sie jedoch dabei zu ihm aufblickt, gewahrt er den Tränenschleier, hinter dem der Haß ein wenig zerschmilzt. Nur ein wenig, aber es scheint John, als öffne sich nun ein schmaler Spalt zu der verschütteten Welt dieser Kinderseele, und er möchte mit der ganzen Kraft seines Herzens diesen Spalt weit aufstoßen. Er muß sich mit aller Gewalt bezwingen, nicht auf das versteinte Geschöpf zuzustürzen, um ihr schmales Gesicht mit dem goldenen Kranz der Zöpfe über der Stirn an seine Brust zu pressen und ihr solange zärtlich über die Schläfen und diese schrecklichen Augen zu streicheln, bis es sie wieder aufschlüge, das Kind die verlorenen Kinderaugen, und sie wieder weineii und lachen könnten.

John preßt seine Lippen zusammen und blickt über das Mädchen hinweg auf die fernen Hügel und in das Blau. Und ihm dünkt auf einmal, als schauten aus diesem Mädchengesicht alle die schrecklichen Bilder der vergangenen Jahre auf ihn, die vielen sterbenden Menschenaugen. Die Worte de Leutnant Reineder kommen 5hm in den Sinn, die er geschrieben hatte über die Morgenstunden in der raucherfüllten, brennenden Stadt, mit den verbrannten, verstümmelten Leichen der Frauen und Kinder auf den Straßen, und auch die Worte, die er geschrieben hatte über den Blick in die vergitterten Viehwaggons. John sieht plötzlich wieder das von Wahnsinn und Angst verzerrte Gesicht vor sich, das Gesicht Bobs, des jungen Soldaten im Boot vor der Insel im Pazifik, der ohne Unterlaß nach der Mutter schrie angesichts der abgeschnittenen Hand, die die Wellen über den Bootsrand gespült hatten. Doch so furchtbar die Last dieser Bilder und Worte auf ihn herabsinkt, John gewinnt auch eine Spur Erleichterung aus ihnen, weil er begreift, daß das Kind vor ihm nicht ihn haßt, sondern die Welt, das Unheil, das zerstörende Schicksal, das nicht er bewirkte, sondern die Zeit. Und es dünkt ihm nun auch, als wäre die Schuld, die er trägt und mit sich herumschleppt seit einem Jahr, geringer geworden, als wöge sie nicht mehr so schwer, wie er immer geglaubt hat, und als habe ich die allgemeine und größere Schuld der Welt nur ein Gefäß gesucht in ihm, in dem sie nun ausgären könnte und sich läutern, um überwindbar zu werden.

Vielleicht spürt das Mädchen etwas von seinem Ringen oder vielleicht bewegt sie nun doch etwas an dem guten, offenen Gesicht des Mannes, so als löse es sich aus den vielen gehaßten Gesichtern, um menschlich zu werden, einem Menschen anzugehören, den man nicht mehr so schrecklich hassen kann wie das Uner-greifbare und Ferne, aus dem einmal die Bomben herabfielen aus einer Nacht, von den Sternen. Und so gibt 6ie, zwar zögernd, nachgiebiger Antwort auf die Fragen, die John ihr stellt.

„Du bist aus der Stadt drüben, aus Koblenz?“

Sie verneint. Aus Frankfurt sei sie.

„Du hast deine Mutter verloren?“

Sie nickt. Er sieht sie an, und ihr Gesicht ist wie erstarrt. Ihre Blicke sind auf seine Brust gerichtet, als spräche 6ie nicht mit ihm, sondern mit seinem Herzen, das dort so wild unter der Uniform klopft.

„Und wo ist dein Vater?“

„Der ist in Rußland gefallen.“

„Hast du keinen BrudeT, keine Schwester?“

„Ich habe zwei Brüder und eine Schwester gehabt, und sie sind mit der Mutter gestorben, in einer Nacht.“

„Durch die Bomben, durch die Flieger?“ fragt er leise und spürt, wie sie neben ihm zittert.

„Ja“, haucht sie.

Er schweigt. Immer noch starrt sie auf seine Brust.

„Ich habe es nicht getan“, sagt erplötzlich.

„Nein“, sagt sie wie ein gehorsames Kind.

„Hör' einmal, wie heißt du denn eigentlich“, fragt er. .Irene...“

„Ja, Irene, hör' zu, vielleicht hat es niemand getan, niemand von uns Menschen ...“

Sie zuckt zusammen und dann blickt sie Von seiner Brust auf und sieht ihm groß Ins Gesicht.

„Vielleicht Gott?“ fragt sie verächtlich.

John atmet schwer. Aber nun ist doch dieser Haß nicht mehr in den Augen. Nur wie fortgesunken scheinen sie ihm zu sein in eine schreckliche Tiefe, und der schwarze Kern auf der blauen Iris, die Pupillen, sind winzige Punkte.

„So darfst du nicht sprechen“, fährt er mühsam fort und fühlt, wie es in ihm ringt, Gedanken und Worte. Das Unaussprechliche quält ihn wie eine persönliche Schuld.

„Gott hat es gewiß nicht getan“, sagt er in ihr wartendes Schweigen. .Gott schaut immer nur zu.“ Er verstummt.

.Du weißt es auch nicht“, sagt sie, und

in ihrer Stimme ist etwas von einem stillen Triumph.

.Das weiß vielleicht niemand“, erwidert er leise. „Aber die Menschen waren es nicht, sie sind nur Werkzeuge, Irene. Es ist das Schicksal der Menschen, daß sie so vieles tun müssen, was sie nicht wollen oder was sie nicht wissen.“

„Das gibt mir die Mutter, die Geschwister nicht wieder“, antwortet sie langsam.

„Aber der Haß gibt sie dir auch nicht“, kämpft er mit ihr. „Du beginnst ihn“, er weist mit der Hand auf die wartende Kinderschar, „sogar schon dort, die Kinder zu lehren. Dabei schaut dir auch Gott zu.“

Ihr Blick, der der Richtung seines ausgestreckten Armes gefolgt ist, kehrt langsam auf sein Gesicht zurück.

John wartet auf eine Antwort. Aber sie schließt nur für eine Weile die Augen und streicht sich über die Lider, als besinne sie sich, und dann geht sie mit langsamen, kurzen Schritten, den Kopf auf die Erde gebeugt, mit hängenden Armen von ihm fort zu den Kindern.

Er hält sie nicht auf und sieht ihr nur nach, wie sie sich dem wartenden Häuflein nähert, vor den Kindern stehenbleibt, auf sie niederblickt und die Hände hebt und über die Köpfe der ihr zunächst Stehenden streichelt. Mit den Händen gibt sie ihnen auch das Zeichen zum Weitergehen, aus der Ferne sieht es aus wie ein Segen, und die Kinder traben gehorsam weiter. Sie folgt ihnen auf dem Fuß, doch ehe sie seinen Blicken an einer Biegung des Waldes entschwindet, sieht sie einmal schnell und scheu zu ihm zurück.

John steht lange reglos und starrt auf die Stelle, wo sie mit den Kindern verschwunden ist, und er streicht sich ein paarmal mit der flachen Hand über die Brust, wo ihr Blick ruhte, aber er ist sich dessen gar nicht bewußt.

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