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LEON UND VERONIQUE

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Die nachfolgende Erzählung ist dent Roman „Zeit des Raben — Zeit der Raube" entnommen. Der bei der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart, erschienene Roman erzählt in alternierenden Kapiteln die Lebensgeschichte des katholischen Dichters Leon Bloy und der Entdeckerin des Radiums, Marie Curie. Das hier wiedergegebene Kapitel schildert eine Episode aus der Jugend des Dichters. — Bloy wurde 1846 in Perigueux geboren und gilt als markantester Vorläufer des Renouveau catholiąue. Bekannt ist seine tragische Liebesbegegnung mit Anne Marie Route, die, von ihm aus der Gosse gerettet, zu einer Schlüsselfigur seines Denkens und Schaffens wird. Diese Episode, die zu den düstersten und rätselhaftesten der französischen Gegenwartsdichtung gehört, hat Gertrud Fussenegger in einem Kindheitserlebnis Leons eingeführt und verankert.

Leon war fünf oder sechs Jahre alt, als Veronique seinen Weg kreuzte. Veronique war ein kleines, erlumptes Mädchen, das jeden Tag unter den Mauern von Fenestreau vorüberkam, um ihrem Vater, der als Taglöhner in den nahen Weingärten arbeitete, das Essen zu bringen. Leon liebte es, auf dem verfallenen Steinwall zu liegen und sich in der Mittagsonne braten zu lassen. Das kleine Mädchen kam den begrasten Pfad herauf, sie war barfuß und hatte nichts am Leib als einen blauen, verschossenen

Leinenkittel. In der Hand trug sie einen Korb und in diesem Korb einen irdenen Topf, dessen Schnauze und Henkel abgebrochen waren und in dem die Suppe ihres Vater schwappte. Leon sah das Mädchen kommen und vorübergehen — ihr Haar war kupferfarben und hing ihr in einem Gewirr, das nie gekämmt schien, zu beiden Seiten der Schläfen ins Gesicht. Ihr Kleid klaffte unter ihrem Nacken offen bis fast bis zum Gürtel und ließ die milchweiße Haut unter einem sonnigen Schimmer weißblonder Härchen sehen.

Leon schaute ihr nach, wie sie den flachen Hügel erstieg, der das Gelände von Fenestreau von den Weingärten schied. Die kleine Gestalt trat über den Hügelrand, ging jenseits hinab und schien schließlich vom gleißenden Licht des mittäglichen Himmels verschluckt.

Die Kinder hatten noch kein Wort miteinander gewechselt. Die Kleine tat, als habe sie Leon noch nicht einmal bemerkt. Aber eines Tages blieb sie unter seinem Liegeplatz stehen, hob die Augen zu ihm auf und lächelte ihn an. „Du bist Leon", sagte sie. „Ich heiße Veronique.“

Von nun an hielt sie sich immer bei ihm auf, wurde zutraulich, stellte den Korb mit der Armensuppe und dem Trockenbrot des Vaters ins Gras, kletterte den Steinwall hinauf, legte Arme und Kopf neben den Kopf und die Arme des Knaben und redete mit ihm.

Sie wußten einander Zwar nicht eben viel zu sagen. Leon erfuhr, wieviel Geschwister sie habe, sie erfuhr, daß er im nächsten Jahr zur Schule gehen werde. Leon fing eine Eidechse und wollte, daß Veronique sie anfaßte. Veronique verbarg ihre Hand hinter dem Rücken und sagte: „Du willst bloß, daß sie mich beißt."

So ging es eine W’eile fort. Täglich wartete nun Leon, bis Veronique kam. Er fragte sie auch, wann sie, wenn sie ihrem Vater das Essen gebracht hatte, zurückkehrte. Das aber wollte sie ihm nicht sagen, ihren Rückweg hüllte sie in ein Geheimnis.

Eines Tages — es ging schon dem Herbst zu — wußte Veronique etwas Aufregendes zu berichten: „In der Stadt ist Jahrmarkt, sie haben ein großes Zelt gebaut, dort zeigen sie Tiger und Schlangen, und die Tiger müssen durch brennende Reifen springen, und die Schlangen sind zahm und tanzen.“

„Das gibt es doch nicht“, sagte Lėon. „Du lügst.“

„Doch gibt es das“, erwiderte Veronique, „alle Leute reden davon. Ich möchte die springenden Tiger sehen und die zahmen Schlangen.“

Lėon schwieg.

„Möchtest du sie nicht auch sehen?" fuhr Vėronique fort. „Aber man muß einen Sou zahlen, damit man hinein darf.“

Als Leon nach Hause zurückkehrte, fragte er Tante Eugenie, ob man in der Stadt wirklich Tiger und Schlangen sehen könne. Gleich mischte sich Bruder Paul ins Gespräch. „Freilich!" sagte er. „Seit vorgestern ist ein Zelt beim Turm von Vės.one aufgebaut, es ist so groß wie eine Kirche und ganz mit Scharlach ausgeschlagen. Wer einen Sou bezahlt, darf hinein.“

„Ich möchte hingehen", sagte Leon, „ich möchte auch die Tiger sehen.“

Tante Eugenie war gutherzig, dann und wann steckte sie den Neffen ein paar Centimes zu, damit sie sich Bärendreck oder eine Scheibe Türkischen Honigs kaufen könnten. Doch: einen ganzen Sou — nur um die Bestien zu sehen, das war zuviel.

Also versuchte Leon sein Glück bei der Mutter. Sie aber zeigte sich ängstlich. „Ihr, Kinder - zum Zirkus? Noch dazu allein? — Niemals! Denk, wenn ein Tiger freikommt, wenn eine Schlange aus ihrem Gefängnis entweicht, das ist schon oft vorgekommen, und dann fallen sie an, was ihnen in den Weg kommt, sie sind wild von der langen Gefangenschaft, wilder noch als in der freien Natur. Überhaupt ist’s eine Sünde, Tiere in Käfige zu sperren und sie zu quälen, damit man sie herzeigen kann."

Am anderen Tag erwartete Leon Veronique wieder an der Mauer. „Hast du das Geld?" war ihr erstes Wort, als sie seiner ansichtig wurde.

Leon errötete. „Nein. Ich habe es nicht. — Aber morgen“, log er, „morgen werde ich es bekommen.“

Am nächsten Tag hatte er das Geld noch immer nicht. Veronique zuckte verächtlich die Achseln, als er ihr versicherte, daß er das Geld doch noch beschaffen werde. „Morgen ist der letzte Tag“, erwiderte das Mädchen. „Dann brechen sie das Zelt ab und ziehen weiter.“

Leon blickte sie verzweifelt an. Sie stand vor ihm und machte keine Anstalten, das Körbchen abzustellen wie sonst. Würde sie denn heute nicht zu ihm auf den Steinwall heraufsteigen? Eigensinnig hielt sie den Kopf gesenkt und blickte beharrlich vor sich nieder auf ihren nackten Fuß, mit dem sie in einem Büschel dürren Grases bohrte. Leon beugte sich vor, um nach ihren Mienen zu spähen — noch nie waren ihm ihre Lippen so rot erschienen, so rot, als wären sie mit Purpurfarbe gepinselt. Noch nie hatte er bemerkt, daß ihre kleine, weiße Nase von winzigen Sonnenflecken gesprenkelt war. „Morgen“, versprach er und wiederholte es inständig, „morgen werde ich das Geld haben, dann gehen wir hin, und ich nehme dich mit.“

Am Abend dieses Tages stahl Leon seinem Vater zwei Sous aus der Rocktasche.

Am anderen Tag ließ Veronique auf sich warten; sie kam so spät, wie sie noch nie gekommen war. Leon rannte ihr entgegen. „Siehst du“, sagte er, „ich habe das Geld“, und hielt ihr die Hand mit den Münzen hin.

Veronique beugte sich vor, als wollte sie ihren Augen nicht trauen. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf die beiden Sous — dann stellte sie das Körbchen nieder mit dem irdenen Krug und dem Brot des Vaters, sie stellte es einfach an den Wegrand hin und sagte: „Gut, dann gehen wir.“ Und sie folgte Leon, als habe er sie mit dem Geld gekauft.

Niemand wußte nachher zu sagen, wie es geschehen war und woran es eigentlich gelegen hatte, denn die Leute, die zu der Zeit im Zelt gewesen waren und der letzten Fütterung beigewohnt hatten, zerstreuten sich sehr rasch, vielleicht, weil sie sich schämten, daß sie sich von einem Nichts so sehr hatten erschrecken lassen, vielleicht auch, weil sie sich fürchteten, zur Verantwortung gezogen zu werden. Denn, obgleich man das Kind erst später fand, mußte sich doch in den meisten die Empfindung festgehakt haben, daß während der plötzlichen Panik in dem rasenden Gedränge irgendein Unglück geschehen sei.

Die Tierwäfter beteuerten, daß sie keine Schuld trugen, daß alles wie immer gewesen sei, wenn man die Leute in d e n Teil des Zeltes einließ, in dem die Fütterung stattfand. Die Gitter waren nach vorne geschlossen, und eine Barriere trennte, wie vorgeschrieben, Beschauer und Käfige. Wie immer hatten sie die Leute ermahnt, die Barriere nicht zu übersteigen oder gar die Hand zu den Bestien hineinzustrecken.

Man habe, gaben die Wärter zu, die Tiere ein wenig gereizt, das sei nun einmal Brauch, die Leute wollten ja etwas für ihr Geld sehen, sie kamen ja herein, um ein Schauspiel zu haben. Man mußte die faulen Katzen aus ihrer Ruhe scheuchen und die Schlangen veranlassen, um ihre Nahrung zu kämpfen.

Doch das war, wie gesagt, Brauch, und niemand hatte bislang etwas dabei gefunden.

Das Unglück war, daß die Kette der großen Petroleumlampe riß, die vor der Barriere an einer eisernen Stange hing. Hatte sie jemand in Schwingung versetzt oder gar an ihr gezerrt? Die Lampe schlug herunter, und in das Klirren und Splittern und in die jäh eintretende Dunkelheit erscholl das Gebrüll des großen Tigers Jussuf.

Im Kampf um den Ausgang war eine Frau niedergestoßen und eine der roten Tuchportieren abgerissen und sogar der Tisch mit der Kasse umgeworfen worden, so daß die ganze Tageslosung in den Staub rollte. Nachher fand man auf dem Platz die Spuren des Kampfes: Zwischen den Kupfer- und Silberlingen lagen abgetretene Knöpfe, abgetretene Litzen, ein zersplittertes Binokel, ein zerbeulter Hut. Eine Frau war zu Falle gekommen, aber sie hatte sich schließlich noch selbst erheben und aus eigener Kraft, wenn auch in zerrissener Bluse und aus gequetschten Lippen blutend, nach Hause begeben können. Das kleine Mädchen fand man erst später unter einer umgestürzten Bank, platt auf dem Boden liegend, regungslos . .

Es ist Nacht geworden in Perigueux, und die Straßen sind fremd und die Häuser sind fremd, alles ist fremd für das Kind, das herumirrt und nicht weiß wohin.

Irgendwo ist Fenestreau, sind Vater und Mutter, die gute Tante Eugenie, irgendwo ist das weiße, weiche Bett im Winkel, die kleinen Brüder, Wärme, Sattheit und Schlaf.

Hier ist Nichts, schreckliches Nichts, leere, grausig leere, finstere Gassen. Die bläuser stehen hinter den Verriegelten Läden stumm und feindlich und wie versiegelt.

Eine Gasse hinter der anderen, und der eigene stolpernde, rennende Schritt hallt schrecklich laut durch das finstere Labyrinth. Das Kind denkt: Wo bin ich? Ist das Perigueux? Hier bin ich noch nie gewesen, hier nicht und auch hier nicht, Großvater und Großmutter wohnen in einer anderen Stadt. Im Käfig brüllen die Tiere, sie schlagen mit den Tatzen, sie springen gegen die Stäbe, die kommen frei. Veronique haben sie verschlungen, mich werden sie verschlingen, sie kommen mir nach …

Niemand ist auf der Gasse, die Menschen haben sich in ihre Häuser geflüchtet, haben die Türen hinter sich versperrt und die Lichter gelöscht, damit die Tiere nicht wissen, wo sie wohnen. Die Menschen stehen hinter den Fenstern und spähen durch die Spalten, spähen, ob sie schon kommen, die Tiger, die Affen, die Schlangen, die hinter mir her sind, hinter mir, hinter mir, dort duckt sich der Tiger im Sprung.

Und niemand wird mir auftun, wenn er heran ist.

Das Kind keucht eine Gasse hinauf, eine Gasse hinab, es setzt um die Ecken, es rennt im Kreis, eine Treppe hinauf, einen Graben entlang. Da — mit einem Male wird es hell. Die Häuser treten auseinander, ein großer Platz liegt vor ihm, aus leichten Wolkenschleiern tritt der Mond und überschwemmt den Raum breiten Treppen: der Dom. Das Kind erkennt: Hier bin ich schon einmal gewesen.

Hier war es — irgendwann — die Mutter trug mich. Ich saß auf ihrem Arm, ich hing an ihrem Hals, ich spürte ihr Gesicht, sie redete zu mir. Sie trug mich dort hinüber und hinein.

Etwas Süßes, Kühles wehte mir entgegen, es kam aus dem offenen Tor, eine tönende Woge, ein wogender Duft, ein duftender, wogender Wind. „Horch, die Orgel!“ sagte die Mutter, und der Ton trug uns empor, sie und mich die Stufen empor und in ein goldenes Dämmerdunkel hinein. Dort stellte sie mich nieder und sank in die Knie, und mit ihrer Hand, von der eine kühle Wasserperle rann, berührte sie meine Stirn, meine Lippen und meine Brust.

Die Tiere sind vergessen, hinten geblieben, irgendwo, von der schwarzen, bösen, stinkenden Stadt verschluckt. Hier ist nur Licht — ein silberschuppiges Flimmern, tausend Lichtungen raunen und flüstern mir zu: Komm! Komm!

Das Kind sieht seinen Schatten vor sich wandern, er wandert geradewegs zum Tor von Saint-Front hinauf.

Ach, jetzt erkennt er das in die Wand versenkte Portal, die Bogen, die Giebel, die Nischen, und auf zwei steinernen Löwen stehen zwei Säulen und tragen ein hohes, mit funkelnden Spitzen besetztes Dach.

Der Knabe bleibt stehen und schaut hinauf. Irgend etwas durchschauert ihn süß und zart, süßer und zarter noch als damals, als die Mutter ihn trug und die Orgel erbrauste. Er sieht: ein großes Auge tut sich über ihm auf.

Das Auge ist tief wie die Welt und schaurig schön wie die gestirnte Nacht, und unter seiner Braue haust das Herrliche: ein Mann sitzt auf einem Thron, hält ein Kreuz im Arm und in der Hand eine Waage.

Könige sind sein Gefolge, Engel seine Trabanten, alle Nischen sind von ihnen erfüllt; einer steht auf des anderen Schulter, wie Trauben drängen sie aus dem Gewände, wie ein ungeheurer steinerner Rebstock rankt sich ihr Chor um das Bild des Gerichts.

Die Löwen unten, die die Säulen tragen, wie liegen sie friedlich mit gekreuzten Tatzen, weiß und glänzend, glattgeschliffener Marmor, die Locken der Mähnen zu schönen Ringen gelegt. Sie scheinen zu lächeln, ihre Mäuler klaffen, furchtlos schießt Leon seine Hand zwischen ihr Gebiß.

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