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Digital In Arbeit

Er scliaute nickt kinter sick

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Er öffnete den Brief. Er Wägt es Und verlangt von mir, daß ich als sein Entlastungszeuge auftrete, dachte er — und die alten Bilder waren wieder da, die quälenden Bilder, an die zu denken er sich weigerte, wenn sie in seiner Erinnerung auftauchten.

Er roch wieder den Geruch des Lagers, den Geruch verbrennenden Torfes, der alle Dinge beizte, auch das abstebbende Fleisch, er slh die Toten, die Erschlagenen und Verhungernden. Er fühlte wieder die Hoizschuhe an den Füßen, fühlte die zerbrechliche Kugel seines kahlgeschorenen Schädels.

Er taumelte. Er spürte einen stechenden Sehmer wie eine Nadel in dis Herz dringen,

Die Torfkolonne folgte der sinkenden Sonne. Die Holzschuhe knirschten im trockenen Sand. Die braunen Pyramiden der zum Trocknen aufgetürmten Torfziegel und die lähgrückigen Hügel der bereits trockenen Ziegel waren die einzigen Erhebungen in dieser Ebene, Die Kolonne schob sich vorwärts, ein dürrer Tausendfüßler, über dessen mechanisch sich senkenden und hebenden Beinpaaren abgemagerte Insektenköpfe schaukelten.

Ich stürze, dachte er angstvoll. Er drückte beide Hände gegen den schmerzenden Leib, als könnte er damit einen letzten Rest von Kraft in den zuckenden Herzmuskel pressen. Seine scharfen Rippen haschten hastig nach I.uft. Nur jetzt nicht stürzen, dachte er. Seine Holzschuhe stießen gegen ein Stück Torf, seine Beine verhaspelten sich. Er war aus dem Mechanismus der sich senkenden und hebenden Beinpaare herausgekommen. Er stolperte hilflos zwischen den Tritten der anderen.

In diesem Augenblick spürte er einen durchdringenden Schmerz irrt Rücken brennen, eine weißglühende Flamme des Schmerzes, die den dumpfen Nebel seiner Gedanken in einem Sekündenbruchteil wegbrannte. Er keuchte, duckte sich, stolperte. Seine Holzpantinen flatterten in den mechanischen Takt des Tausendfüßlers zurück. Die Schmerzempfindung knisterte wie hochgespannte Elektrizität in seinen Nervenzellen. Die Muskelfasern krampften sich zusammen durch eine Kraft, die nicht von ihm War. Die Beine bewegten sich hölzern. Er schützte den Hinterkopf mit ausgebreiteten Händen, aus einem Instinkt, von dem er nichts wüßte. Er erkannte irfi Dreieck der Armbeuge das verzerrte Gesicht des Wachpostens, er sah den weißlichen Schaurh auf den sehnigen Lippen des Schlagenden,

Verdammte Krücke, sagte der Moorpilz, Er hängte das Gummikabel an das Koppel zurück, machte Vöh der Kolonne fort einige Sehritte nach rückwärts und blieb Stehen. Er fühlte sich kräftig, fühlte die gesuhde Kraft seiner Armmuskeln, seines ganzen starken Körpers mit Befriedigung. Er hatte mit der harten Kraft seines gesunden Körpers eine Bresche geschlagen in den Sog, den diese kranke verfärbte Raupe aus Menschenleibern auf ihn ailsübte. Eine Bresche in den unsichtbaren saugenden Wirbel, dessen Anziehung er Tag und Nacht spürte. Er hätte von Zeit, zu Zeit das Bedürfnis, den sauren Schweißgeruch der Krücken, den süßlichen Todes- gestank der Verdammten, die scharfe Ausdünstung ihrer Angst, diese gallertartigen Polypenarme ihrer Ausstrahlung zu zerschlagen, abzuhacken mit den blanken Hieben des handfesten Stückes Gummikabel.

Der Sonnenball saß auf dem Horizont auf. Sein unterer Rand verschmolz mit dem glühenden Dunststreifen. Der Himmel verwandelte sich in einen grünen Kristall von unermeßlicher Tiefe.

Der Geschlagene schwebte in einer ‘Wolke von Schmerz. Dort, wo das Kabel hingebissen hatte, war die Haut aufgeplatzt und der Schmerz fuhr hinauf in die Kehle. Dieser Schmerz fuhr wie glühender Stahldraht in den Hinterkopf, ätzte die Gedanken aus den Hirnwindungen, fuhr elastisch in die Fersen, krümmte die Zehen, fegte bis in die Fingerspitzen, die Finger in Zuckungen verkrampfend. Er machte den Körper leicht, machte ihn schwerelos. Der Geschlagene fühlte sich trunken in einem atemraubenden

Licht, als hätte er durstig Aether geatmet.

Der Tischälteste bewachte seine Gruppe im Waschraum. Er hatte Kraftriemen an den Handgelenken und ging mit federnden Schritten durch den Raum. Er trug seine sauber gewaschene und geplättete Halsbinde lose um den Hals geschlungen, wie die Capos sie trugen. Er rauchte eine Primtüte und hatte eine Latte bei sich, mit der er die Langsamen anstieß, damit sie sich rascher wüschen. Er Stieß heftig zu, wenn er stieß, er schob das Moor von sich, wenn er einen der von der Wassersucht gedunsenen oder einen durch die Hungerruhr abgemagerten Körper traf. Er schob die Arbeit im Moor von sich und damit den Teufelsberg, wo jeden Vormittag die zuletzt Gestorbenen verscharrt wurden.

Der Geschlagene stand zögernd vor dem Wasserhahn. Sein Fleisch fürchtete sich vor der Kälte des Moorwassers, sein Kopf hing kraftlos auf die Brust hinab. Er starrte mit leerem Blick den Wasserstrahl an. In seinem Schädel war kein Gedanke und kein Impuls mehr.

Der Tischälteste stand jetzt hinter ihm und betrachtete die Zeichnung, die das Gummikabel auf. seinem Rücken hinteriassen hatte. Die Striemen, wulstig angesthwollen, an vielen Stellen geborsten, kreuz und quer über den Rücken, die Schultern, den Nacken geführt, erinnerten ihh an die chinesischen Schriftlichen, die er einmal auf einer Teereklame gesehen hatte.

Mausohr?, fragte er kameradschaftlich.

Ein Mann von der zweiten Wasserrinne, der sich eifrig wusch, beeilte sich, dem Tischältesten Auskunft zu geben. Mausohr war heute nicht mit, der Moorpiiz war’s, sagte er schnell,

Dem Tischältesten fiel auf, daß der Zerschlagene nicht geantwortet hatte. He, Franz, rief er jetzt munter und schaute ihm in das Gesicht. Angewidert, erschreckt zog er sieh einen Schritt zurück. Er hatte den leeren Blick erkannt.

Du machst auch nicht mehr lang mit, du Krücke, sagte er jetzt höhnisch, du gehst auch bald über den Teufelsberg, Mann. Wasch dich, mach Voran und denn nichts wie ab zum Sani, verstehst du?

Er kam langsam in Wut. Dieser Verlorene reizte ihn auf, diese schlappe Gestalt forderte Tritte und Fausthiebe heraus. Er stieß mit der Latte fest zu.

Der Geschlagene taumelte. Der Schlag mit der Latte hatte sein Bewußtsein hervorgerufen. Er beugte sich unter den Wasserstrahl. Er verteilte das Wasser eilig mit den Handflächen über den nackten Leib. Die Worte des Tischältesten hatte er nicht begriffen.

Sollst zum Sani gehen, sagte der Nebenmann halblaut zu ihm, um ihn vor dem nächsten Stoß mit der Latte zu bewahren.

Jawohl, Tischältester, Sani geben, sagte der Geschlagene plötzlich mit hoher Stimme in die Stille hinein.

Sani gehen!, machte der Tischälteste die hohe Stimme nach. Er lachte in dem Gefühl, daß er hoch über diesem Zerbrochenen stand.

Er lachte und schlug sich auf den Schenkel.

Sie hocken um den Tisch herum, fünfundzwanzig Moorarbeiter Sie löffeln gierig die Grünkoblsuppe, fettloses Salzwasser mit Grünkohlblättern. Die kahlgeschorenen Schädel sind tief über die Blechnäpfe geneigt. Die meisten haben die zentimeterdicke Brot schnitt schon verschlungen, die jeden Abend vor der Suppe lüsgeteilt wird. Einige haben das Brot in den Suppennapf gekrümelt, aber nur wenige heben diesen starken Willen, das Brotstück die langen Minuten hindurch bis zur Verteilung der Suppe aufzuheben. Sie empfinden das warme Wasser wohltuend in den vom Hunger zusammengeschnürten Ein- geweideh.

Sie rennen unter dem Kommando des

Tischältesten in den Waschraum, spülen die Näpfe b, rennen zurück und verstauen sie in die Spinde. Jetzt dürfen sie eine halbe Stunde lang unter der kahlen Glühbirne sitzen, Knöpfe annähen, Löcher in den Beiderwandhosen flicken. Sie sprechen leise miteinander. Der Geschlagene scheuert seinen Eisenlöffel mit Reibsand. Jetzt geschieht, Was alle gefürchtet hatten. Der Frosch Zieht die Brotscheibe hervor, die er bis jetzt verwahrt hatte. Er bringt es fast jeden Abend fertig, die Brotscheibe bis zur FlickstUhde aufzu- heben. Er zieht sie gleichmütig hervor, be- trsditet sie, als Überlegte er, ob er sie nicht dok länger in der Taske lassen sollte. Dann beginnt er sie langsam zu verzehren.

Alle, bemühen sik, nicht hinzuskauen. Sie sehen, wie dieser Mensk von der Skeibe kleine Stüekken abbröekelt, wie er sie zum

Mund führt, wie er langsam kaut, als hätte er einen Broken Fleisch zu zerkauen. Sie sehen jede Phase des Vorganges, auk wenn sie nicht hinbliken, Sie lauern auf jeden Krümel, den er in den Mund steckt. Die Gier nak Nahrung tobt in ihren Eingeweiden. Jede Handbewegung, jedes Räuspern des Essenden peinigt sie. Er fühlt den Haß, der in diesen Minuten in der Luft skwelt. Er hebt sik die Brotsknitte nikt auf, um die anderen zu quälen, er hebt sie auf, um sik von ihnen zu unterskeiden.

Der Gesklagene, der sonst die Pein am stärksten duldet, weil er neben dem Frosk sitzt, spürt heute am wenigsten. Er fiebert. Er hat den Kopf auf die Hände sinken lassen, die er auf die Tiskplatte gelegt hat. Seine Gedanken sind jetzt glasklar. Er Weiß, daß alle, die stärker sind, ihn hinabstoßen. Er weiß, daß ihnen sein Leiknam recht sein wird, um darauf zu steigen und eine Handbreit höher zu stehen, höher, näher beim Leben. Er weiß, daß auk die anderen, die schwäker sind als er, die gänzlich Ausgeronnenen, die vom Hunger gänzlidi Ausgedörrten, die von der Wassersucht unförmig Gedunsenen in der Krückenbaracke, die von der Krätze Zerfressenen in den Krätzebaracken, er weiß, daß auk diese ihn hassen, so wie sie jeden hassen, der nok aufrekt geht.

Er aleht den Moorpiiz vor sich, sieht dieses glatte gesunde Gesicht, diese kühlen Augen hinter den Stahlbrillen, diese sehnigen Lippen. Er Weiß fVon sik, daß auk er jetzt töten kann. Er stößt den Teüfelsberg Von sich, stößt die Gemarterten, die Zerstoßenen von sik. Er schiebt die Toten in ihren Erdlökem von sik fort. Er schlägt sik zu denen, die töten, weil sie leben Wollen. Seine fieberheißen Hände skließen sich wie Raubvogelklauen um den Hals dieses einln Menschen, den er haßt wie nichts in der Welt. Er sieht die kühlen grauen Augen des Moorpilzes aus ihren Höhlen quellen, Er drückt in seiner Fieberhitze weiter zu. Er sieht die Sehnigen Lippen sik verfärben. Er drückt Weiter zu, spürt, wie die Knorpel dieses Halses nachgeben. Er läßt nikt mehr los, bis er den Feind getötet hat,

Er hebt den Kopf, Öffnet die Augen. Hier liegt noch der Brief, und hinter ihm löst sieh spukhaft das Gesikt des toten Feindes in nikts auf. Er spürt, wie sein Blut immer nok nak Rake dürstet. Er spürt die ungestillte Rache als einen Skmerz im Innersteh Wühlen.

Ich habe vier Kinder, bitte helfen Sie mir“, steht als letzte Zeile in diesem merkwürdigen Skreibeh. Er nimmt ein Blatt Papier, er stößt die Worte aus sik heraus, die er skreibt, „Wie können Sie es wagen, mir diesen Brief zu skitken?“, schreibt er, „haben Sie jemals an unsere Kinder gedakt? Damit Sie es wissen, Moorpilz — ich hasse Sie!“

Er betraktet diese Sitze. Seine Mundwinkel zittern. Er kann ihren Anblick nikt ertragen, er nimmt das Papier, zerreißt es in kleine Stüdte. Er hört seine Frau das Nebenzimmer betreten, hört, wie sie mit dem Säugling spricht, der jetzt seine Vormittagsmahlzeit aus der Saugflasche bekommt.

Er nimmt ein neues Blatt, setzt die Feder an. Er hat das Gefühl, daß jemand hinter ihm steht und die Feder führt. Er wehrt sich, er macht Pausen zwisken jedem Wort.

Er nimmt die Lösehwiege, er trocknet die Zeilen mit einer Heftigen Bewegung ab. Dann liest er das Geskriebehe nokmals. „Ik werde für Sie tun, was in meiner Macht steht, Moorpilz“, liest er.

Er hat das Bedürfnis, sich rasch umzu- drehen, um zu schauen, wer es ist, der hinter ihm steht und die Feder führte.

Er trommelt mit den Fingern unruhig auf der Tischplatte. Er skaut sich nikt um, denn er Weiß, daß er niemanden sehen würde, wenn er jetzt hinter sik blickte.

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