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MARSCH ZUR GIPFELKONFERENZ

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Sergeant-Trompeter Javelle stieß den schweren Sarg mit seiner Knochenhand zurück und atmete tief. Dann sah er sich mit seinen hohlem Augen neugierig um. Er war der erste. Trompeter Javelle grinste einen Augenblick, Der große Soldatenfriedhof lag weit offen in der Nachtstille, weiße Nebelschleier schwebten von Kreuz zu Kreuz. Darunter lagen Soldaten, Soldaten, Tausende von Soldaten, die Zähne noch verbissen im letzten Schmerz.

Trompeter Javelle hob den Kopf und sah zu den Sternen auf. (Über seiner Nasenwurzel war ein kleines Löohlein, doch vor siebzehn Jahren hatte es genügt, vollauf genügt.)- Ein kalter Wind wehte von Nordwest. Kalt war es, bitter kalt. Er blies zwei schmetternde Trömpetensignale in die gefrorene Luft.

Im selben Augenblick begann sich die ganze Fläche zu bewegen; bleiche Hände wühlten die Erde auf, Särge wurden umgestülpt und Tausende, Zehntausende von Gestalten erhoben sich schweigend aus der Erde, sie steckten die Schultern heraus und wühlten sich mit leise knackendem Geräusch empor.

Dann erstarrte alle . Ein unabsehbares Heer stand regio , jeder, neben, seinem Grab hoch aufgeridbtet, mit geschultertem Gewehr. Es war fast still. Nur hier und dort raschelten Erdklumpen zwischen den vermoderten Kleidern und fielen dumpf zu Boden.

Trompeter Javelle erhob die Hand; er drehte sich um und schritt vorwärts. Und hinter ihm tausende gleichmäßige Schritte.

Gegen Morgen verbreitete sich das furchtbare Gerücht über die Felder. Bim-bam, bim-bam riefen die Glocken in den Türmen und Menschen, Pferde und Kühe flohen über die Wege mit schreckgeweiteten Augen. Nur fort, fort! Da waren Kinder, die heulend ins Wasser liefen.

In den großen Städten wurde das Volk von Unruhe ergriffen; auf den Plätzen und an Straßenecken standen die Leute in Gruppen und redeten, machten heimliche Gebärden und blickten über die Schulter. Die Kirchen füllten sich plötzlich mit Frommen, und in den zuständigen Kreisen beratschlagte man über entsprechende Maßnahmen. In den Redaktionen war ein Rennen, Hasten, Artikelschreiben und Türenschlagen.

Und immer weiter zog das schweigende Heer mit brausendem Schritt gegen Osten; gerade auf Genf zu, wie man behauptete.

Der Präsident gähnte versteckt hinter der Hand und sprach: „Das Wort hat Mr. Zero.“ Hierauf ließ er sich nieder und schneuzte sich leise.

Monsieur Zero war ein Mann, dem es mit dem Frieden ernst war. Er trat ans Rednerpult und sprach Laut und lebhaft. Man müsse die Angelegenheit objektiv betrachten. Es müßten beiderseits Konzessionen gemacht werden, ohne dabei die verwickelten sozialen und nationalen Fragen aus dem Auge zu verlieren. Seine Regierung sei nötigenfalls zum Äußersten bereit — wenn die anderen vorangingen. Er habe bereits gewisse Pläne, wolle jedoch mit einer definitiven Erklärung noch ein wenig warten. geh. Er sei rr’Wesentlichen aer Ansicht seines-Vorredners und danke diesem. Seine Regierung fühle das Bedürfnis, nochmals ihr Einverständnis mit den bevorstehenden Maßnahmen auszudrücken, ziehe aber einstweilen eine abwartende Haltung vor. Man solle nicht verzweifeln, doch mutig vorwärtsschreiten. Die Augen der ganzen Welt seien auf diese Versammlung gerichtet. Man müsse sich dieses Vertrauens würdig erweisen.

Nach kurzem Nachdenken erhob sich der Präsident und dankte für die warmen Worte. Wenn jedermann so zum Friedensgedanken stände, wäre die Welt einen guten Schritt weiter. Er fühle das Bedürfnis, seine tiefe Bewunderung für den Takt und das Verständnis zu äußern, mit welchem diese heikle Frage behandelt worden sei.

Und nun verlieh er Herrn Bilsenow das Wort.

Herr Bilsenow trat ans Pult. Er war ein bleicher Mann mit schwermütigen, schwarzen Augen. Seine Gebärden waren sehr gemessen. Er wünschte, gleich seinem Vorredner, die Angelegenheit zu einer für alle Teile befriedigenden Lösung zu bringen. Wenn die andere Seite, sich zu gewissen Konzessionen entschließen könne, sei seine Regierung zu bestimmten Schritten bereit. Dies alles unter Vorbehalt einiger Bedingungen. Er könne nicht genug vor dem aufsteigenden Nationalismus warnen. Seine Regierung sei, wie alle Anwesenden wohl wüßten, in Sachen der Abrüstung — „auch der geistigen, meine Herren!“ — weiter gegangen als alle anderen Nationen. Er. warne nachdrücklich vor imperialistischen Umtrieben. „Die Geister von gestern marschieren, meine Herren!", rief Bilsenow mit erhobener Stimme und schlug mangels eines passenden Gegenstandes mit seiner Aktentasche auf den Tisch. Wenn seine Regierung, die — im Gegensatz zu manchen anderen Regierungen — die Meinung des Volkes verkörpere, darauf bestehe, Raketen zu entwickeln, sei dies nur eine Sache der wissenschaftlichen Forschung. Die neuen Unterseeboote hätten die Aufgabe, die Fauna des Meeresgrundes zu untersuchen. Die gemeldeten Explosionen beträfen lediglich seismische Probleme.

„In der Erde, meine Herren, tief unten

•Draußen ertönte ein fernes Geräusch. DeT Präsident hustete, dann lauschte er einen Augenblick. Er sah auf die Uhr; gleich würde der Ball im „Les Deux Mondes“ beginnen. Wenn der Kerl nur bald fertig mit seinem Geschwätz, ginge es noch. Er persönlich war zu jedem Kompromiß bereit, wenn es nicht im Gegensatz zu der Charta der Menschenrechte stand. Einmal müßte etwas geschehen. Jeder weitere Tag des Zögerns konnte fatal werden.

Draußen auf dem Platz verstärkte sich das Getöse. Bilsenow hob mitten in der Rede den Kopf und blickte durchs Fenster. Plötzlich wurde er aschfahl.

„Sprechen Sie doch weiter, Exzellenz“, sagte der Präsident nervös.

Doch nichts erfolgte. Der Redner griff sich an die Kehle. Die aufgerissenen Augen starrten hinaus.

Der Lärm verstärkte sich. Ein Geräusch von tausenden marschierenden Füßen, gleichmäßig gehoben, gleichmäßig aufgesetzt, das sich näherte, immer mehr näherte. Und kein anderer Laut als dieser. Es wurde immer stärker; es kam die Treppen herauf. Näherte sieh der Tür. Im Augenblick waren alle Abgeordneten aufgesprungen.

Nun war es gerade hinter der Tür. Jetzt war es an der Tür.

Wie sie auszogen, wie sie quer durch Frankreich marschiert waren, so traten sie ein: in guter Ordnung, schweigend, kerzengerade. Nichts Drohendes war in ihrem Auftreten, sie marschierten ruhig bis ans Ende des Saales und machten dort mit der von vor siebzehn Jahren gewohnten Bewegung Halt. Sie wollten sich nicht feierlich gebärden. Sie hielten die Schädel regungslos, die Knochenhände am Gewehr. Doch dies war das Ärgste nicht, das Ärgste waren ihre leeren, dunklen Augen, weit offen, ohne zu sehen.

Es muß zugegeben werden, daß der Präsident seine Haltung großartig bewahrte. Er war der einzige, der, bleich und bebend zwar, seinen Platz nicht verlassen hatte. Er versuchte zu sprechen. Seine Zunge glitt rasch über die Lippen; dann schluckte er. Aber er brachte keinen Ton hervor. Schließlich sagte er leise:

„Was wollt ihr?“

Ein Mann in Generalsuniform trat vor. An seinem Schädel fehlte der Unterkiefer. Er hob seine furchtbare Hand und deutete zum Fenster: draußen, auf dem großen Platz, standen sie aufgestellt, Mann an Mann, Gewehr an Gewehr, regungslos. Ein Ozean von glanzlosen, verbeulten Helmen, ein Wald aus rostigen Bajonetten. Ein Geruch von Erde und vermoderten Kleidern wehte in den Saal.

Der Präsident zögerte, sah rasch um sich, dann nahm er die Beine in die Hände. Seine Rockschöße wehten wie Flügel im Wind. Und hinter ihm alle Delegierten. Nie mehr hat man in den Straßen von Genf bejahrte Herren so schnell laufen gesehen.

Als eine Stunde später Kommissär Leroux mit einem Regiment Schweizer Kavallerie auf den Platz sprengte-, war nichts mehr zu sehen. Man suchte überall, doch sie waren verschwunden, wie sie gekommen waren, schnell, unbemerkt, geräuschlos. Nichts als ein Helm, eine Kugelhülse und ein Knochensplitter waren zurückgeblieben. Kommissär Leroux erstattete einen glänzenden Bericht; er wurde auch kurz darauf befördert. Der Abgeordnete Bilsenow wußte den Faden seiner unschätzbaren Darlegungen wieder aufzunehmen. Er persönlich war der Meinung, eine totale Entwaffnung sei noch etwas verfrüht, doch müsse er seine Regierung zu Rate ziehen. Aber er könne bereits verraten, daß sie die Geschehnisse in Genf und bei den Vereinten Nationen mit Aufmerksamkeit verfolge. Für einen definitiven Entschluß halte er den Moment noch nicht gekommen. Vorderhand sei seine Parole: Abwarten.

Der stürmische Jubel, welcher diese Ansprache belohnte, ver- anlaßte den Außenminister, mit gebeugtem Haupt abzutreten. Als der Jubel anhielt, lächelte er kurz. Und als er kein Ende nehmen wollte, stand er auf und sagte, daß es nicht der Mühe wert sei. — Womit er recht hatte.

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