Nirgends ist man so einsam wie in einer großen Stadt. Wer dort das kleine Nest seiner Familie verläßt und die Wohnungstür hinter sich schließt, wird plötzlich ein Schattenriß in der Straße, ein Passant, ein Namenloser. Und von allen europäischen Städten ist Paris die unwirtlichste. Das „je m’en fiche“ steht dem Pariser ins Gesicht geschrieben. Die niederländische Variante „du kannst tot hinfallen“ ist eigentlich zu mild, denn sie setzt noch eine gewisse Anteilnahme beim Verscheiden voraus. In Paris geht man weiter. Es ist auch die einzige Stadt in der Welt, die den
Bei Durchsicht meiner Post entdeckte ich noch gerade rechtzeitig eine Einladung zu einer Ausstellungseröffnung. Die Einladung war in wirrer Buchstabenkombination gedruckt, und mitten im Text prangt ein mit Sorgfalt angebrachter Tintenklecks. Die Namen der ausstellenden Künstler fingen selbstverständlich mit Kleinbuchstaben an, und alle K waren als C geschrieben und umgekehrt. So fand ich beispielsweise einen Carl und einen Curd, aber auch zwei Kristinas und einen Kornelius.Vor dem Ausstellungsgebäude stand ein Bartmensch, der das Vorweisen meiner Karte mit einem unbekümmerten „Ach,
Es war einmal ein Märchenerzähler, der fühlte sein Ende nahen. Sein Leben lang hatte er von Zwergen erzählt, und nun wollte er vor seinem Tode noch einen Zwerg sehen, einen wirklichen Zwerg. Er suchte im Vorratssehrank, in der Brotbüchse, unter dem Büfett, aber nirgends war ein Zwerg zu finden. Da begann der Märchenerzähler zu weinen.„Ach, lieber Gott“, sprach er, „Sie sind zu Ende. Es gibt keinen einzigen mehr. Mein ganzes Leben lang habe ich fest an Zwerge geglaubt, aber jetzt weiß ich, was ich davon zu halten habe. Er hatte also doch recht, der Krämer von nebenan, der mich
Sergeant-Trompeter Javelle stieß den schweren Sarg mit seiner Knochenhand zurück und atmete tief. Dann sah er sich mit seinen hohlem Augen neugierig um. Er war der erste. Trompeter Javelle grinste einen Augenblick, Der große Soldatenfriedhof lag weit offen in der Nachtstille, weiße Nebelschleier schwebten von Kreuz zu Kreuz. Darunter lagen Soldaten, Soldaten, Tausende von Soldaten, die Zähne noch verbissen im letzten Schmerz.Trompeter Javelle hob den Kopf und sah zu den Sternen auf. (Über seiner Nasenwurzel war ein kleines Löohlein, doch vor siebzehn Jahren hatte es genügt, vollauf
Ich habe mein ganzes Leben darüber nachgedacht, wie man mit Kellnern umgehen muß. Es ist ein interessantes Problem. Wir stehen hier ja Auge in Auge mit den letzten Resten einer feudalen Epoche. Mit einer demokratischen Verhaltensweise kommt man deshalb auch nicht aus. Es gab einmal eine Periode, und ich denke nicht ohne Scham daran zurück, in der ich glaubte, daß ein freundlicher, herzlicher Gesprächston die Lösung wäre. Wie vollständig verkehrt ist diese Ansicht. Der Kellner ist ja nicht die Partei, die zufriedengestellt werden muß. Die sind Sie. Er ist von beiden derjenige, der sich
Ein englischer Lord, Sir John Whitaker, hat unlängst sein Landgut zur Verfügung gestellt, und zwar ausschließlich an — Verliebte. „Belebte Plätze", so der Edelmann, „sind für Liebende ungeeignet. Früher, als ich selbst auf Freiersfüßen ging, wählte ich einsame Pfade."Beginnen wir damit, diesen Lord einen Engel von einem Menschen zu nennen. Wenige Menschen, außer Verliebte selbst, nehmen das Ver- liebtsein ernst. Die meisten Erwachsenen lassen sich geringschätzig darüber aus, ohne Verständnis dafür, daß sie ihm nicht nur ihr eigenes Ei wachsensein, sondern auch ihre Familie
Der König wandelte durch seinen Garten. Es war Mitte Mai. Die Sonne schien, die Springbrunnen sprangen funkelnd empor, und Goldfische, so groß wie Delphine, schossen durch das kristallklare Wasser. Im Pavillon spielte ein Orchester und sieben Tänzerinnen tanzten um das Rosenbeet. Ueberall standen Zauberer, die zauberten, und auf dem Mittelweg stand ein Bauchredner und redete Bauch. Der König gähnte. „Wenn doch einmal etwas geschähe”, sagte er, „man kann sich rein zu Tode langweilen.” Aber er wußte nicht, was geschehen sollte, denn alles, was er sich ausdenken konnte, geschah
Der menschlichen Verirrungen sind viele. Man kennt Wadenstecher, Nacktgänger, Mormonen, Frauenfeinde, Wettgeher, Scheibenzerstörer, Frauenrechtler, Alkoholiker, Abstinenzler und Sammler von Streichholzschachtelmarken. Zu den merkwürdigsten Kostgängern des Herrgotts sind aber die Zwanzigjährigen zu rechnen, die sich selbst, aus Gründen, die keiner begreift, als „Literaten“ betrachten. Man erkennt sie an einer etwas fahlen Gesichtsfarbe, einem überschwenglichen Haarwuchs, einem völligen Fehlen des Humors, Halskragens und Oberhemdes und einem übermäßigen Kaffeehausbesuch.
Da ich selbst leidlich ringe, was mir bei Meinungsverschiedenheiten mit meinen Verlegern ausgezeichnet zustatten kommt, ging ich Donnerstag abend zu dem Ringturnier in der Apollohalle in Amsterdam in Gesellschaft Arie Bombaries, Meisters von Edam (N.-H.) und Wilhelm Borstkas, ehemaligen Meisters von Lisse (Z.-H.), beide verdiente Ringer, mit denen ich immer gut auskommen konnte.Das Programm begann mit einem Kampf dreier Runden zwischen den Herren Jackson (80 kg) und Parnera (83 kg). Es war sehr nett, doch nicht das, was Arie, Wilhelm und ich ringen nennen. Es war zuwenig alles oder nichts,
Jo van Nieland-Braat! Wie vertraut klingt dieser Name in der sicher umschlossenen Intimität der niederländischen Wohnzimmer ... Eine Wolke lieber Erinnerungen stieg in mir auf, als ich ihn auf der Vordertür ihrer Wohnung in Bilthoven stehen sah, wo die Verfasserin, weit außer dem Lärm des täglichen Lebens, ihren Lebensabend verbringt. Und sofort in dem einfachen Studierzimmer, in das der Hausdiener mich einließ, sah ich die Bücher schon stehen, diese hübschen, gesunden Mädchenbücher mit diesen reizenden Titeln: „Gisela schafft es“, „Trude hält durch“, „Laura tut den
„Ist es wahr, daß Sie eine Zeitschrift gründen wollen?“„Ja, das wollen wir.“„Und wie ist dieser Plan so plötzlich gekommen?“„Dieser Plan ist nicht plötzlich gekommen. Er ist gewachsen.“„Du liebe Zeit, wie merkwürdig! Wann?“„Eines Abends. Wir saßen beisammen, lauter begabte junge Menschen, die etwas anderes wollten. Und auf einmal begriffen wir, was es sei: eine Zeitschrift.“„Eine literarische Zeitschrift?“„Nein. Breiter. Eine Zeitschrift allgemein kultureller Tendenz.“„Gibt es nicht schon mehrere solcher Zeitschriften?“„Nicht in dem Sinne, in dem wir
Die größte Kirche von Paris, die Notre- Dame, und die kleinste, Saint Julien des Pauvres, liegen nahe beieinander. Wenn man eines Sonntags in der winzig kleinen Kirche von Saint Julien atemlos lauscht, hört man in der Ferne die Orgel der Notre-Dame donnern. Lauscht man noch aufmerksamer, dann hört man tausende Vögelchen zwitschern. Zwischen den beiden Kirchen liegt nämlich der Vogelmarkt von Paris.Es ist ein kleiner, von alten Ulmen überschatteter Platz, wo man Sonntags von morgens sieben Uhr bis abends halb Zehn ein Vögelchen kaufen kann, in der Farbe und von der Größe, die du nur
Sofort nach der Erklärung Herrn van Mugerens, daß er außer den „Emmausjüngern“ noch zahlreiche andere Gemälde „aus dem 17. Jahrhundert hergestellt habe“, überfiel uns Kunstkenner eine tödliche Unruhe. Begleitet von Dr. Tyntjes dem berühmten Sachverständigen der Ming-Dynastie und von einigen anderen, denen man ebensowenig ein X für ein U vormachen kann, eilten wir zum Rijksmuseum. Der Pförtner, der uns herankommen sah, brach schon von ferne in ein schallendes Gelächter aus. „Wertlose Schmiererei!“ rief er, den Daumen über die Schulter, auf die Säle zeigend. Wir standen
Die Ämsterdapier Kirmes kommt nach gut dreiviertel Jahrhundert wieder zurück! Du lieber Himmel, welch eine Seligkeit… Dennoch müssen wir den Kopf nicht verlieren. Wer in Holland den Kopf verliert, schaut fremd drein. Denn er behält wenig übrig, das der Mühe wert geachtet wird. Um so erfreulicher darum die Reaktion des bekannten Archäologen Prof. Dr. T. Ff. Kwak- kernaat, der, sobald er die Nachricht erfuhr, ohne zu zögern, den Spaten zur Hand nahm und sich schweigend nach seinem Hintergarten begab. Dort angelangt, zog er den Rock aus und begann zu graben. Drei volle "Lage grub Prof.
Mein Freund, Adriaan Pluvier, der ein zurückgezogenes Dasein in Amsterdam (N. H.) führt, ist ein Maler ungewöhnlicher Bedeutung. Er stellt wenig aus, weil die offizielle Kunstkritik ihm schnuppe ist. Und da die Gefühle gegenseitig sind, ist Pluvier (in den Bierschenken, die er öfter besucht, deutet man ihn mit dem mehr vertraulichen Namen „Plu“ an) nahezu unbekannt, doch darum kümmert Plu sich gar nicht. Er hat wohl mal gesagt: „Auch wenn ich auf einer unbewohnten Insel wohnte, würde ich noch weitermalen.“ Sieh, das sind die wahren Brüder.Pluvier ist nicht nur Maler, sondern
Wer Mittwochabend in Zandvoort dem städtischen Orchester aufmerksam zuhörte, hat sich nicht verrechnet. Man kehrte munter heim, die Ueberzeugung mit sich tragend, daß das Zandvoorter Musikleben, wiewohl es die Kinderschuhe noch nicht abgelegt hat, sich dennoch auf dem guten Wege befindet und durch ständiges Durchhalten (ich denke hier vor allem an die Streicher, die Bläser und das Schlagwerk) an Höhe und Tiefe gewinnen kann. Denn mit gutem Willen kommen wir noch nicht ans Ziel. Es oll gearbeitet werden. Und feste. Ich denke hier vor allem an die Bläser. Die Holzinstrumente klangen
Ich hatte schon viel von dem modernen Dichter gelesen; aber nach seinem letzten Band „Das Herz auf der Folter“ (in Leinen 3.95 fl.) würde es mir klar: diesem Manne müßte man helfen.Doch zögerte ich noch. Jeder weiß, daß ich ein tapsiger Mann bin, der unter dem Deckmantel ekelhaften Scherzes seine vollkommene Geistesleere zu bemänteln versucht. Was sollte ich bei diesem Manne?Würde er, der täglich seine entsetzlichen Seelenkämpfe in Reime bradite, nicht in Lachen ausbrechen, wenn mein stumpfsinniger Kopf in seiner Türöffnung erschien? Aber sein vorletzter Band „Der nackte
„Und, Herr Rabilsky“, so fragte ich hierauf, „wie denken Sie sich den Verlauf des Wettkampfes?“Da der Altmeister geraume Zeit über die Antwort nachdachte, hatte ich Gelegenheit, das Zimmer genau zu betrachten. In Berücksichtigung der Persönlichkeit, die hier wohnte, konnte man es einfach nennen. Eine Hirtenbinsenmatte bedeckte den Fußboden. Links, bei dem kräftig entwickelten Klavier, standen zwei Lehnstühle in einer dröhnend nach vorne geschobenen Stellung. Einer davon war mit einer Seidenschnur abgeschlossen: die Sage ging, der große Lasker habe darin eine Tasse Tee
Gestern kaufte ich in einem unordentlichen, kleinen Laden zu Amsterdam ein kleines Gemälde, dessen Darstellung mir außerordentlich gefiel. Man sah in dem dämmrigen Zimmer eine Anzahl Menschen um einen Tisch herumsitzen: eine Dame, die, ein Auge zu, einen Faden durch die Oese einer Nadel steckte, einen alten Mann (vermutlich ihren Vater), der ein Pfeife rauchte, einen Herrn mit einer weißen Weste, der durchaus nichts tat und ein kleines Kind, das, den Kopf vornüber in den Armen, in Schlaf gefallen war. Durch das geöffnete Fenster sah man einen blühend aussehenden Herrn hineinschauen,
Ein Stückchen nachglühende Zigarettenasche hatte ein kleines, rundes Loch in meine Hose gebrannt. Ich begreife, daß es dich kalt läßt, aber ich erzähle es dir, weil der Unfall mich mit der Versicherungsgesellschaft in Fühlung brachte, der ich schon so lange meine Pfennige zahle, ohne durch das Anzünden meiner Woh- nuiig diese Herren zu irgendeiner Gegenleistung zu reizen. Heute war aber der Augenblick da, die reifen Früchte einer jahrelangen Vorsicht zu pflücken.Die Hose in einer Zeitung, eilte ich zum Büro der Gesellschaft. Der Pförtner, der einen neugierigen Eindruck machte,
Eure Mutter kann es nichts ja, nicht einmal eure Großmutter kann es. Niemand kann euch diese Geschichte erzählen, denn sie ist zu lang. Sie beginnt in uralten Zeiten und geht noch immer weiter. Darunj, um sie von allen anderen Geschichten zu unterscheiden, nennt man sie auch d i e Geschichte. Eure Mutter und eure Großmutter können euch sagen, wer der Mann ist, der sie erfunden hat. Darum nenne ich ihn nicht. Es ist besser, wenn ihr seinen Namen von eurer Mutter hört als von mir. In dieser Erzählung aber, welche ein Teil der Geschichte ist, werdet ihr ihm unter einem anderen Namen
Wie Wh dazu kam, Psychologie zu studieren, weiß ich nicht. Zuerst studierte ich ein Jahr in Amsterdam, dann zwei Jahre in London, darauf drei Monate in Paris, schließlich wieder zwei Jahre in Wien, worauf ich mich in Bussum als Uhrmacher niederließ. In Wien nun machte ich Bekanntschaft mit einem Schüler von Freud, namens Sigmund Blabatsky. Es war ein Mann mit einem Bart und funkelnden, schwarzen Augen. Man muß die Menschen ausreden lassen , sagte er, „dann kommen die verdrängten Komplexe von selbst herauf.“ Seine beiden Wartezimmer saßen dann auch jeden Morgen, den Gott gab,
Es war vor langer, langer Zeit; wohl nicht damals, als die Tiere noch sprechen konnten, aber jedenfalls bevor meine Großmutter geboren war. Irgendwann in der Zwischenzeit muß König Boruba gelebt haben. Ihr habt noch nie von König Boruba gehört? Dann ist es aber Zeit, daß diese Geschichte geschrieben wird. Hättet ihr zu König Borubas Zeiten gefragt: Wer ist König Boruba? so hätten euch sämtliche Gassenjungen ausgelacht. Man würde an eurem Verstand gezweifelt haben — wenn man dazu noch Gelegenheit gehabt hätte. Denn die Polizisten jener Zeit hatten die Gewohnheit, jedermann, der
Es war einmal ein junger Frosch, der wohnte in einem Gummiball und war sehr verliebt. Aber er wagte nicht, es seiner Angebeteten zu gestehen, denn er war ein wenig schüchtern von Natur. Nun kannte er einen alten Frosch, der schon viermal verheiratet gewesen war und daher wissen mußte, wie man es seiner Liebsten sagt. Doch der junge Frosch traute ihm nicht recht, und so schwamm er unentschlossen auf und ab, bis er — welcher Zufall — fast mit ihm zusammenstieß.„Was machst du hier, junger Mann?“ fragte der alte Frosch.„Ach, ich schwimme nur so ein bißchen herum.“„Du bist
Auf dem Vordach über der Küche lag ein Ei. Ach, was für ein kleines Ei war das! Noch viel kleiner als ein Stecknadelkopf, und niemand außer einem Märchenerzähler hätte es gesehen. Aber glücklicherweise sah es der Märchenerzähler. Rasch setzte er die Brille auf die Nase; sogleich öffnete sich das Ei, und Anna kam heraus. Sie lief über das linke Brillenglas und spiegelte sich darin..Ach, bin ich das?“ rief sie erstaunt, „wie reizend!“Ja, sie war eine Eintagsfliege. Anna atmete tief und warf einen Blick auf den Blerickschen Kirchturm. Es war acht Uhr morgens.„Dies ist ein