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TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN

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Nirgends ist man so einsam wie in einer großen Stadt. Wer dort das kleine Nest seiner Familie verläßt und die Wohnungstür hinter sich schließt, wird plötzlich ein Schattenriß in der Straße, ein Passant, ein Namenloser. Und von allen europäischen Städten ist Paris die unwirtlichste. Das „je m’en fiche“ steht dem Pariser ins Gesicht geschrieben. Die niederländische Variante „du kannst tot hinfallen“ ist eigentlich zu mild, denn sie setzt noch eine gewisse Anteilnahme beim Verscheiden voraus. In Paris geht man weiter. Es ist auch die einzige Stadt in der Welt, die den „Clochard“, den Namenlosen unter den Namenlosen, als einen anerkannten Teil der Bevölkerung hinnimmt; die die Schläfer unter den Brücken, die Liegenden auf den Gittern der Untergrundbahn, die Nächtigenden auf den Bänken und in den Torbogen als eine Normalerscheinung akzeptiert, weil es jedem völlig gleich ist, wie es seinem Mitmenschen ergeht. Im Gegenteil: Der Fremdenverkehr hat aus dieser Unwirtlichkeit als Kapital eine fremdartige Nostalgie geschlagen, die in das französische Chanson gefahren ist und Tausende von Touristen anzieht. Es ist die absolute Unwirtlichkeit, die durch den Nullpunkt schießt und ein Wert negativer Kraft wird. Man muß zwar ein gutes Hotel im Rücken haben, um sie völlig genießen zu können. Wehe den wirklich Einsamen! Sie können nicht nur tot hinfallen, ihr Sterben wird nicht einmal bemerkt.

Ich mußte hieran denken, als ich die erschütternde Nach richt las: „Toter lag 54 Tage unbeachtet im Auto.“ Es war ein Handlungsreisender, der bei der Porte de la Villette seinen Wagen parkte, den kleinen Schlüssel aus der Zündung zog und den im selben Augenblick eine Herzlähmung befiel. Der Mann blieb unbeweglich hinter dem Steuer sitzen, einen Tag nach dem anderen und eine Woche nach der anderen. Das Licht tausender Scheinwerfer von vorüberfahrenden Wagen glitt über sein fahles Gesicht, und zehntausende Augen Vorübergehender müssen den Bruchteil einer Sekunde in diese toten Augen geschaut haben. Niemand aber sah, daß er gestorben war. Es herrscht da ein starker Verkehr, und eben dieser isolierte den Toten. Jeder hatte zuviel Eile, um zu bemerken, daß einer nichts mehr tat. Allmählich sank der Mann zur Seite und geriet auf den Nebensitz. Der Staub von Wochen verdichtete sich hinter den Fenstern, und das Auto schneite langsam ein durch den Abfall der immensen Stadt.

Und siehe: Nach 54 Tagen kam ein spielendes Kind vorbei und kritzelte auf die grauen Fenster in großen Krakelfüßen den eigenen Namen. Es wird’s gemacht haben, wie Kinder auch hier ihre Buchstaben schreiben: den Kopf zur Seite, die Backen vor Anstrengung ein wenig gerötet, die Zungenspitze zwischen den Lippen. Die großen Lettern pflügten klar durch den grauen Staub, und das Kind wird begeistert gesehen haben, wie sein Name im Kot von Paris aufblühte. Derselbe Name, mit dem ein Priester es getauft hatte und wodurch er den Staub der großen Sünde aus der Vergangenheit auswischte, wusch hier aufs neue den Schlamm von einem an- „, gelaufenen. Fensterglase und . machtet es durchsichtig. Und durch diese Lettern sah das Kind den ¥öteh liegen. Es schaute durch die Buchstaben seines unschuldigen Namens nd blickte in den Abgrund der Einsamkeit, in den eiri Er ’ wachsener sinken kann.

Ist es erschrocken! Ich vermute nicht. Es wird munter weggetrabt sein und jemandem erzählt haben, daß ein Mann schlafend daliege. Kinder kennen nur eine Art der Unbeweglichkeit: den Schlaf. Sie kennen den Tod nicht, weil sie ihn nicht fürchten. Es sind die Millionen Erwachsenen, die es gelesen haben und denen der Schrecken in die Glieder fuhr. Sie wissen, daß auch sie einmal den Zündschlüssel aus dem Motor ziehen und langsam zur Seite sinken werden. Sie hoffen aber, man werde es bemerken. Sie erwarten, daß die Fenster klar bleiben und daß jeder dabei sein werde. Illusion. Wir werden genauso einsam sterben wie dieser Mann. Es macht nicht den geringsten Unterschied aus. Und das ist auch nicht nötig. Denn dieses Kind hatte recht. Wir schlafen nur. Einmal wird eine unschuldige Hand unseren Namen schreiben und wir werden auferstehen.

Aus dem Niederländischen übersetzt von A. P. C. Brosens

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