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Das Mal wird zeugen

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AM AUSGANG DES ORTES, wo sich die Straßen nach Enns und Linz gabeln, weist eine Tafel mit roten Buchstaben die Richtung zum KZ. „Lager“, buchstabiert ein etwa fünf Jahre altes Mädchen in der Kolonne. Später kommt nochmals eine wegweisende Tafel: wie ein dünner Faden geronnenes Blut zwischen Berg und Tal. Das Rot grellt gegen das Weiß des frischgefallenen Schnees. „Lager“ — das buchstabierte Wort des kleinen Mädchens an der Hand seiner Mutter, die nichts antwortete, war das einzige, das man hörte. Die Schritte der vielen Menschen, welche die gleiche Straße gehen wie einstmals Zehntausende, die nie mehr zurückkamen, machen keinen Laut. Die von Nässe trunkene Erde schluckt jeden Ton. Alle Menschen in der Kolonne, sehr viel Jugend dabei, Menschen aus Österreich, Frankreich, England, Holland und Deutschland, an ihrer Spitze SeF ErzBischof von SatH ir||7“9ähweigerirWcrftl ist über den Kopftüchern der Bauersfrauen, den wettergegerbten Hüten der Bauern, den städtischen Hüten, dem bloßen Haar der Burschen und Mädchen, die verschlossenen Blicks bergauf stapfen, als stiebende Flocken des Nachwinters, und darüber, höher, nichts als die jagenden grauen Wolken im scharfen Nordwind.

WIE EINE DROHENDE BURG, ein Zwing-Uri, wie ine geballte Faust, die den aufsteigenden Hügel niederdrückt, liegt das einstige Konzentrationslager mit seinen Ecktürmen und klobigen Mauern vor uns. Wenn man durch das geöffnete Tor tritt, dessen ursprüngliche rote Farbe verblich, dessen Flügelbeschläge angerostet sind, bückt man sich unwillkürlich tiefer. Die Beschläge der Mittelflügel, Fabelwesen, sperren gierig ihre Rachen auf, als wollten sie zubeißen und alles Lebende zerreißen. Auf einer der vorspringenden Wachkanzeln steht irgendein Besucher des Lagers, unbeweglich, schwarz wie ein Schatten, und obwohl man weiß, daß andere Teilnehmer des Sühneganges der Pax-Christi-Bewegung und der Katholischen Arbeiterjugend Österreichs vor uns mit Wagen die längere Straße zur Höhe gefahren sind mutet der eine Mensch dort an, als bewache er den Einzug. Zum Überfluß bellt von irgendeinem Hof unterhalb des Lagers ein Hund. Vor mir bleibt eine Frau plötzlich stehen. Der Atem versagt. Sie greift sich ans Herz. Zwei Männer führen sie seitwärts. Mein Nachbar in der Reihe haut mit seinem Stock in eine Pfütze, daß es weit spritzt. Es ist ein Bauer aus de Machland. Sein Gesicht ist verkniffen, er senaut in diesem Augenblick über mich hinweg. Ich folge der Richtung des Blickes und merke, daß er den einsamen Mann auf der Wachkanzel ins Auge faßt, als wolle er sich ihn für lange Zeit ins Gedächtnis prägen.

WO FRÜHER DIE WASCHEREI des Lagers war, ist jetzt ein Gedächtnisraum errichtet worden. An seinen Wänden stehen die Fahnen vieler europäischer Länder. Aber die Großen der europäischen Politik, deren Flaggen links und rechts von der Stirnseite unbeweglich niederhängen, verhalten sich heute, als hätten sie den 5. Mai 1945, an den der Stein vor der Stirnseite erinnert, vergessen; jenen Tag, da um die Mittagszeit ein Panzer vor das Lagertor gefahren war und die Schupo das Weite gesucht hatte. So wie jene Großen haben sich auch viele der mehr oder weniger Großen oder Kleinen getrennt. Sie, die von den Gedenksteinen an der linken und rechten Längswand, zwischen den Pylonen der Weiheflammen in mehr als einem Dutzend Sprachen reden und doch alle den einen Gedanken der Mahnung ausdrücken, daß man nichts vergessen möge — diese Mächte sprechen heute aneinander vorbei, als hätte es nie einen Krieg, als hätte es nie diese steinerne Faust auf dem Berg gegeben. Der junge Franzose, dessen beide Hände die Baskenmütze um und um drehen, so daß sie schon fast ein unkenntliches Knäuel bildet, hat sich von einem Bekannten die fremden Inschriften in seine Sprache übersetzen lassen. Sogar für das Russische hat sich ein Sprachverständiger gefunden — nur das Norwegische blieb bis zuletzt, es blieben die Worte „Ter nagedachtnis worge merket'...“, bis man daraufkam, daß das Norwegische ja unterhalb ins Deutsche übersetzt ist und dieses Deutsch keine eigene Inschrift darstellt. „Der Mann ist gefallen. Das Mal wird zeugen.“ Der Franzose sagt es in seiner Sprache, die etwas Dialektfärbung hat. Er ist aus der Bretagne, aus der Landschaft Frankreichs, aus der auch Marcel Callo stammt, jener Arbeiter, Setzer und Führer der katholischen Jugend, der sich freiwillig zur Arbeit nach Deutschland gemeldet hatte, weil er seine Landsleute nicht allein lassen wollte. Jener Marcel Callo, dessen Name in Schwarz, über einem roten Kreuz mit abgeschrägten Ecken, auf Weiß von der Fahne rechts vom Altar leuchtet, auf dem die Kerzen zur Messe angezündet werden. Und es ist eben ein 19. März, wie damals vor 15 Jahren, als Callo, erst 24 Jahre alt, im Konzentrationslager von Mauthausen starb, auf den Tag' genau zwei Jahre nach der Abreise >yu s^ine^äg^uten, |s/f>fu.tjejt^ fcnd. Dieser' 4ag Tfüt -*[in “Gedäsh^ijs d s9?n^l der das Leben gab für seine Freunde. y„

ER WAR EINER von den achttausendzwei-hundertdrei Franzosen, die hier ihr Leben beschlossen. Und diese wiederum gehörten einer der 15 Nationen an, welche eine Gedenktafel vor dem Eingang des Lagers, auf dem rechtsseitigen Turm, seit 1947 aufzählt: Sowjetbürger, Polen, Ungarn, Jugoslawen, Franzosen, Spanier, Italiener, Tschechen und Slowaken,Griechen, Deutsche, Belgier, Österreicher, Holländer, Amerikaner, Luxemburger, Briten und „Sonstige“. Diese Sonstigen waren Völker, die näher zu bezeichnen man nicht der Mühe wert fand: Dänen, Bulgaren, Rumänen, Albaner, Norweger, Algerier, Tunesier, Marokkaner. Die Urkunden des Lagers, soweit sie noch sichergestellt werden konnten, geben die Zahl von 122.766 Toten an, wozu noch die „Vermißten“ kommen. Der Durchschnitt hat 2500 Tote im Monat betragen. Bis jetzt sind von allen Namen 160.000 bestimmt worden. Wollte man hierfür auch nur auf beschränktem Raum jedem Toten einen kleinen Stein nach der Art der Kriegerfriedhöfe setzen, würde ein gedachtes Quadrat an der nach Norden zugewandten Seite bis vor die Tore von Linz, auf der Ostseite bis halbwegs nach Steyr reichen, und ein Fußgänger brauchte zum Abschreiten der Seiten etwa 13 Stunden.

DER APPELLPLATZ des Hauptlagers ist zu der Stunde, da die Gedenkfeier noch andauert, fast menschenleer. Man steht in dem kalten Wind und fröstelt, trotz Schneeschuhen, Wollhandschuhen, Pullover, Sakko, Wintermantel mit aufgestelltem Kragen und Schal. Die Phantasie läßt einen in Stich, sich vorzustellen, wie es bei zehn Grad Celsius weniger als an diesem 19. März solchen erging, die, nackt und zuweilen mit Wasser übergössen, auf diesem Appellplatz gestanden sind. Das erste Gebäude von den noch erhaltenen, das ich betrete, ist der Bunker, auch „Kasematte“ genannt. Sämtliche Türen der Einzelzellen nach links und rechts vom Eingang sind geöffnet, die eisernen Beschläge der Scheinklinken sind verrostet, die Schlüssel fehlen, aber die Gucklöcher und zuweilen etliche Haken an den weißgetünchten Mauern sind geblieben. Der einzige Mann, der vor mir den Bunker betreten hat, geht den linken Gang entlang bis ans Ende zur Zelle Nummer 24, tritt ein und macht messende Schritte. Dreimal zwei, dreimal zwei, dreimal zwei — das hört man auch schräg gegenüber. Dann ist es auf einmal still. Die Türe ist etwas zugezogen. Durch den schmalen Spalt sehe ich den Mann, wie er seinen rechten Unterarm an eine Seitenwand legt, die Stirn daraufstützt und zu Boden starrt.

VON ALLEM ANDEREN IN MAUTHAUSEN Jsf schon gesehrieben worden. jDas eine nur S*j$Hr%nn man ^flfl ^^iKerJi 'Raunr den letzten Schock empfangen -zu haben, täuscht man sich beim nächsten. So geht es von den offenen Verbrennungsöfen bis zur Eisen-fravers'e zwischen Bunker und Revier, die als Galgen diente, vom Genickschußkeller bis zur Gaskammer, die wie ein Brausebad aussieht, von der Leichenkammer bis zum Sezierraum, wo man den Toten vor dem Verbrennen die Goldzähne ausriß und tätowierte Hautstücke als Schmuck für Buchumschläge gewann. In einem Raum nächst der Gaskammer war vor einer brennenden Kerze die ganze Wand mit Lichtbildern.Namen von Toten und Worten der Trauer und des Gelöbnisses bedeckt. Diese einsame Kerze in dem gespenstig düsteren Raum, die Blechdose, welche einmal als Blumenbehälter gedient haben mochte und jetzt angebeult an einer Seite stand, die gemurmelten Gebete einiger Frauen und Mädchen, deren Regenmäntel zuweilen glitzerten, waren das letzte an Erinnerung, das mich auf den noch immer nahezu leeren Platz begleitete.

NEINl DER ALTE MANN war da noch auf dem vorspringenden Bogen auf dem Weg zum Steinbruch. Der Mann stand, eine blaue Reisetasche in der Hand, an der Balustrade. „Marcel Callo wird für alle bitten“, sagte er. „Auch wenn er tot ist. Und auch für meinen toten SöHrt'.““Er stWfeg' e1ri¥f1Wfflfe', und rmW' httrW den Wind vom Graben unten über den Teich, der schwarz dalag wie ein riesiges Auge, die Granitfelsen heraufsteigen. „Ihr Söhn?“ frage ich behutsam. „Hier?“ Und der Mann mit dem weißen Schnauzbart, dessen Spitzen abwärts hingen, nickte. „Hier. Obwohl ich keinen Beweis dafür habe, wo und wie ... aber er war hier... und er kam nie wieder.“ Die dicht fallenden Schneeflocken zerflossen im weißen Bart, an den Augenbrauen, Wimpern und auf den Wangen zu Wasser. Aber es können auch Tränen darunter gewesen sein.

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