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Intermezzo in Dänemark

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VOR MITTERNACHT WAREN wir mit dem Wagen in den großen Bauch des Fährschiffes eingefahren. Jetzt aber ist es halb vier Uhr früh. Wir rollen über den satten Grünpolster der Insel Falster. Keine Menschenseele und kein Fahrzeug begegnet uns. Es ist, als fahre man leichter und lautloser in dieses Land. Die Ortschaften, das Land, die Bauernhöfe ... alles ist auffallend sauber, geordnet, geputzt. Manche Bauernhöfe sind so adrett anzuschauen, als kämen sie aus einer Spielzeugschachtel. Überhaupt, das wohlbehütete Nebeneinander von Gehöft, Weideland, Windmühle, Landkirche und Viehherden, vielen Viehherden, scheint Modell zu stehen für ein Kinderbilderbuch. Kein Wunder, daß aus diesem Lande einer der liebenswertesten Märchenerzähler stammt: Hans Christian Andersen.

SMÖRREBRÖD - DAS IST DAS ZAUBERWORT der dänischen kalten Küche! Zu deutsch Butterbrot, verschweigt der Name so gut wie alles, was dahinter an Reichtümern und Geheimnissen auf uns wartet. Brot und Butter sind nur der Vorwand, sind nur das dünne, kaum bemerkbare Fundament, auf dem sich vom Kaviar bis zur Languste und vom Kalbfleisch bis zum Champignon pyramidenförmig die pikantesten Sachen türmen.

Im Reisehandbuch entdecken wir die unüberhörbare Aufforderung, man möge sich nicht Kopenhagens ältestes und berühmtestes Smörrebröd-Lokal entgehen lassen: Oscar Davidsen.

Wir fahren über den St.-Jörgen-See zum Aaboulevard. Bei der angegebenen Hausnummer ist nichts von einem attraktiven Lokal zu sehen. Wir fahren sogar zunächst, ohne Oscar Davidsen zu bemerken, daran vorbei. Doch dann sind wir überrascht und erfreut zugleich.

Es ist keines jener sogenannten ..altberühmten“ Lokale, die sich seit ihrer Gründung längst um ein Vielfaches vergrößert und erneuert haben.

Fischdampfer in Fredrikshavn

Nein, es hat heute noch ganz den Charakter eines kleinen, unaufdringlichen aber altvornehmen Vorstadtlokals. Alles hat Stil. Die altertümliche, dunkle Inneneinrichtung. Die Kellner mit dem Lederschurz.

Als uns die Speisekarte gereicht wird, fliegt freilich ein Lächeln über unsere Gesichter. Sie hat die Länge eines Handtuches. An die 200 verschiedene Smörrebröd-Kombinationen

sind darauf verzeichnet. Angefangen von „Onkel Doktors Frühstückshappen mit Butterbrot, Leberpastete, Aspik und dänischer Cervelatwurst“ zu 1.90 Kronen (ungefähr sechs Schilling) bis zum „Röstbrot mit poschiertem Ei, Sahnechampignons und frisch gekochtem Hummer“, ohne Preisangabe.

KOPENHAGEN! JEDER KOMMT auf seine Kosten. In der „Ströget“ fesselt jedes zweite Schaufenster: nordische Zimmereinrichtungen, dänischer Nerz, Kopenhagener Silberschmiedearbeiten, Porzellan aus der königlichen Manufaktur, am Hafen, im Hof der weiträumigen Christiansborg und vor der barocken Börse mit ihrem gedrechselten Spiralturm.

Vor uns taucht plötzlich der Gefions-brunnen mit den großen Fontänen und die wuchtige Göttin Gefion mit ihren vier Stieren auf. Wie war doch die Geschichte? Die Göttin Gefion erhielt einst die Erlaubnis, sich aus Schweden ein Stück Land herauszupflügen. Das Stück Erde, das sie an einem Tage umpflügen werde, sollte ihr zu eigen sein. Da verwandelte sie ihre vier Söhne in Stiere, und siehe da: am Abend war ein riesiges Stück aus Schweden herausgeschnitten. Wer es nicht glaubt, der schaue in den Atlas. Die heutige dänische Insel Seeland, auf der auch Kopenhagen liegt, fehlt in Schweden genau an jenem Fleck, wo heute der Vänern-See liegt!

Für rechtschaffene Republikaner gehört es sich, daß man in einer Königstadt irgendwann auch einmal dem Schauspiel eines höfischen Zeremoniells beiwohnt. Wir begeben uns zur Amalienborg. Mit weit geöffneten Augen beobachten wir die staksigen und marionettenhaften Schritte der königlichen Schloßwache. Eine Handvoll Puppenmerrschen mit schwarzen Federbuschhelmen!

Bald ist der Platz wieder leer, ist wieder Ruhe vor dem Schloß, das mitten in der Stadt liegt, ohne trennende Gärten, unmittelbar an Bürgerhäuser angrenzend, und nicht weit vom Hafen,

Photos: Colberg

der nach Öl, Fisch und Meerwasser riecht.

Kopenhagen — Kobnhavn — „Kaufmannshafen“ ... Hier können die Könige gar keine volksfremden Despoten sein. Hier sind sie die ersten Bürger des Landes. Und oft sind sie es mit offenen Händen. Christian II. baute, um seiner heimwehkranken niederländischen Frau ein Stück Heimat zu schenken, ein ganzes holländi-

sches Dorf und lud 200 ihrer Landsleute ein, sich dort anzusiedeln. Und Christian IV. schenkte seinen alten Seeleuten ein ganzes Stadtviertel: Nyboder.

DIE DÄNEN SIND EINES der gemächlichsten Völker unseres Erdteils. Noch vor wenigen Jahren fuhren viele von ihnen mit den ältesten Automodellen durch die Landschaft, mit Kurbelantrieb, mit Speichenrädern und mit Gardinen am Fenster... fast konnte man sagen: wie zu Hans Christian Andersens Zeiten.

Bei der Fahrt zum Hamlet-Schloß Kronborg, zum Lustschlößchen Fre-densborg und zu dem prachtvollen Backsteinschloß Frederiksborg haben wir eine überraschende Begegnung mit einigen Dutzend dieser alten Vehikeln. Es ist das große Rennen der Chaussee-Veteranen, an dem die Bevölkerung von Nord-Seeland allerorten mit schmunzelnder Begeisterung Anteil nimmt. In Abständen von je einer Minute knattern, puffen und keuchen die alten Benzinkutschen vorbei, und in den Kurven knarren die Getriebe mit ihren letzten Zähnen. Die eifrigsten Fahrer verbergen bei allem sportlichen Feuer nur mit Mühe ihr selbstironisches Gelächter über ihren kuriosen Spaß, wenn sie bei den Stopstellen der Wettfahrt ihre Durchfahrtsbescheinigung bekommen.

Die Dänen sind ein Volk der Langsamfahrer. Unschlagbar ihre Geduld und vornehme Ruhe. Vor einer kleinen Ortschaft fahren wir auf eine Auto-schlange auf, die sich im Zehnkilometertempo vorwärts bewegt. Ich sehe weit und breit kein Hindernis, sehe aber auch niemanden links ausscheren, um die lange Kolonne zu überholen. Man rollt so weiter, drei Minuten, vier Minuten. An Beschleunigung ist nicht zu denken Da endlich macht weit vorn die Straße eine Kurve, und wir sehen, wie ein Leichenzug im Schritttempo in eine Seitenstraße abbiegt. Das war die Erklärung. Leicht hätten die 20 oder 30 Wagen schon vorher an dem Trauerzug vorbeifahren können. Es kam ja nichts entgegen. Aber nein: der Tod ist ewig! Er leidet keine ungeduldigen Zuschauer. Jedenfalls nicht in Dänemark ... !

DIE WIKINGER. - ÜBERALL begegnen wir auf der Weiterfahrt nach Jütland, und vor allem in Jütland selbst, den Spuren der einst so gefürchteten Seefahrer und Eroberer. Da sind die kleinen Kuppen in der Landschaft. Wer es nicht weiß, hält sie für natürliche Erdformationen. Doch es sind die Grabhügel der vorchristlichen Wikinger.

Bei Aalborg, auf der Lindholmshöhe, findet sich wiederum ein riesiger steinerner Friedhof der Wikinger. In Schiffen traten die Toten ihre Reise ins Jenseits an. Daher stellt jedes Grab eine steinerne Schiffsform dar. Bug und Heck überhöht wie bei den Wikingerschiffen.

Vom Gottesgericht der alten Stämme zeugen jene Grabstätten, zu denen zwei Wege führen, obwohl nur ein Grab in ihrer Mitte liegt. Denn der Schwertkampf, der das Götterurteil erbringen sollte, fand unmittelbar am Ort statt, an dem der Unterlegene seine letzte Ruhestätte finden sollte. Bei Hobro erinnern die Reste einer alten Wallburg an die strenge miltäri-sche Ordnung der Wikinger.

In Jelling wiederum bekunden zwei behaltene Steine den Übergang der Wikingerherrschaft zum Christentum. Der ältere, kleinere gibt nur bekannt, daß König Gorm hier seiner toten Gattin ein Denkmal setzte. Der jüngere, gewaltigere Steinblock aber kündet, daß beider Sohn, Harald Blauzahn, „die Dänen vereinigt und dem Christentum zugeführt“ habe. Auf dem runenbeschrifteten Stein findet sich erstmals im Norden ein Relief Christi.

AUF IHRE VERGANGENHEIT, ihre Wikinger-Vergangenheit sind die Dänen noch heute mächtig stolz. Wikinger — das klingt nach Verwegenheit und Unbeugsamkeit, das be-

deutet wenig Reden, aber entschlossenes Handeln! Und doch, von alledem haben die friedlichen und freundlichen

Wikingernachfahren von heute nicht mehr sehr viel, allenfalls die Wortkargheit.

Besonders den Juten sagt man Schweigsamkeit, ja Mundträgheit nach, den Fischern und Bauern vom Skagerrak bis zur Deutschen Bucht. In Skagen erleben wir eine Fischauktion. Das geht fast ohne ein Wort vor sich.

Ein unartikulierter Laut oder ein Augenzwinkern genügt, und schon weiß der Mann am Pult Bescheid, daß Lasse Jensen oder Sören Berndsen den nächsthöheren Preis bietet. Eines Tages besuchte auch der König einmal diese Auktion. Und als er beim Betreten der Halle nur ganz kurz mit einem Kopfnicken zum Auktionator hinübergrüßte, da war es schon geschehen. Der Mann schlug mit dem Hammer aufs Pult und rief: „Die Ladung geht an Seine Majestät!“

Eine überzeugende Kostprobe jütischer Mundfaulheit erhalten wir bei den Wikingerhügeln von Ydby. Wir suchten die Ortschaft Doverodde. Ich versuchte mich einem Bauern verständlich zu machen und trenne die Silben deutlich ab: Do-ver-od-de. Er versteht mich nicht. Ich buchstabiere den Namen. Es nützt nichts. Endlich kommt heraus, daß der Mann den Ort schon längst mehrere Male genannt hat. Die neun Buchstaben von Doverodde hatten sich in seinem Mund nur zu dem Urlaut „Do-o“ verkürzt.

Die Wortkargheit dürfte aber die einzige Wikingererbschaft der heutigen Dänen sein. Sonst haben sie so gar nichts mehr von dem alten Kriegervolk. Mag sein, daß die Geschichte sie so gelassen, bescheiden und weise gemacht hat. Denn die Rivalitätskämpfe zwischen den nordischen Staaten haben sich nach der anfänglichen Vorherrschaft der Dänen immer mehr zu Schwedens Gunsten entschieden. So sind die heutigen Dänen, im Großen wie im Kleinen, mehr Zuschauer als Akteure auf der Szene. Sie schauen zu, wie sich die Mächtigen dieser Erde streiten.

Sie schauen aber auch in ihren Fischerdörfern und Küstenorten zu, wenn die immer größer werdende Schar der deutschen Urlauber mit Taucherausrüstungen, Schwimmatrat-

zen, Schlauchbooten, Minigolf und Krockettspielen anrückt und damit eine ganz undänische Betriebsamkeit ausbreitet. Ja, sie schauen zu ...

FREMDE LANDSCHAFTEN und Ortschaften pflege ich mir gleichsam mit Photoaugen anzusehen. Aber hier in Dänemark mußte ich mich erst umstellen. Es gibt hier nicht die „einmalige“ Landschaftsformation, die unverkennbar auf diese und keine andere Gegend schließen läßt. Und es gibt in den Städten auch nicht, wie andernorts von der Bretagne bis nach Kärnten, das, was man einen „idyllischen Winkel“ nennt, einige wenige ausgenommen: etwa Ebeltoft, die dänische Schildbürgerstadt, Ribe, die südjütische ehemalige Bischofsstadt, und Tondern, die deutsch-dänisch gemischte Stadt in Nordschleswig.

Es lockt den photographierenden Gast aber etwas anderes: die immer wiederkehrende Einfachheit bestimmter Typen. Das strohbedeckte Bauernhaus, die Windmühle, die Wikingerhügel, die Dorfkirche, die in ihrem strahlenden Weiß von der Übergröße der Kirche von Vestarvig über die von der Düne versandete Kirche von Skagen bis zum kleinsten Kirchenbau fast überall gleich aussieht.

Dänemark in Bildern einfangen, heißt das Elementare, Schlichte einfangen, wie in einem Bilderbuch für Kinder.

EINEM KLEINSTADTIDYLL aber begegnen wir am letzten Tag unseres „dänischen Sommers“. Alt-Dänemark und Hans-Christian-Andersen-Romantik scheinen zusammengetragen in der alten Bischofsstadt nahe der Nordsee und unweit der deutschen Grenze: in Nibe. Hier sind die alten Gassen noch nicht von modernen Straßenzügen verdrängt worden. Hier spazieren wir von der Katharinenkirche bis zum kleinen Hafen an der Ribe-An in vergangenen Jahrhunderten umher.

Die letzte Überraschung des Landes aber erleben wir auf dem Heimweg in unseren Gasthof. Dänemarks letzter Nachtwächter zieht gemächlich an uns vorüber und singt uns wie den Bürgern der Stadt das Gute-Nacht-Lied.

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