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Wunder und Wunderliches aus hohem Nord

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Das Leben ist überall ein Wunder. Doppelt in Zonen, die, wie das Polargebiet, nach ihrer Lage, dem Tod vorbe,stimmt scheinen.

In der Schule haben wir mehr oder minder gläubig vom warmen Golfstrom und seinen wohltätigen Einflüssen auf das Klima Skandinaviens gehört, ohne sie uns richtig vorstellen zu können. Oben in Nordnorwegen, auf den Lofoten, den Vesteralen-Inseln, in den malerischen Fjorden bis hinauf nach Hammerfest, in Breiten, die überall sonst in der Welt rettungslos in Schnee und Eis versinken, steht man dann staunend vor tausend Dingen, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen ließ, fühlt man auf Schritt und Tritt den lebenspendenden Puls des Meeres.

Der Golfstrom macht sich sehr unterschiedlich geltend: sichtbar in dem schmalen besiedelten Küstenstreifen, der sich wie ein grünes Band zwischen dem unendlichen Nordmeer und der Steinwüste unwirtlicher und unwegsamer Gebirge dahinzieht, körperlich fühlbar auf den Inseln, die er von allen Seiten umspült und auf denen er den Aufenthalt geradezu angenehm macht. Auf den Vesteralen mißt man beispielsweise auch an den kältesten Wintertagen nie mehr als zehn Grad unter Null, während man auf dem Festland schon in einigen Kilometer Entfernung von der Küste mit minus vierzig Grad sibirischen Rekorden nahekommt. Allerdings: richtig warm wird man auch im Sommer nicht.

Ein solches ausgeglichenes Eiland ist H i n n ö y a, die größte Insel der Vesteralen, ungefähr von gleichem Flächeninhalt wie Vorarlberg. In der Hafenbucht von Harstad staut sich dort ein Arm des Golfstromes und zaubert in 67 Grad nördlicher Breite das „Paradies des Nordens“ hervor, wie der Norweger das Stück gesegneten Landes zärtlich nennt. Die zwerghaften Krüppelbirken, die landesüblichen „Laublatsdien“, straffen ihre verkrümmten Glieder und werden zu schlanken Bäumen, in deren lichtes Grün Fichten und Föhren, die sonst nur selten über den Polarkreis vordringen, dunklere Töne mischen. In den Hausgärten gedeihen üppige Johannisbeersträucher. Zu ihnen gesellen sich Fliederbüsche, deren blaue Dolden jedoch erst im Hochsommer erblühen.

Selbst in dieser märchenhaften Umwelt überrascht es aber, im Freien noch einen Rosenstrauch anzutreffen. Und doch steht einer dort oben im Polargebiet. Nicht, daß er vielleicht nur für die Sommermonate ausgesetzt würde. Die mäßigen Temperaturen lassen ihn ohne Schwierigkeiten überwintern. Was ihm in der Vegetationsperiode an Wärme fehlt, daß ersetzt die Mitternachtssonne durch ihre Dauerbestrahlung, so daß gegen Ende September seine Knospen in feuriger Glut aufbrechen. Es ist fast wie ein Sinnbild: der Strauch grünt und blüht vor dem Eingang der kleinen Holzkirche, die sich die katholische Diasporagemeinde errichtet hat. Entstammt er als später Sprößling dem Rosenwunder St, Elisabeths, deren Namen das benachbarte Hospital trägt?

Weil wir gerade von Blumen reden: Die Norwegerin liebt sie mehr als die Frau eines anderen Volkes. Man wird zwischen Dront-heim und Hammerfest schwerlich ein Fenster finden — und wäre es in der armseligsten Hütte —, in dem nicht Topf an Topf Pelargonien und Begonien prankten. Mitten unter ihnen häufig eine Tomate, auf gut österreichisch „Paradeiser“. Im Freien ist es der Pflanze hier doch schon zu rauh, drum ist sie einfach ins Zimmer übersiedelt. Mit großer Geduld setzt die Hausfrau ihren Stolz darein, den einen oder anderen roten Apfel zur Reife zu bringen, der Volksglaube erblickt darin eine gute Vorbedeutung für das Familienglück. *

Reste eines bescheidenen Ackerbaues erstrecken sich bis in die Höhe von Tromsö. Freilich beschränken sich die Felder auf Ausmaße, die wir nur für Schrebergärten als ausreichend empfinden. Darauf werden — der f Anbau kann erst nach Pfingsten beginnen — einige Frühkartffel und die Napparübe gepflanzt, deren Geschmack, roh genossen, entfernt an Äpfel erinnert. Sie muß daher auch vielfach das Obst ersetzen. Also ein wirklicher „Erdapfel“. •

Hauptnahrungsquellen sind Fischfang und Viehzucht, darunter auch Rinder. Die Kühe sehen sehr putzig aus: eine hörnerlose, kurzbeinige Zwergrasse, deren Milch jedoch sogar die unserer besten Rassen an Fettgehalt übertrifft. Daraus läßt sich ein vorzügliches Schlagobers bereiten, das als nationale Süßspeise jeder Gast vorgesetzt erhält.

In den drei oder vier Sommermonaten wird das Vieh auf die Weiden getrieben. Womit es aber im Winter füttern? Die Wiesen, die sorgsam gepflegt werden, lassen nur einmal im Jahr, im August, eine Mahd zu. Mit dem Heu, das dabei geerntet wird, ist über den endlosen Winter nicht das Auslangen zu finden. Als Zusatzfutter liefern die Papierfabriken Südnorwegens Zellulose in Form mächtiger Pappeplatten, die von den Wiederkäuern mit Appetit zermalmt werden. Bei uns macht man jetzt viel Aufhebens um das „Hdlzfleisch“; die Polarkühe mit ihrem „Holzheu“ sind uns darin längst voraus.

In einem so dünn bevölkerten Gebiet gibt es wohl kaum größere Ansiedlungen? Gerade im Gegenteil! Nirgends in Europa ist der Hundertsatz der Städter höher. Tromsö, das sich nicht ohne Recht das „arktische Paris“ nennt, zählt zwar nur 10.000 Einwohner, trotzdem ist jeder vierte Norweger des Polargebietes ein Tromsöer. Von den restlichen drei siedelt auch wieder ein erheblicher Teil in Städten: in Hammerfest, Kirkenes, Dve-berg, Svolvaer usw. Auf Hinnöya zum Beispiel lebt die Hälfte der Bevölkerung, nämlich 2000, in Harstad. Die Erklärung: die Schiffahrt, die Verarbeitung der Fische und der Handel damit beschäftigen ungefähr genau so viele Menschen wie Fischfang und Viehzucht.

Dabei ist der Norweger kein Freund von zusammengeballten Siedlungen. • Jeder baut sein Haus möglichst allein. Die Dörfer sind in verstreute Einzelhöfe aufgelöst und auch die Städte ohne zusammenhängende Häuserzeilen aufgelockert. I

Man wundert sich, in einem Land, das den schönsten Granit bietet, nirgends Steinbauten und — abgesehen von der frühgotischen Kirche in Trondenes — auch keine Baudenkmäler der Vergangenheit zu finden. Ausschließlicher Baustoff war immer und ist auch heute noch das Holz, obwohl es ans dem Süden zugeführt werden muß und daher verhältnismäßig teuer ist. Der hohe Preis wird durch die begehrten Eigenschaften eines schlechten Wärmeleiters reichlich aufgehoben. Sie sind recht schmuck, diese Holzhäuser. In ihrer grellen Bemalung — die Wände meist rot, die Fensterstöcke weiß — leuchten sie weit in die Fjorde hinaus. Ist noch nach altem Brauch das Dach mit Erde beworfen und mit Gras bepflanzt, eine wirksame Kälteschutzmaßnahme, dann sind die Bauten überaus anheimelnd und einladend.

Jeder Bäckermeister, der etwas, auf sich hält, setzt auf sein Firmenschild die werbende Ankündigung: „Wiener Bäckerei“. Der Ruhm unserer Kipferin, Semmeln und Strietzeln ist also hoch in den Norden gedrungen. Allerdings ahmt man dort mehr die äußere Form nach. Als „Wiener Gebäck“ werden hauptsächlich unterschiedliche Näschereien in der vertrauten Gestalt der Bretzerln feilgehalten.

„Pariser und Wiener Neuheiten“ liest man immer wieder über den Eingangstüren der Schneider- und Putzmacherladen. Zum guten Teil scheinen dies Früchte der Werbeaktionen, die seinerzeit in Skandinavien von österreichischen Instituten zur Gewerbe- und Ausfuhrförderung durchgeführt wurden.

Daß die Mode in den Städten tonangebend ist, nimmt weiter nicht wunder. Wohl aber, daß sie bis in die einsamste Hütte dringt. Eine naturverbundene Bevölkerung wie die Fischer und Viehzüchter sollte eigentlich an ihren alten Volkstrachten festhalten, die übrigens sehr bunt und hübsch sind, leider aber nur mehr Museumswert besitzen. Kommt man zu einer Hochzeit oder einer Geburtstagsfeier in ein noch so abgelegenes Haus, sieht man sich regelmäßig Bauern in schwarz (Smoking ist keineswegs selten) und Mädchen in Abendtoiletten gegenüber, die sich peinlich genau an die Vorschriften der letzten Modejournale halten. Offenbar bringen die Seefahrer und Fischer, die wochenlang auf abenteuerlicher Kutterfahrt in weltabgeschiedener Öde leben, ein gewisses Bedürfnis nach mondänem Luxus heim, das auf derart absonderliche Art seine Befriedigung sucht.

Tritt man aus der wunderlichen Jourgesell-schaft vor die Haustüre, dann steht man in einer wundersamen Landschaft von überwältigendem Zauber. Fast ungehindert fliegt der Blick weit über die Fjorde, in deren klaren Fluten tausende Berge ertrinkend versinken: von den kleinen ragen nur noch die unzähligen Schären empor, die höheren wurden zu den Inseln.

Den Gebirgen merkt man unschwer die Urgeschichte des Landes an. Die Gletscher der Vorzeit haben die langen Rücken der Fjelle und die breiten, kesselartigen Täler zurecht-gehobelt. Was übe'r den Eispanzer hinausragte, verwitterte zu zerrissenen Zacken, so daß heute ausgeglichene, sanft geschwungene Bergformen unmittelbar neben grotesk zerklüfteten Gipfeln stehen. Der Gesamteindruck dieser meerumspülten Berg weit: Es ist, als ob über die Wasserfläche unsere Zentralalpen von 1800 Meter Höhe an sähen. Zunächst noch etwas Krüppelholz, dann Almen, vielfach von Heidelbeeren überwuchert, höher hinauf nur noch Fels und Geröll, in deren Mulden ewiger Schnee.

Über all dem sind jahraus jahrein opern-hafte Farbenspiele ausgegossen: im Sommer die feurige Glut der Mitternachtssonne, in der Übergangszeit ein schillerndes Abendrot, das ohne Pause in den Frühschein überfließt, im Winter das ruhelos flackernde Nordlicht, das in weit gespannten Bögen bald kristallweiß, bald in allen Tinten des Regenbogens erstrahlt. In gewaltigen Rythmen, die monatelanger Tag und monatelange Nacht bedingen, rühmen so das Leuchten und Glühen der wechselnden Himmel des Ewigen Ehre .. 4 '

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