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Stets blühendes Leben und blühender Tod

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Am Beispiel der geographischen Lage der US-ameriianischen Westküste läßt sich über den tiefen Sinn und die Oberflächlichkeit des „American way of life" philosophieren.

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Am Beispiel der geographischen Lage der US-ameriianischen Westküste läßt sich über den tiefen Sinn und die Oberflächlichkeit des „American way of life" philosophieren.

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Vor wenigen Tagen fuhr ich an der Pazifik-Küste entlang, von Santa Monica (Los Angeles) in Richtung Norden. Noch nie habe ich diese Strecke, die Natur, den allgegenwärtigen Frühling so beglückend bunt erfahren. Gewiß, noch liegen neben den Küstenvillen die Sandsäcke aufgestapelt, mit denen man vor wenigen Wochen die Muren einzudämmen versuchte, die sintflutartigen Regenfällen gefolgt waren, als ganze Berghänge - von den Feuern des letzten Herbstes ihrer schützenden Vegetation beraubt - über Nacht auf Häuser und Straßen niederbrachen. Noch fehlen immer wieder einige Fahrspuren auf dem breiten Küstenhighway, das Geröll, aus dem Trümmer von Häusern herausragen, ist noch nicht beseitigt. Aber so viele Blumen habe ich nie zuvor gesehen: Da soll einer kommen und sagen, es gebe keine Jahreszeiten in unserer Gegend! Es gibt sie, sie fordern ein genaues Hinschauen, nur für Blinde herrscht hier der ewige Sommer.

Von den murenvenvüsteten Hängen grüßt das zarteste Grün -man könnte sich in Irland, Schottland, Neuseeland glauben. Die Fahrt berauschte mich. Aber ich sah freihch auch die aschenschwarze Erde unter dem neuen Grün: hier hatten die großen Feuer des vergangenen Herbstes gewütet; selbst in Europa hat jeder von jenen Feuerstürmen in den San Gabriel Mountains oder in den Laguna Mountains gehört. Da sind viele Hunderte von Villen so gründlich abgebrannt, daß von ihnen keine Spur mehr blieb. Jetzt verdeckt diese Spurenlosigkeit das sanfteste, satteste Gras, das sich denken läßt.

Im Weiterfahren sah ich Häuser, die standen wnie in der Mitte entzwei gebrochen da. Das große Erdbeben vom 17. Jänner dieses Jahres fiel mir ein, ich war an jenem Tag in Europa gewesen, hatte also nur davon in der Zeitung gelesen. So wurde mir das Ausmaß der Zerstörung gar nicht be-vraßt, ich las leichtsinnig den Befund, daß es sich um das schlimmste Erdbeben in der Geschichte der weißen Besiedlung Südkah-forniens gehandelt hätte, aber, wie Geologen warnen, keineswegs um das erwartete „große" Beben.

Ich verübelte den Einwohnern unseres Staates plötzhch ihr Kata-strophenjammern. Katastrophales Feuer, katastrophale Regenfälle, katastrophales Erdbeben, nichts anderes schreiben die lokalen Zeitungen. Nie aber spricht jemand aus, daß wir, das heißt vsdr 30 oder mehr Millionen Kalifornier, aus einer halben Wüste den dichtbevölkertsten Rundesstaat der-USA gemacht haben, und daß war im Grunde auf einem vergewaltigten Stück Land leben.

DIE NATUR WEHRT SICH

Die landschaftliche Schönheit Südkaliforniens, an deren Hängen die herrlichsten Traumhäuser stehen, kam durch seismische Tätigkeit zustande. Jede Wölbung, jede Erhebung, die unser Auge entzückt, ist letztlich das Ergebnis einer seit Jahrmilhonen andauernden Folge von Erdbeben. Das Klima, das uns begeistert, ist ein sogenanntes halbtrockenes Steppenklima, das nur geringe Vegetation und schon gar keine dichte Besiedlung erlaubt. Wo heute mehr als dreißig Millionen Menschen leben und täglich Tausende Neueinwanderer ninzukommen, hielten sich vor nur 200 Jahren weniger als 100.00 Indianer auf Süd-kalifomien bestand aus Küste, dürrem Unterholz bis zu den Bergen hin, und dahinter aus Wüste.

Es gehört zimi natürhchen Rhythmus dieser halbtrockenen Landschaft, daß sie sich regelmäßig in riesigen Feuerstürmen auffrißt, reinigt und erneuert. Die Natur will und braucht es so. Als die Spanier im 17. Jahrhundert in diese Landschaft eindrangen, bauten sie Dämme und Aquädukte,

pflanzten Oliven und später Wein, blieben vor allem jedoch Viehzüchter. Erst in den jüngsten 100 Jahren, eingeleitet vom Sacramen-to-Goldrausch, entstand der Mythos von Kahfomien als Paradies.

Südkalifomien wurde von Ingenieuren und Technikern neu „erfunden", die Realität der Natur wurde beiseite gewischt. Eine halbe Wüste vmrde zu einem halben Garten Eden verwandelt; die Palme zum Beispiel, die heutzutage jeder für die typische Pflanze der Küstenboulevards hält, vmrde erst zu Beginn des Jahrhunderts eingeführt. Dasselbe gilt für die riesenhaften Eukalyptus-Wälder, die keineswegs hier beheimatet sind. Technik und Mißachtung der Natur haben freilich ihre Grenzen, und Kahfomien scheint sie erstmals zu erkennen: Unbehagen breitet sich aus.

Wer in den Städten Angst vor dem Verbrechen oder der kulturellen Vielfalt hat, der flieht in den USA seit jeher in die Vorstädte. Die Vorstädte versprechen Stille und Frieden. Aber jetzt, die beiden letzten Jahre beweisen es, scheint auch diese Illusion dahin zu sein. Bleib in der Stadt und man könnte dich niederschießen, geh in die Vororte und ein Feuersturm zerstört dein Haus. Erdbeben anerkennen ohnedies keine menschengezogenen Grenzen. Südkalifomien ist berüchtigt für seine Santa Ana Winde, die, dem Föhn oder dem Mistral vergleichbar, mit enormer Gewalt von der -Wüste her in Richtung Meer blasen, die Temperatur ansteigen lassen und von größter Luft-Trockenheit begleitet werden. Pflanzen wie Häuser werden dabei zu Zunder. Ein fortgeworfenes Streichholz kann ein Feuer entfachen, das sich tage- oder wochenlang nicht mehr eindämmen läßt.

Aus KATASTROPHEN URNEN

Bisher haben die Menschen mit diesen Unglücksfällen, die in den Augen der Natur keine sind, eher recht als schlecht gelebt. Aber in den letzten zehn Jahren ist die Infrastruktur des Staates so dicht und ausweglos geworden, daß jede kleinste Ursache naturgemäß die größte Wirkung zeigt. Ein großes Feuer jagte in diesem jüngsten Jahrzehnt das andere. Seit dem Erdbeben vom 17. Jänner gibt es nahezu täghch größere Nachbeben. Zum ersten Mal empfinden Milhonen von Einwohnern das, was der Spanier Miguel de Una-muno den „tragischen Sinn des Lebens" genannt hatte. Wenn das Leben hier nicht mehr paradiesisch ist, dann sehen die Südkali-fomier gleich den absoluten Alptraum, die Hölle darin. Ünamuno forderte dagegen, daß wir das Gute wie das Böse in unser Leben miteinbeziehen; dazu ist hier kaum jemand imstande.

Aufgeben, Fortgehen - dazu ist es zu spät. Aber zur Einsicht ist es nicht zu spät. Die Millionen ver-schreckter und zum Teil zynisch gewordener Bürger müssen lernen, daß die Natur eben manchmal einen Preis dafür fordert, daß wir sie zu unserer Bühne vergewaltigt haben. Sie müssen, wohl oder übel, Einschränkung lernen: Wachstum ins Blaue hinein ist nirgendwo möglich, hier aber noch weniger als anderswo. Es bedarf letzt ich eines Gespräches mit der Natur, die nicht nur aus Gärten und Palmen besteht, sondern auch, wertfrei, aus Feuerstürmen und Bergmtschen und Erdbeben. Die Natur ändert sich nicht, sie ist uns nicht einmal böse wegen unserer Narrheiten. Nur geht sie freilich nicht darauf ein. Auch wir sollten der Natur nicht zürnen, denn ohne sie sind wir nichts. Und ich fuhr weiter durch den leuchtenden Blütentag.

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