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Auf der längsten Landstraße der Welt

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Wenn die alten Römer, von dem goldenen Meilenstein in Rom ausgehend, fünf Straßen bauten, die in verschiedene Richtungen verliefen und zusammen das Doppelte des Erdumfanges erreichten, so war das eine Leistung, die wir bis heute bestaunen. Aber auch im Zeitalter der Technik ist die Panamerikanische Landstraße etwas Großes, die „Carretera Panamericana“, „The Hemisphere Highway“, die die zwei Erdhälften vom tiefen Süden bis zum hohen Norden durchläuft.

Sie wurde 1923 auf dem fünften Panamerikanischen Kongreß in Santiago de Chile in Vorschlag gebracht. Zwei Jahre später wurde die Route dieser internationalen Fahrstraße in Buenos Aires unter Mitwirkung aller daran beteiligten Nationen festgelegt.

Große Ziele spielten dabei ' mit: Die USA wollten die süd- und zentralamerikanischen Republiken in dauernd freundschaftliche, wirtschaftliche und touristische Beziehungen mit den Vereinigten Staaten bringen. Es sollte eine breite Betonstraße sein, die dem raschen und bequemen Autoverkehr diene. Die Hauptstrecke dehnt sich über mehr als 17.000 Kilometer. Als Ausgangspunkt wurde Buenos Aires, die Hauptstadt Argentiniens am Atlantischen Ozean, und als Endpunkt im hohen Norden Fairbanks in Alaska auf der pazifischen Seite festgelegt.

' Heute nach 25 Jahren steht das monumentale Srraßenbauwerk bis auf einige außerordentlich schwierige Stellen vollendet da. Alle Länder taten das Ihrige; wo es notwendig war, boten die Vereinigten Staaten ihre Hilfe an. Wohl ein dutzendmal mußte die Straße aus tropischen Niederungen zu den schneeigen Gipfeln der Anden hinangeführt werden. Teile von Urwäldern mußten niedergelegt, Sümpfe ausgetrocknet, Wüsten mit Wasser versehen werden. Reißende Flüsse wurden überbrückt und Berge durchbohrt. Ein Denkmal in Kolumbien verkündet, was Regierungen, Ingenieure und schlichte Arbeiter hier geleistet haben.

Auf dieser längsten Landstraße der Welt und deren Verbindungsstraßen wanderte ich in den zehn Kriegs- und Nachkriegsjahren durch alle 20 Staaten Süd-, Zentral- und Nordamerikas.

Von Rio de Janeiro, der schönsten Hafenstadt der Welt, brachte mich eine etwa dreitausend Kilometer lange Straße durch das sonnendurchglühte Kaffeeland Brasilien, den zweitgrößten Staat Amerikas, und durch den zwischen diesen und Argentinien liegenden rinder- und strandbadreichen Pufferstaat Uruguay mit seiner hübschen Hauptstadt Montevideo nach Buenos Aires, dem Ausgangspunkt der Carretera. Von hier aus führt eine eintausendvierhundert Kilometer lange Verbindungsstraße nach Asuncion, der Hauptstadt des fruchtbaren Binnenstaates Paraguay, der durch sechs Revolutionen in einem Jahre den Rekord geschlagen hat.

Eine andere, 3133 Kilometer lange Verbindungsroute bringt uns von Buenos Aires aus, nordwestlich durch die flachen, getreide- und zuckerrohrreichen Provinzen Argentiniens, zur zweiten Republik, die das Los hat, im Herzen Südamerikas zu liegen und keinen Ausgang zum Meere zu besitzen, in das erz- und wälderreiche Bolivien mit La Paz, der höchstgelegenen Hauptstadt der Welt, in das ehemalige Reich einer dauernden Inkahernschaft, jetzt das Land der unbeständigsten Regierung, ein kulturarmes, reiches Land.

Unmöglich wäre es gewesen, auf der panamerikanischen Landstraße zu reisen, wenn wir nicht den Paß, der das Hakenkreuz wie ein Kainszeichen an der Stirne trug, in das Meer versenkt hätten, weil er den Grenzwächtern ein Ärgernis und für die Konsular- ärriter eine Torheit war. Wir stellten uns als Bürger unter die blau-weiß-blaue Sonnenfahne Argentiniens. Das argentinische Reisedokument erhielt auf der panamerikanischen Landstraße nach und nach 40 Sicht vermerke, und oft genug mußten wir es erfahren, daß der reisende Mensch aus Leib und Seel’ und Paß besteht.

Auf den tausend Kilometern von Buenos Aires bis an die chilenische Grenze erlebte ich einen Querschnitt durch Argentinien, dieses zweitgrößte und fortschrittlichste Land Lateinamerikas, das, etwas größer als der vierte Teil ganz Europas, nur 17 Millionen Einwohner zählt! Flach wie ein Schachbrett der Boden. Quadratkilometer um Quadratkilometer wogendes Ährengold, viehbestocktes Weideland! Korn- und Fleischkammer für die halbe Welt! — Von Mendoza, dem großen Weinkeller Argentiniens, an, steigt die Straße und nimmt denselben Weg über die dreimal sich zu dreitausend Metern erhebende kahle Kordillere, die der argentinische Hannibal, General San Martin, überstieg, um die Schwesternation Chile unabhängig vom Mutterland Spanien zu machen. Er brauchte dazu samt den Vorbereitungen zwei Jahre; wir zehn Autostunden. Schaurige Abgründe tun sich auf. Felswände erheben sich wie Kulissen in Farben von Schwarz wie Kohle bis Braun, Kupferrot und Grünspanfarbig. Nachdem wir die „Teufelsbrücke", eine durch erstarrte Lava entstandene Naturbrücke, überquert, wurden wir vom ersten Wunder der panamerikanischen Landstraße ergriffen: es bot sich uns der Anblick des 7030 Meter hohen, mit ewigem Eis gekrönten Aconcaqua, des Riesen unter der gesamten amerikanischen Bergwelt.

Ehemals mußte man auf Maultieren über einen Gebirgsrücken die Grenze zwischen Argentinien und Chile passieren. Markstein tier Grenzscheide ist ein Riesenstandbild des Erlösers, der seine segnende Rechte über beide Shwesternnationen hält. Heute rollt unser Auto in etwa zwanzig Minuten durch ein Tunnel bis ins Land der Chilenen, die uns als Argentinier nach einfachem Vorweisen unserer Identitätskarte als ihre Brüder aufnehmen.

Chile, dieser verhältnismäßig schmale, mehr als viertausend Kilometer lange, zwischen Meer und Gebirgskette gebettete Landstreifen, ist von Katastrophen des Meeres und der Gebirge fast beständig bedrängt. Aber es ist, wie wenn diesem Volke die Natur selbst eine Entschädigung geben wollte, in dem Reichtum der Erzberge und in den Meeresschönheiten des Landes und, wie Keyserling meint, in dem vollendetsten Typ der Frauen. Sie sind es auch, die die sozialen Probleme Chiles auszugleichen bemüht sind.

Nah zweijährigem Aufenthalt in der Gegend von Valparaiso, dem „Tale des Paradieses“, setzte ih meine Reise längs der Carretera durch den Norden Chiles fort. Tagelang knistert und knirsht der Sand der leblosen Salpeterwüste unter den Pneumatiks des Autobusses. Es geht durch den südamerikanischenBalkanwinkel, wo Chile, Peru und Bolivien aneinanderstoßen, nah Peru, und vor mit enthüllt sih das zweite Wunder dieser Straße nah zwei nächtlichen Fahrten, in der Oasenstadt Arequipa, die auf einer Höhe von 2400 Meter liegt. Sollte man es glauben? Dieses Hochland liefert Milchprodukte fast für das ganze Land und exportiert sogar Butter nah Bolivien. Die uralten Bewässerungsanlagen der Inkas tragen noh ihren Teil dazu bei. Über der Landshaft ragt die shöngeformte, 6000 Meter hohe Gewohnheitsrauher Misti, den kurz vor meiner Ankunft ein Wiener Schulbruder bestiegen hatte. Einen Österreicher muß es gelüsten, von hier aus mit der höhstgelegenen Bahnstrecke der Erde Kordillerenhöhen von 4500 Meter zu übersteigen und dann in das Gebiet des Amazonenstromnetzes hinabzuwandern, um in den Urwaldskolonien Oxabamba und Po- zuso Tiroler Landsleute aufzusuhen, um zu sehen, wie sie ihren zahlreichen Nahkommen eine Zukunft bauen, aber zugleih auch, wie ein Stück Heimat stirbt, um fremder Erde Leben zu geben.,

Nach sechsmonatigem Schaffen an einem klimatologischen Kinderasyl, ganz an der kahlen Küste des Stillen Ozeans gelegen, trug midi und meine Fahrtgenossen ein Autobus auf wohlgepflegter Landstraße nordwärts, vorbei an ausgedehnten Zuckerrohr- und Baumwollplantagen. Wälder erscheinen in der Ferne, aber in der Nähe werden daraus unzählige Petroleumbohrtürme des Hafens Talara. Jeder Nagel in dieser 30.000 Petroleumarbeiter und deren Familien zählenden Stadt kam aus den Vereinigten Staaten, und jeder Tropfen des schwarzen flüssigen Goldes geht nach den Vereinigten Staaten. Was sagte doch einstmals Alexander von Humboldt? „Peru ist wie ein Bettler auf goldener Bank."

Dort, wo vor einigen Jahren der große Bruder Peru dem Brüderchen Ekuador ein gutes Stück Land geraubt hat, weist die Carretera Lücken auf. Durch Urwald und zwischen rauchenden Vulkanen geht es in einer Tagreise nach der Hauptstadt Quito, die isoliert in den Bergen liegt und gerade deshalb ein anderes Wegwunder genannt werden kann. Es konnte seine kolonialen, altspanischen Schätze an Baukunst, Malerei und Skulptur wie ein einzig dastehendes Museum bewahren. In Quito war ich Gast bei den aus Wien hier in nazistischer Verbannung lebenden Schulbrüdern. Sie erfreuten so in diesen Tagen gerade während unserer Anwesenheit ganz Quito mit einer öffentlichen Glanzleistung österreichischer Musik und Sangeskunst im Nationaltheater.

Weiter ging meine Fahrt. Je mehr sie sich dem Panamakanal näherte, desto schwieriger wurde die Überschreitung von Staatsgrenzen. Es begann in Kolumbien, diesem wiederholt noch 1948 von heftig auflodernden Kulturkämpfen heimgesuchten Staat.

Aber es waren Eindrücke, die alle Strapazen, Enttäuschungen und Grenzverdrießlichkeiten aufwogen, als wir dann auf einer Gebirgsfahrt ohnegleichen in Höhen von 3000 bis 4000 Meter Venezuela zustrebten, eine sich ins Unendliche dehnende Welt von Berggipfeln vor Augen, heran an die bis zum tiefblauen Himmel stürmende eisgepanzerte Sierra Nevada, das höchste Gebirge Kolumbiens. Welch eine Majestät, welch ein

Lobgesang der Natur auf ihren Schöpfer! — Aus dieser Herrlichkeit mündete mein Weg in seltsame Kontraste. Denn nichts anderes war es, wenn dem gigantischen Panorama der Natur die Szenerie des überschwellenden Reichtums und der Bereicherung folgte, als unsere Fahrt in das venezolanische Erdölgebiet vorstieß. Nicht dreißig Jahre ist es her, seit die Vereinigten Staaten am Paca- raibosee einen ungeheuren Schatz an Erdöl auszubeuten begannen. Venezuela ist dadurch ein schuldenfreier Staat geworden, ein Land, in dem deshalb die gebratenen Tauben herumfliegen, und diese faulen, auf möglichst arbeitslosen Gewinn wartenden, herumlungernden Menschen wenigstens so tun, als ob es so wäre.

Venezuela, dreimal so groß wie Italien, zählt nur vier Millionen Einwohner und trotzdem läßt dieses „goldene Schiff auf goldener Flut" nur wenig neue schaffende Kräfte herein. Wie viele fleißige Hände europäischer heimatvertriebener braver Menschen könnten hier Brot finden, das im Überfluß da ist, indessen Europa länderweise an Menschenüberfluß erstickt. Meine Hoffnung, aus einem Hafen Venezuelas die Heimreise nach Österreich antreten zu können, wurde zu Wasser, denn die diplomatischen Beziehungen zwischen Venezuela und Franco waren soeben abgebrochen. So mußten wir auf der längsten Landstraße der Welt weiterwandern, die wir in Panama wiederfanden, um sie dann an der mexikanischen Grenze, in Larida, mit der amerikanischen Staatsstraße 85 zu vertauschen. Und weiter, weiter zieht das ungeheure Band dieser Straße längs dem Felsengebirge über Denver nach Kanada und Alaska, um endlich in Fairbanks an dem Tor der Arktis ihr letztes Ziel zu erreichen.

Die panamerikanische Landstraße war uns — durch Jahr um Jahr — von Land zu Land gewissermaßen aufgenötigt, weil wir während des Krieges und seiner Folgejähre keine Möglichkeit fanden, in die Heimat, die wir überall suchten, zurückzukehren. Es war eine bunte Wanderschaft durch alle Länder Amerikas, das Kolumbus vor 450 Jahren aus dem Ozean gezogen, das bis vor 150 Jahren noch ein koloniales Dasein lebte und heute die Führung der Völker ergriffen hat.

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