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Die Separatisten Europas

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Wie an jedem Jahresende, so hatten sich auch am letzten Silvesterabend Tausende von Madridern auf dem Platz der „Puerta del Sol“, dem Herzen Madrids und, geographisch, ganz Spaniens, versammelt, um die zwölf mitternächtlichen Schläge des Glockenturms zu hören, die das alte Jahr beschließen. Jene Madrider, die in den noch erträglichen Morgenstunden der drückend heißen Sommersonntage zu Scharen hinausfahren oder -wandern, um entweder irgendeine Stelle des Rio Manzanares zu finden, die noch hinreichend tief ist, ihren Körper zu benetzen, wenn sie sich lang ins Flußbett legen, oder eine der seltenen sdiattenspendenden Zypressenhaineoasen in einer unter Sonnenglut verdorrenden Steppe; jene Madrider, die in den Nächten der Sommerwodien mit ihrer zahlreichen Nachkommenschaft — die Mütter selbst mit ihren Kleinkindern und Säuglingen — bis ein oder zwei Uhr die Straßen, Parks und Grünanlagen bevölkern, lebhaft schwatzend, lachend oder streitend, auf Bänken, Springbrunnenmauern und selbst auf den Bordsteinen des Bürgersteigs sitzend, um die Wohltat der Nachtkühle, die oft erst gegen elf Uhr beginnt, zu genießen. Der Trubel der Silvesternacht ähnelt fast einem Sommernachtsfest, einer „verbena“, nur mit dem Unterschied, daß die „botijeros“ in ihren Bottichflaschen nicht frisches Wasser oder Eisgetränke verkaufen, sondern wärmenden ,.eau de vie“, Kognak oder Anis.

Zur selben Zeit fuhren lautlos vor der Residenz der Grafen de Elda in der Calle Alfonso XII. glänzende Luxuslimousinen auf. Livrierte Lakaien öffneten die Wagentüren und Herren in Zylinder und Frack, in Offiziers- oder bestickten Diplomatenuniformen mit buschigem Zweispitz und Damen, in kostbare Abendkleider und ausländische Pelze gehüllt, betraten die festlich erleuchtete Marmorhalle des Palastes. In einer Nische des Saales lehnte der Gesellschaftschronist des „ABC“, der monarchistischen Tageszeitung Madrids, und schrieb:

„…An der Seite ihres Gatten, des Grafen, empfängt die schöne Hausherrin mit liebenswürdigstem Scharm ihre Gäste … Mit den zwölf Glockenschlägen der Turmuhr der „Puerta del Sol“ zelebriert man die klassische Zeremonie, die zwölf Weinbeeren von einer Traube zu pflücken und zu verzehren. Funkelnde Champagnerkelche klingen aneinander zum ersten Brindis auf das neue Jahr. Dann formieren sich die Paare zum „rigodon de honor“ : Gräfin de EJda — Seine Königliche Hoheit Prinz Ataulf von Orleans; Ihre Königliche Hoheit die Herzogin von Mont- pensier — Herzog von Alba; Herzogin de Gandia — Graf de Elda; Herzogin von Mo n teal eg re — Marquis de Santo Domingo usw. in langer Reihe.“

Während in dieser und Hunderten von eleganten Residenzen der „Corte“, wie Madrid auch heute noch geläufig genannt wird, die Aristokratie und die „Creme“ der Gesellschaft das neue Jahr bis ins kl-eiiiste Zeremoniell genau so begrüßen wie einst, ah nodi Alfonso, Victoria und ihre Vorfahren in Aranjuez Hof hielten, während das Voiks- getümmel der „Puerta del Sol“ jubelte und jauchzte, um wenigstens dieses einzige Mal zwischen zwei Jahren Sorge, Not und knurrenden Magen zu vergessen, und derweil auch überall in der Hauptstadt und in der Provinz sich Familien — jene gegen Feuer und Schwefel zusammenhaltenden individuellen Kleinstaaten im spanischen Staat — in der Zurückgezogenheit ihres Heims versammelt hatten zu gemeinsam’ Speis’ und Trank — klangen sonor unter hohen Gewölben in mystisches Halbdunkel getauchter Kathedralen Gebete und Responsorien.

Hunderttausende, vielleicht Millionen von spanischen Männern, Frauen und Kindern erwarteten das neue Jahr, „so wie Gott es befiehlt“ : mit ausgebreiteten Armen im Staub liegend und mit der Stirn die Fußbodenfliesen der Kirche berührend.

Der Leser ist im Irrtum, wenn er glaubt, diese Chronik sei ein später Silvesterbericht aus der spanischen Hauptstadt. Das Beispiel der Silvesterfeiern soll nur zeigen, wie selbst in dieser Nacht, in der es anderswo Vorkommen mag, daß in irgendeinem Moment doch die Unterschiede in gewisser Hinsicht zurüektreten, sich hier die Gesellschaftsklassen, die verschiedenen Individualismen betont differenzieren.

In der Tat, Abgründe — geistige, ja epochale Abgründe — trennen zum Beispiel jenen Herzog von Algeciras auf dem Empfang der Grafen de Elda von den vielen Lopez oder Perez unter der Puerta del Sol. Abgrundtief ist auch die Kluft zwischen diesen beiden Kontraponenten und den Scharen tief gottesfürchtiger Gläubigen in den Kathedralen. Sie sehen einander nicht. Jede diser drei Gruppen lebt in einer Atmosphäre, in der sie nichts an das Bestehen einer andersartigen Welt und andersartiger Menschen erinnert. Sie hören einander nicht, denn wenn auch eine dieser Gruppen sich recht geräuschvoll zu betragen weiß — nicht nur in der Neujahrsnacht —, so dringen diese Geräusche doch nicht an Ohren, die nur für die Feinheiten gesellschaftlicher, akademischer und diplomatischer Unterhaltung geschärft zu sein pflegen.

Die spanische Nation setzt sich aus unzähligen einander so fremden und sich untereinander nicht verstehenden Individualismen zusammen, die ihr eigenes Leben leben, möglichst so, wie sie es seit Generationen gewöhnt sind. Wer nicht innerhalb jenes individuellen Kreises lebt, sei es jener sozialen Schicht, ienes gesellschaftlichen Kreises, jener Kleinstadt, jenes Dorfes, jenes Familienclans, der ist ein Fremder, der in einer weiten Ferne wohnt. Man weiß nichts von den Problemen der ändern, man interessiert sich auch nicht dafür.

Genau so wie die Spanier unter sich Individualisten reinster Prägung sind, so stehen sie als Volk eigenwillig am Rand der europäischen Völkerfamilie. Die Welt, und mit ihr Europa, schreitet fort — ob sie wirklich vorwärts schreitet, mag dahingestellt bleiben.

Sie ändert ihre Gestalt, ihre Lebensweise, ihr Denken. In Spanien ist wenig davon zu verspüren. Und wenn die Welt deutlich und laut an Spaniens Pforten klopft und sagt: „Was träumt ihr da in eurer Abgeschlossenheit? Seht ihr nicht, daß jenseits der Meere, jenseits des Pyrenäenwalls die Welt und die Menschen anders geworden sind? Macht euch auf, es ist Zeit, daß ihr euch ein wenig anpaßt!“, dann sieht der Spanier gleichsam erstaunt auf und fragt: „Ja, und? Was macht das uns aus?“ — (Eine Autorität wie Ramon Menen dez Pidal, Direktor der „Real Academia Espanola de la Lengua“, nennt das typische „Es macht mir nichts aus“: „El no importą de Espana“) — „Ihr seid ihr und wir sind wir. Was ihr da draußen beginnt, danach fragen wir nicht. Kümmert euch deshalb auch ihr nicht um das, was wir tun. Ihr seid uns Fremde!“

Es gibt natürlich Strömungen im Lande, die von einem solchen „Separatistentum“ abweichen. — Wie sollte es eine solche Strömung nicht geben! Bildet sie doch einen inneren Separatismus mehr! Aber nicht alle dürfen so vernehmbar werden wie jene, zu der sich Ramon Serrano Sufier, der nach seinem Berliner Besuch während des letzten Welt „como Dios minda“ — eine feste, ständig in altspanischen Familien angewandte Ermahnung.

krieges plötzlich abgesetze ehemalige Außenminister Spaniens, bekennt, indem er im „ABC“ schreibt, vom neuen Jahr erhoffe er „eine neue Etappe der spanischen Politik, in welcher die Losungen .Spanien — auserwähltes Land, Spanien — Bollwerk gegen den Kommunismus1 sich aus starren Redewendungen, die nur den Geist bloßen Widerstandes enthalten, in verpfliditende positive und schöpferische Tatkraft verwandeln mögen. Das Leben Spaniens leidet heute dank gewisser Umstände, deren Wurzeln in der Vergangenheit zu suchen sind, an einer gewissen Abgespanntheit, an einer gefährlidien kollektiven Verständnislosigkeit, an einer trägen Langeweile. Nur Menschen ohne Visionskraft werden sich, darüber keine Rechenschaft abgeben, daß dieser Umstand, mag er auch für die Gegenwart von geringem Einfluß sein, die Zukunft jedoch entscheidend belasten muß, indem er eben diese Zukunft gleichsam im Leerraum suspendiert lassen wird. Und mag man es wollen oder nicht, mag man es erkennen oder ignorieren wollen, für Spanien wird die Stunde der Prüfung schlagen! Die Stunde, in der es notwendig sein wird, tatkräftig u handeln, schöpferrisch zu wirken und zurüekaukehren in eine stürmische Welt, in deren Mitte kein Volk sich den Luxus erlauben kann, allein zu bleiben.“

Das ist die Stimme eines wehoffenen, europäischen Geistes. Verschwindend klein die Anzahl der Spanier, die sie nicht verstünde. Aber kann sie zu einem Weckruf werden? Menendez. Pidal spricht in seiner „Einführung in die Geschichte Spaniens“ von einer „kollektiven Resignation des spanischen Volkes in verschiedenen Situationen ganzer Epochen seiner Geschichte“ (und nebenbei auch von einer „allgemeinen Passivität des Volkes vor schlechter Verwaltung selbst vitalster Angelegenheiten durch den Staat“!), von einem „instinktiven und elementaren, eigenartigen Stoizismus“.

Im spanischen Volkseharakter liegt die Erklärung für vieles, was dem „Fremden“ widerspruchsvoll, ja oft — ohne zu vergessen, daß es vor allem unsere Pflicht ist, unsere eigenen Defekte zu erkennen — kriti- sierbar erscheint. Seine Mängel sind oft zugleich auch Tugenden. Die allgemeine Interesselosigkeit gegenüber den Wechselfällen des Lebens — no importą —, bedingt einen unerschütterlichen Gleichmut, ja Heiterkeit des Gemüts. Jener Gleichmut ist die bewunderte Tugend Karls V., der „bescheiden im Triumph, unerschütterlich in Schicksalsschlägen“ war; auf die Nachricht vom überwältigenden Sieg seiner Truppen bei Pavia zieht er sich still in die Hauskapelle zurück, um Gott Dank zu sagen. Aber da der Sieg Ströme von Blut kostete, erlaubt er keine Freudenfeiern an seinem Hof. Philipp IV, befiehlt nach dem Erhalt einer Unglücksbotschaft demütig, daß in der königlichen Hauskapelle das vierzigstündige Gebet beginne. Aber jener Gleichmut, jenes Sich- bescheiden in Gottes Willen bringt es mit sich, daß der Spanier in dem Moment, da er den Anreiz eines wirklich großen, vitalen Unternehmens spürt, unerschöpfliche, unverbrauchte Kräfte in sich erwecken kann.

Dann steht er auf zum großen, welterschütternden Aufbruch! So die großen Entdecker und Konquistadoren, die oft mit den unmöglichsten, unzulänglichsten Mitteln, ohne jede Vorbereitung ins Unbekannte zogen. Christoph Columbus war kein Spanier, und deshalb verzögerte er seine Expeditionen nach Westindien so lange, bis die katholischen Könige seine Reisen großzügig ausgerüstet und ihm selbst königlichen Lohn versprochen hatten.

Wer den Bürgerkrieg in Spanien erlebt und wer die Kämpfer der spanischen „Blauen Division“ im Osten gesehen hat, der weiß, zu welchen Entbehrungen und Opfern Spanier fähig sind. Im Bürgerkrieg sagten oft deutsche Freiwillige: „Wenn wir unter sol dien Bedingungen wie die Spanier kämpfen müßten, wir würden an ihrer Stelle den ganzen Krempel hinwerfen.“ Unter Alfons V. beschuldigten die spanischen Landsknechte ihre italienischen Waffengefährten, daß deren Tote in der Schlacht verschwindend gering seien im Vergleich zu den ihren. Worauf der Condottiere Braccio da Montone erwidert: „Ihr haltet es für ehrenvoller, euch von den Feinden in Stücke schlagen zu lassen, als das Leben zu retten für eine spätere Vergeltung!“ Und vorher schon, im 12. Jahrhundert, steht in der „Historia Silense“, daß der opfervolle und furchtbare Krieg gegen die Sarazenen nur von den „harten Rittern“ Spaniens zu siegreichem Ende geführt werden konnte, denn die anspruchsvollen Junker Karls des Großen zogen sich ermüdet nach Zaragoza, nach Norden zurück; „sie sehnten sich nach den Thermen von Aquisgran“. Zu Beginn der Kreuzzüge geschah es, daß wegen eines zeitweisen Ausfalls der Verpflegung nordländische Heere sich auflösten und nach Hause zurückkehrten, während nur die Spanier durchhielten und die kritische Lage überbrückten.

Genügsamkeit, Opfermut, Idealismus und Todesverachtung sind dem Spanier eigen. Die Todesverachtung gründet in einer tiefen Religiosität. Sie ist fast der einzige Faktor, der den spanischen Individualisten zu bewegen vermag, der Gemeinschaft gegenüber Konzessionen zu machen. Mit seinem ausgeprägten Individualismus sind Begriffe, wie „Dienst am Ganzen“, „Dienst an einer gemeinsamen Sache“, unvereinbar; die Nächstenliebe, die christliche Karitas, ist die Form seines objektiven Wirkens für die Gemeinschaft.

Das im Inneren. —- Gegenüber dem Ausland, in der europäischen oder Weltgemeinschaft, hat seine Religiosität Spanien, oft zum Gegenpol beginnender Krisen werden lassen. Spaniens Theologen waren die hervorragendsten Direktoren des Trienter Konzils. Als die europäischen Staaten am Eingang der Neuzeit ihren ganz partikularen Nationalismus entwickelten und das katholische Prinzip verwarfen, das sie epochenlang geeint hatte, da ist. es Spanien, das seine eigenen Ziele mit den universalen Zielen der Christenheit identifiziert, und von Ferdinand dem Katholischen bis zur Gegenreformation gibt es all seinen Enthusiasmus darein, der katholischen Erneuerungsbewegung einen mächtigen Aufschwung zu verleihen. Die in der Reformation geborene Staatsräson, Macchia- vellis Hintansetzen jeder moralischen Auffassung nach den Interessen des Staates, eine Auffassung, nach der ja auch noch in der jüngsten Zeit hemmungslos gehandelt wird, findet in Spanien kein Verständnis. Bisher ist es Spaniens größte Sorge geblieben, die „Staatsräson“ mit den christlichen Grundsätzen in Einklang zu halten.

Spanien muß das große Ziel klar und nahe vor Augen sehen können, dann erst wird es mit Begeisterung und stürmischem Elan darum kämpfen. Von Phrasen, etwa jener von einem „Tausendjährigen Reich“ oder „Unsere Enkel sollen es besser haben“, läßt es sich nicht beeindrucken.

Die Notwendigkeit einer europäischen Solidarität, die Unumgänglichkeit einer europäischen Vereinigung aber leuchtet den meisten Spaniern schon ein. (Das, wohlgemerkt, nicht, weiil es ihnen von jenseits der Grenzen, von den „Fremden“, eingeredet wird, sondern weil sie selbst zu dieser Erkenntnis gekommen sind.) Noch ringt der Sektarismus einzelner, besonders konservativer, aristokratischer Kreise, mit der unangenehmen Vorstellung, daß sie einen Teil ihres Individualismus aufgeben sollen, aber die Übergewalt, die Dringlichkeit der Situation macht sie zunehmend reif für dieses Opfer. Was haben eine Isabella, ein Ferdinand, ein Karl, ein Philipp nicht aus ihrem Volke herausgeholt! — Freilich, die Zeit der „Könige der Christenheit“ ist anscheinend vorbei, und Franco ist kein Cid Campeador, sondern ein kommoder, wenn auch eigensinniger, galiciscber Landedler. Völker unserer Zeit brauchen Roosevelts und Churchills. Die sind aber als Spanier sdiwer vorstellbar. Oli! Wenn Isabella die Katholische wiederkehren könnte!

Europa wird in Geduld warten müssen, bis der „Gran Capitän“ kommt, der Spanien aus seinem Isolationismus herausführt. Aber dabei tut es uns Europäern wohl, uns daran zu erinnern, daß es Rom einst zweihundert Jahre schwerster Kämpfe kostete, ehe es die unbändigen Stämme Hispaniens zähmen konnte, daß Spanien aber nur fünfzig Jahre brauchte, um die Grundlagen zu einer neuen Kultur in einer ganzen Hemisphäre zu legen.

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