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Rückblick auf Barcelona

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Die Wahl Barcelonas als Schauplatz einer kirchlichen Veranstaltung größten Ausmaßes hatte, das kann unumwunden zugegeben werden, manchenorts Verwunderung, wenn nicht Besorgnisse ausgelöst. Man fragte sich, ob diese Stadt, deren früherer Ruf als eines politischen Unruheherdes und eines Zentrums anarchistischer Bestrebungen sich zu Beginn des Bürgerkrieges bestätigt hatte, den geeigneten Rahmen für einen Kongreß bilden würde, der sich nur unter der Anteilnahme und Mitwirkung der Bevölkerung zu der erhofften Manifestation weltumspannender Einigkeit im Zeichen der Eucharistie gestalten konnte. Inzwischen hat es sich gezeigt, daß Befürchtungen solcher Art unbegründet waren. Die Tage des Kongresses waren Festfage für ganz Barcelona! sie wurden in den ausgedehnten Hafen- und Industriebezirken und in den Quartieren der Ärmsten erkennbar mit derselben Begeisterung gefeiert, wie in den wohlhabenden Villenvierteln von Sarria und an den Hängen des Tibidabo. Gewiß, daß es in dieser Millionenstadt kaum ein Fenster gab, welches nicht mit' den nationalen und den päpstlichen Farben und mit dem Emblem des Kongresses geschmückt gewesen wäre, mag wohl zum Teil auf behördliche Weisungen zurückzuführen gewesen sein; und sicherlich waren es nicht einzig und allein religiöse Motive, die das Spalier zu beiden Seiten der monumentalen Avenida dėl Generalisimo Franco auf zehn Reihen und mehr anschwellen ließen, bereits viele Stunden vor Beginn der Auffahrt zum feierlichen Pontifikalamt, das der Kardinal-Legat Msgr. Tedeschini am letzten Tag des Kongresses auf dem hiefür eigens angelegten Platz Pius’ XII. zelebrierte. Aber die halbe Million Menschen aus dem Volke, die am Abend dieses selben Tages in einer unbeschreiblich eindrucksvollen Prozession dem Allerheiligsten folgte;die nahezu hunderttausend Industriearbeiter, die bei der Mitternaditsmesse auf dem erwähnten Platz kommunizierten; die 70.000 Männer und Frauen, die nach stundenlangem Weg in glühender Hitze das Stadion von Montjuich bis auf den letzten Stehplatz füllten, um dort der Priesterweihe von 800 Diakonen aus allen fünf Erdteilen beizuwohnen und den ersten Segen eines Neugeweihten zu erbitten — kein Appell, keine Organisation und keine behördliche Direktive hätten vermocht, solche Kundgebungen herbeizuführen, hätten nicht der großen Mehrheit des Volkes von Barcelona, gleich den Scharen der Pilger aus anderen Teilen Spaniens und aus dem Ausland, Herz und Wille den Weg gewiesen.

Neben der unübersehbaren Zahl katholischer Männer und Frauen aller Schichten und Stände, die sich eingefunden hatten, um der Eucharistie ihre Verehrung zu erweisen, trat das Regime als solches stark in Erscheinung; zu stark vielleicht, um nicht bei manchen Beobachtern aus der Fremde den Eindruck zu erwecken, daß hier ein rein religiöser Anlaß dazu benützt worden war, um ein Bild der Kräfte zu entfalten, die das heutige Spanien in der weltlichen Sphäre beherrschen. So nahm Franco, umgeben von den höchsten zivilen und militärischen Würdenträgern, an fast allen kirchlichen Veranstaltungen und Feiern der Kongreßwoche teil, und es schien nicht verwunderlich, daß in das übervolle Programm dieser Woche auch eine großangelegte Parade der Garnison von Barcelona und anderer, von auswärts herangebrachter Truppen eingereiht worden war.

Entgegen einer fast überall landläufigen Ansicht ist es nicht so, als ob zwischen der totalen Diktatur, die sich in unserem Zeitalter einen so großen Teil der Menschheit unterworfen hat, und dem heute in Spanien etablierten System kein Unterschied bestünde. Kein Mensch denkt daran, seine Ansichten und seine politischen Äußerungen, auch Fremden gegenüber, zu bespitzeln, und selbst der erklärte Gegner des Regimes, vorausgesetzt, daß er sich nicht an der Organisierung aktiven Widerstands beteiligt, läuft heute keinerlei Gefahr, in einen jener verhängnisvollen Konflikte mit der Staatsgewalt zu geraten, wie sie den Untertanen eines der neuzeitlichen Tyrannen auf Schritt und Tritt bedrohen. Das zeigt sich auch in der Tatsache, daß die Zahl der Strafgefangenen in den letzten Jah- len dauernd abgenommen hat und gegenwärtig, nach der partiellen Amnestie, die anläßlich des Eucharistischen Kongresses erlassen wurde, geringer ist — „politisdie“ und sonstige Delinquenten zusammengerechnet — als beispielsweise die Zahl der in den Gefängnissen Großbritanniens Inhaftierten.

Auch im sozialpolitischep Sektor weichen die Ziele und Bestrebungen des Franco-Regimes sehr erheblich von dem Bilde ab. das man sich im allgemeinen zurechtgelegt hat. Es kann billigerweise nicht bestritten werden, daß sich das Regime mit Erfolg bemüht hat, die Lage namentlich der industriellen Arbeiterschaft zu verbessern, und daß dieser Teil der Bevölkerung heute Vorteile genießt, von denen in einer sogenannt liberalen Epoche noch kaum die Rede war. Sozialversicherung, gesetzlich regulierte Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen, bezahlte Urlaube, arbeitsrechtliche Schiedsgerichte sind nun auch für den spanischen Lohnempfänger zu fest verankerten Wirklichkeiten geworden.

Aber freilich, all das reicht an den Kern der aktuellen Problematik nicht heran. Zwei Fragen insbesondere sind es, die alle Leistungen oder Fehlleistungen des Regimes überschatten und mit zunehmender Insistenz zur Lösung drängen.

Die eine erwächst aus der krassen Diskrepanz zwischen der Armut der breiten Massen, denen auch der Mittelstand zuzuzählen ist, und dem großen Reichtum, der in verhältnismäßig wenigen Händen konzentriert erscheint. Fleiß und Anspruchslosigkeit gehören zum Charakter des spanischen Volkes. Der typische Spanier sieht den Zweck des Daseins nicht im Erraffen materieller Güter; er lebt nicht, um Geld zu verdienen, sondern er arbeitet, und oft mit erstaunlicher Emsigkeit, um das Wenige zu erwerben, was er braucht, um sich eines bescheiden- einfachen Lebens im Kreise seiner Fa-

milie ünd seiner stets zahlreichen Freunde zu erfreuen. Er vergönnt es auch anderen neidlos, daß sie mehr besitzen als er selbst; aber zwischen einem Mehr und dem Allzuviel, über das einzelne verfügen, und oft ohne jedes erkennbare Bewußtsein der Verpflichtung, die ihnen ihr Reichtum auferlegt, liegt eine Kluft, die nicht zu übersehen und noch weniger zu rechtfertigen ist und den sozialen Frieden schwer gefährdet.

Mit dieser Frage zusammenhängend, aber weit über sie hinausgreifend, ist jene einer Abhilfe gegenüber den Übeln, die sich unweigerlich aus einer praktisch unkontrollierten Machtausübung ergeben. „Alle Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut" — dieses bekannte Wort Lord Actons findet sich auch hier in einem erheblichen Ausmaß bestätigt. Wo es keine Freiheit der Presse gibt, und überhaupt kein Forum der öffentlichen Beschwerde, Anregung oder Kritik, ist es unvermeidlich, daß ein größerer oder geringerer Teil der Regierungsgewalt in die Hände von Elementen gerät, die ihre Machtposition rücksichtslos für ihre eigenen Zwecke und zum Schaden der Allgemeinheit mißbrauchen. Wie, konkret genommen, dem abzuhelfen wäre, darüber sind die Ansichten geteilt.

und es ist fraglich, ob sich, im Falle einer freien Volksabstimmung in Spanien, die Mehrheit für eine Wiedereinführung der demokratischen Institutionen, so wie sie hier vor dem Bürgerkrieg bestanden, entscheiden würde; auch die Demokratie in ihrer klassischen Form ist ja, wie die Spanier aus eigener, bitterer Erfahrung und aus den Erfahrungen anderer Länder wissen, gegen Mißbrauch keineswegs gefeit. Sicher aber ist es, daß eine überwältigende Majorität Reformen fordern würde, durch die bestimmte demokratische Grundrechte, so vor allem das Recht freier Meinungsäußerung und Kritik, und das Mitbestimmungsrecht in der Gesetzgebung, wieder zur Geltung kämen.

Es sollte die Fähigkeiten der gegenwärtigen spanischen Staatsführung nicht übersteigen, den Weg zu solchen Reformen zu finden, und ein System zu ersinnen, welches dem Wunsch und Willen des spanischen Volkes Rechnung trägt, ohne den inneren Frieden und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes neuen Belastungen und Gefahren auszusetzen. Das wäre diesem tapferen und edlen Volke in seinem eigenen Interesse, wie im Interesse der gesamten europäischen Völkergemeinschaft von Herzen zu wünschen.

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