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Unter dem Mittagsdämon

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Die von den Alten „Non“ genannte Stunde — zwischen dem heißen Mittag und dem Sonnenuntergang — gehört nicht zu den glückverheißenden. Auf ihr liegt die Last und Glut des Tages. Der rätselhafte „Mittagsdämon“ soll in dieser Zeit seine Pfeile verschießen.

Wer am vergangenen Fronleichnamstag um diese Stunde durch die Straßen der Wiener Innenstadt ginig, konnte den Mittagsdämon zwar nicht sehen, aber sehr gegenwärtig in der schwülen Luft spüren. Zu sehen war ja zu dieser Zeit überhaupt niemand: kein Auto, keiner der vielen Fußgänger. Und zu hören war nur das Klappen der eigenen Schuhsohlen. Wäre nun aber plötzlich aus einem der christlich-bürgerlichen Häuser des 1. Bezirkes ein zufällig verspäteter Wochenendfahrer herausgetreten und hätte er den einsam dem Zentrum zustrebenden Pilgersmann gefragt, wohin er denn gehe, und hätte dieser wahrheitsgetreu geantwortet: Zum Jahreskongreß der Christlichen Demokraten, der sich zu eben dieser Stunde zwecks Beratung der christlichen Sozialpolitik versammelte ... der durch solche Antwort hervorgerufene Gesichtsausdruck wäre allein schon des Photographierens wert gewesen.

Aber keine Angst: eine solche Begegnung fand nicht statt.

Bilder der näheren und entfernteren Vergangenheit tauchten auf: Erinnerungen an jene legendäre Zeit, da in eben diesem Wien, in diesem Österreich die christlichsoziale Idee — von französischen Ursprüngen her eigenständig weitergebildet — geboren worden war. Da es hier die „Entenabende“ und die „Leo-Gesellschaft“ gegeben hatte, die Arbeitszirkel des Prälaten Schindler, die Volksversammlungen des Bürgermeisters Lueger, die akademischen und nichtakademischen Seminare Seipels, die „Wiener Richtungen“ von Spann bis Lugmayer, von Kralik bis Winter. Und dann die Kongresse der christlichen Demokraten der ersten Jahre nach dem zweiten Weltkrieg: Als sie nicht nur ausgezogen waren, den Kontinent geistig zu erobern, sondern ihn auch an sehr wichtigen Schlüsselpunkten bereits erobert hatten, als es die hitzigen Europadebatten, die Grundsatzerklärungen gegeben hatte, bei bescheidener Kost und noch bescheidenerer Nachtruhezeit. Ja damals vor ein paar Jahren noch im italienischen Arezzo, als sich die italienischen Minister, die gewesenen und zukünftigen Premiers auf der Rednertribüne im Theatersaal der Petrarca-Stadt ablösten, als man so lange und so leidenschaftlich über „Freiheit und Kommunismus“ diskutierte, daß das für acht Uhr anberaumte Festkonzert erst um zehn Uhr beginnen konnte, weil es eben nicht so wichtig war. Oder der Kongreß von Scheveningen an der Nordsee, dessen Arbeitskommissionen die Beratungen oft an drei Orten zugleich führen mußten, wo man um Formulierungen stritt und um Beistriche rang. Oder auch im Vorjahr in Luzern: als der EWG-Präsident Hallstein durch sein Referat das Für und Wider entzündete, als es knisternde Spannung im Saal gegeben hatte, dessen Runde bis hinauf zur Galerie nicht nur mit ausländischen Gästen von erheblicher Prominenz, sondern auch mit Schweizer Parlamentariern und Publizisten erfüllt gewesen war...

Und solches überdenkend kam man schließlich ans Ziel. Um den Gesamteindruck vorwegzunehmen: Es war der enttäuschendste unter den Kongressen der Christlichen Demokraten seit zehn Jahren. Und das, was schon bei früheren Versammlungen dieser Art und kleineren Gremien angedeutet und gefordert, mit halben Mitteln da und dort auch s-ngestrebt wurde, ist jetzt i-ur dringenden, für den politischen Fortbestand entscheidenden Tagesforderung geworden. Die internationale Union der Christlichen Demokraten (so der heutige Name der 1947 gegründeten Nouvelles Equipes Internationales = NEI) ist an einem Wendepunkt angelangt, an dem sie sich über die Methoden ihrer weiteren Arbeit klar werden muß. Andernfalls kann es nur noch zum Einschlafen und Verdämmern führen.

Das Thema dieses Jahreskongresses, „Die Sozialpolitik der christlichen Demokraten“, bedarf, was seine Wichtigkeit und Zeitnotwendigkeit betrifft, keines Kommentars. Und das, was die beiden Referenten, der französische Gewerkschafter Theo Braun und der österreichische Wirtschaftspolitiker Generalsekretär Dr. Withalm dazu zu sagen hatten, bewies seinen Wert und sein Niveau gerade dadurch, daß man es im einzelnen kritisieren, ja sehr leidenschaftlich beantworten konnte. Beide Redner verkörperten je einen möglichen Weg, der sich von der gemeinsamen Herkunft legitim und konsequent ableiten läßt. Hier die planende, jede Entwicklung möglichst vorausnehmende Sozialpolitik des „Vorlaufens“, da die Gesellschaftspolitik der Alternative zum Sozialismus. Die Männer, die in der kurz bemessenen Zeit der Diskussion zu Worte kamen, verstanden das auch sehr genau. Ihre Beiträge waren nur in den seltensten Fällen nicht zum Thema gehörende Deklamationen sentimentaler Art. In der Regel waren es zugespitzte Voten, die das im guten Sinne Gegensätzliche der verschiedenen Aspekte deutlich machten. Der Italiener Scaglia, der die dilatorische Haltung seiner in sich selbst nicht einigen Partei zur Verstaatlichung der Elektrizitätswirtschaft zu interpretieren versuchte, der holländische Staatssekretär Schmelzer, ein Mann des „offensiven“ Sozialkonzepts, der bei der Montanunion wirkende Deutsche Hellwig, der das Fragezeichen der Wirtschaft gegenüber allzu kühnen Sozialplänen setzte, der CDU-Abgeordnete Katzer, der aus böser Erfahrung heraus vor dem Mißbrauch der Volks- und Mitarbeiteraktie warnte, der Österreicher Kummer, der die handfeste Definition an Stelle der unverbindlichen Sozialphrase forderte: sie alle — und noch einige mehr —

sprachen klug, pointiert und wirklich zur Sache.

Aber sie sprachen in jenem luftleeren Raum, den der „Mittagsdämon“ dieses müden Kongresses um sie herum geschaffen hatte. Der nicht allzugroße Saal war kaum mehr als halbvoll. Hätten nicht die wackeren Delegierten der christlich-demokratischen Parteien aus dem Exil, die aus bitterer Erfahrung heraus etwas von der Macht der Ideologie wissen, die — nach Marx — zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift, in des Tages Hitze auf ihren Plätzen ausgeharrt, die Leere wäre zum optischen Skandal geworden. Mit einiger Mühe läßt sich eine halbwegs prominente Liste derer aufstellen, die zumindest als Teilnehmer gemeldet waren und die sich für ein paar kurze Augenblicke der Repräsentation im Saale einfanden. Bei der wirklichen Auseinandersetzung zum Kongreßthema fehlten sie nahezu geschlossen. Kaum daß sich ein Regierungsmitglied in den Saal verirrt hatte. Von der Parlamentsfraktion der ersten Regierungspartei unseres Landes, die sich ja zumindest bei Feiertagen (und vor Wahlen) auf das christlichsoziale Erbe beruft, war gerade jenes letzte Häuflein der „Unentwegten“ erschienen, für dessen Aufzählung man nicht einmal die Finger beider Hände verwenden muß, jene wenigen christlichen Politiker, deren Interesse an den Grundsätzen unter den „klügeren“ Kollegen bestenfalls als Privatvergnügen belächelt und geduldet wird. Wo aber waren die anderen, die Mitglieder des Außenpolitischen Ausschusses, die ja nun eine solche internationale Tagung wirklich ar-gegarigen wäre, wo waren die (bei Spesenanlaö) so ausdauernd von Europa redenden Vertreter der Parteijugend, wo die Studenten, wo die Lehrer und Professoren, wo die Männer der kirchlichen Sozialarbeit? Wo war die sogenannte „öffentliche Meinung“ dieses sich in seiner fast stimmenreichsten Wählerzahl zu eben jenen Prinzipien bekennenden Landes? Auf der Pressetribüne saß ein Journalist aus Rom, ein Spanier, ein Ungar, saßen einige Deutsche und Franzosen, aber kaum jemals e4in verlorener Österreicher. Die großen Blätter des Landes nahmen den Kongreß nur sehr konventionell und nachrichtendienstlich wahr. (Die Sozialisten beschränkten sich auf eine tagespolemische, unsachliche Glosse.)

Das alles ist aber nur äußeres Symptom für einen tiefer sitzenden Übelstand. Die ganze Form dieses Kongresses gehört so hoffnungslos der Vergangenheit an, der Zeit, als es die Festversammlungen der Honoratioren mit Begrüßungsrede, Vorstandsbericht und weit ausgedehntem „gemütlichen Teil“ mit „Weinderl“ und Jause und buntem Nachmittag gab, daß einem um die Zukunft angst und bange werden könnte. Österreich war nur das Gastland. Die Organisation dieser Union soll europäisch, wenn schon nicht gar international sein. Ihr hätte es obliegen müssen, diese Tagung durch jene Methoden vorzubereiten, um die heute weder ein Konzil noch irgendein ernstzunehmender Kongreß herumkommt: die Methoden der vorbereitenden, das Material aufbereitenden Arbeitsausschüsse, der Einzelberatung, der Dialoggrundlagen. Wo ist dafür Sorge getragen worden, daß das, was hier an berechtigter Gegensätzlichkeit der Meinungen laut wurde, auch zusammengefaßt, zu einem Arbeitsdokument für weiteres Handeln gemacht wird?

Seit Jahr und Tag gibt es ein In-formations- und Studienzentrum der christlichen Demokratie in Rom. Ein einziger Mann — ein Altösterreicher übrigens — müht sich zusammen mit einem Sekretär und einer Schreibkraft, miserabel dotiert, dort ab, ein Pensum zu bewältigen, für das die sozialistischen Parteien oder andere Gruppen ganze Stäbe eingesetzt haben. Die christliche Demokratie steht vor der

Aufgabe, ihren Aktionsradius zu erweitern, nachdem ihr das unmittelbare Nachkriegsziel — die Überwindung der nationalen Gegensätze in Europa — halbwegs erreichbar war. Aber wie soll das mit solchen spärlich und widerwillig gegebenen Mitteln möglich sein?

Gewiß besagt eine alte Erfahrung, daß der Nutzen solcher Kongresse oft in den Gesprächen hinter den Kulissen, den Besprechungen in den Wandelgängen liegen kann. Und gewiß gab es — wir wollen es wenigstens hoffen — solche Gespräche auch bei diesem Wiener Treffen. Aber deswegen kann man doch das Grundsätzliche, das theoretisch in der Begegnung sehr verschiedener Menschen und Gesinnungsgruppen der christlichen Demokratie zu Klärende, nicht einfach dem Zufall oder der Außentemperatur der Jahreszeit anheimstellen.

Ohne Zweifel war der politische Höhepunkt dieses kurzen Kongresses gegeben, als der belgische Ministerpräsident Theo Lefevre, eine der profiliertesten Persönlichkeiten der christlichen Demokratie, sein großes Referat zur Weltpolitik hielt. Wäre irgend jemand Kompetenter im Saale gesessen, er hätte aufhorchen und den Bleistift zücken müssen, als dieser Mann über die Probleme der europäischen Integration, über die spezifische Rolle und Möglichkeit der Neutralen sprach. Was er sagte, war neu und originell, weil es sich von der doktrinären Haltung Spaaks ebenso abhob wie von der allzu weitmaschigen Europakonzeption mancher Franzosen. An dieser Rede hätte sich eine wirkliche Diskussion entzünden müssen. Die Teilnehmer waren ja zumindest dem Namen, wenn auch nicht der körperlichen Präsenz nach unter den Delegierten. Aber nichts geschah. Der Kongreß wurde geschlossen. Um halb elf Uhr vormittags. Die Tagesordnung war, wie es so schön heißt, erschöpft. Eine Diskussion über diese Fragen war nicht vorgesehen, und keiner hatte Lust, ein solches brennend aktuelles Gespräch vielleicht von sich aus anzuregen.

Die abschließende Resolution wurde dem Niveau der hier aufgeworfenen Probleme kaum gerecht. Politisch enthält sie zwar den für die nähere Zukunft wichtigen Punkt der Bejahung einer Assoziierung der Neutralen zur EWG. Aber die Thematik der sozialpolitischen Auseinandersetzung wird kaum mit neuen, nicht immer das längst zur Phrase Gewordene wiederholenden Wendungen behandelt. Wer diese kennenlernen und sich mit ihnen beschäftigen will, muß die Grundsatzerklärung Dr. Withalms lesen, die dieser nach dem Kongreß als eigenes Resümee veröffentlichte. Aber hätte sie nicht zu den Ergebnissen des Kongresses selbst gehört? Hatte man bei der eiligen Sitzung des Redaktionskomitees keine Zeit oder keine Lust, sich mit dem eigentlichen geistigen Inhalt der Tagung zu befassen?

Das einzige, was man erfuhr, war, daß nun für das nächste Jahr ein neuer Kongreß angesetzt sei. Diesmal ein Kongreß mit erweitertem Teilnehmerkreis. Auch aus Lateinamerika werden Delegierte in Straßburg, dem nächsten Tagungsort, erwartet. Sie kommen — wie wir aus manchem'Gespräch wissen — mit sehr hochgespannten Vorstellungen von der Gestaltungskraft und geistigen Präsenz der christlichen Demokratie über den Ozean gefahren. Sie erwarten sich Anregung und Impuls für die eigene Arbeit. Wird man ihnen die gleiche müde, desinteressierte Routine bieten?

War dieser Kongreß wirklich nur in jenem Sinne „fruchtbar“, in dem Enea Silvio Piccolomini von den Reformreichstagen am Ende des Mittelalters sagte:

„Jeder von ihnen ist fruchtbar. Denn er heckt immer wieder einen neuen hervor!“?

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