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IM SPIEGEL DER PRESSE

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Maßgebliche Politiker der Voiks- parfei behaupten, es sei gelungen, das Parlament entscheidend „aufzuwerten" und damit auch die Demokratie in Österreich auf ein höheres Niveau zu bringen. In Wahrheit ist es leider so, daß der Parlamentarismus auch heute in keiner besseren Verfassung ist als vor drei Monaten. (Eine so blitzartige Gesundung war vernünftigerweise auch nicht zu erwarten.) Es gab im Parlament zwar starke positive Tendenzen, die aber durch starke negative Tendenzen zumindest kompensiert werden.

Eindeutig positiv ist die Tatsache, daß das Nafionalratsplenum häufig zum Schauplatz der öffentlichen politischen Auseinandersetzung wurde. Erfreulich ist auch der beachtliche Fleiß vieler Abgeordneter. Aufgewertet wurde zweifellos die Institution der Fragestunde.

Eindeutig negativ war die rücksichtslose Degradierung des Parlaments zur Gesefzesmaschine. Eine Flut von Gesefzesentwürfen wurde in rasendem Tempo durch diese Maschine gejagt. Abgeordnete und Par- lamentsbeamfe waren am Rande der totalen Erschöpfung. Wie oben erwähnt, gibt es für dieses hektische Tempo manche Enfschuldigungs- gründe. Aber man soll dann nicht kühn von einer „Aufwertung des Parlaments" sprechen, sondern als Regierungspartei über diesen wunden Punkt derzeit möglichst wenig reden.

So gesehen, kann man meiner Meinung nach heute in Österreich noch nicht von einer Äquidistanz der Kirche zu allen demokratischen politischen Parteien sprechen oder, umkehrend, von einer gleichen Distanz der Parteien zur katholischen Kirche. Es ist natürlich jeder politischen Gruppe unbenommen und außerhalb des Einflusses der katholischen Kirche, sich jene weltanschaulichen Grundlagen zu geben, von wo aus dann tatsächlich die Distanz von der Kirche zur Partei und der Partei zur Kirche gleich möglich ist. Insoweit, daß Geistliche in keiner politischen Partei tätig sein dürfen, ist natürlich eine Äquidistanz der Kirche zu den politischen Parteien gegeben. Gleiche Distanz hat natürlich die Kirche aus ihrer pastoralen Aufgabe heraus zu allen Menschen. Trotz dieser Grundhaltung werden Kirche und Politiker dort auch wieder einander näher- jlehen, wo Repräsentanten einer politischen Partei innerlich und sichtbar bemüht sind, in Übereinstimmung mit den Lehren der Kirche zu leben. Das gilt für alle im öffentlichen Leben stehenden Menschen, gleichgültig, welcher politischen Partei sie angehören.

Nicht nur das schrille Pfeifen der Spielmannszüge und ein Ruch guten deutschen Turnerschweißes lag in der Bergluft über Innsbruck, sondern auch der Schatten des großdeutschen Reichs, die Proteste der österreichisch empfindenden Patrioten aller Lager und die politische Spannung zwischen Rom und Wien, als zum „Dritten Bundesturnfest" am Wochenende 10.000 „deutsche Menschen" beim edlen Wettstreit um den schlichten Eichenkranz in Tirols Landeshauptstadt zusammenkamen

Jahnsches Turnen sei Ideologie, erläuterten die Obmänner des österreichischen Turnerbundes, die die Kritik an ihrem Tun als Wühlhetze der Kommunisten abwerfen. Aber welcher Art diese Ideologie sei, vermag niemand genau zu sagen: Seit Jahrzehnten müht sich die Verbandsleitung um die Erstellung eines turnerischen Katechismus, aber beim Streit um die Auslegung der Begriffe Heimalliebe, Brauchtum, Gemeinschaff, deutsches Wesen, Volk ist es weder gelungen, Einigung zwischen der österreichischen Staafsraison und dem Bund der John-Jünger noch unter den Sportsfreunden selbst herzustellen: Schmerbäuchige Rausche bärte und Burschenschafter, jugendliche Handballer und Freunde des zackigen Marschierern mußten sich mehr in dumpfen Emotionen als unter einem klaren Programm zum „frohen turnerischen Erntefest" vereinen.

„Man" sagt, die Österreicher wollten endlich ihre Ruhe haben: nichts mehr hören von den verbrecherischen Hitler-Kriegen, nichts mehr hören von den Konzentrationslagern und den Millionen Ermordeter! Doch gleichzeitig marschiert „man" mit Hitler- Orden bei monströsen Kundgebungen, verniedlicht die KZ-Greuel und trauert dem „großen Reich" nach. „Man" ist also gar nicht bereif, einen Schlußstrich zu ziehen. Schließlich ist „man" wirklich mit Herz und Hand dabeigewesen! „Man" kann sich heute, wie man vor kurzem hörte, sogar schon wieder auf seine Vergangenheit als Empfehlung berufen!

Es gab für die gleichgebliebenen „Ehemaligen" eigentlich nur eine kurze Durststrecke nach 1945. Dann ging das große Werben los, und zwar nicht um jene „Ehemaligen", die aus Dummheit, Feigheit oder auch aus irregeleiteter Begeisterung milgehalten und dann ihr Versagen eingesehen hatten, zumindest aber nicht mehr zu rechtfertigen versuchen. Es ging und geht um die im Kern unveränderten, nur in ihrem Verhalten etwas akkommodierten Nazi. Ihnen darf man vom „Tausendjährigen Reich" nur das erwähnen, was sie gerne hören. Und in der Art, wie sie es gerne hören

Einen Strich unter die Vergangenheit, einverstanden, aber nicht für jene, die sich vor der Verantwortung für vielfachen Mord — worüber sie sich im „treudeutschen Kreise" sogar noch brüsten — entziehen wollen. Es wäre auch hoch an der Zeit, die Politik des Negligierens und Augenzwinkerns aufzugeben und dem österreichischen Volk das Bewußtsein zu verleihen, daß in diesen Belangen die Haltung der beiden großen Parteien gleich und eindeutig ist.

Am 19. Juli dieses Jahres wäre Ignaz Seipel 90 Jahre alt geworden

Dennoch ist der Staatsmann Ignaz Seipel eine tragische Figur der österreichischen Geschichte, nicht nur im Hinblick auf sein Priestertum, das in den Jahren seiner politischen Tätigkeit schwersten Betastungen ausgesetzt war, sondern auch in bezug auf sein politisches Werk, das scheinbar gescheitert ist. Es war das Schicksal dieses Mannes, in dem sich hohe Geistigkeit und politisches Handeln zu einer seltenen Einheit verbanden, für Österreich zu einem Zeitpunkt in die Bresche springen zu müssen, in dem dieses europäische Herzland von unversöhnlichen Gegensätzen zerrissen war und sich selbst erst den Boden für eine neue politische Existenz bereifen mußte. Seipels Schicksal liegt letztlich in jenem Übergangszustand begründet, der zwischen Altösterreich und dem neuen Österreich liegt, das erst nach vielen Kämpfen und Irrungen wieder zu einer klaren Form gefunden hat. Daher bestand Seipels eigentliche Leistung in dem hohen religiösen und sittlichen Ernst, mit dem er sich dem Chaos entgegen’gestemmt hatte, das ihn umgab.

Die Verfechter der These, die österreichische Kultur sei verpolifisiert, sind gebeten, sich doch die folgende Vision auszumalen:

Hetmlfo von Doderer reist im Wahlkampf durch das Land und fordert seine Zuhörer auf, der SPÖ ihre Stimme zu geben. Professor Hans Hott entwirft im Fernsehen ein psychologisches Porträt von Dr. Withalm; dabei nennt er den Generalsekretär der ÖVP einen unbedeutenden Karrieremacher mit einem Vaterkomplex. In einem Aufsatz, den die „Wochenpresse" abdruckt, erklärt Fritz Hochwälder, die österreichischen Arbeiter seien durch die Sozialpartnerschaft nach wie vor das Objekt neokapitalistischer Ausbeutung. Die Professoren Heinfel und Gabriel, unterstützt von anderen Wissenschaftlern, wenden sich öffentlich gegen Waffenkäufe des österreichischen Bundesheeres.

Auch dem phantasiebegabtesten Mitbürger wird es unmöglich sein, sich so etwas in seinem Vaterlande vorzustellen. Die Analogien stammen denn auch aus der deutschen Bundesrepublik

Den Österreichern ist die Vorstellung vom Künstler als Wegweiser in die Zukunft ebenso fremd wie die vom Schriftsteller ols Gewissen der Nation

Der Künstler soll sich tunlichst einem der sogenannten „Lager" anschließen und damit sein grundsätzliches Einverständnis mit den herrschenden Gegebenheiten dokumentieren. Das ist aber auch alles. Politische Stellungnahmen werden von ihm nicht nur nicht verlangt, sie sind unerwünscht. Nach den Vorstellungen des Establishment beider großen Parteien soll die Kunst lebensbejahend, aber seriös sein, bodenständig, aber wettoffen, für das Gute, Wahre und Schöne eintreten, aber bestehenden gesellschaftlichen Problemen aus dem Wege gehen, nichts in Frage stellen und dem Fremdenverkehr nützen.

Ich kann nicht finden, daß die österreichische Kultur verpolltlsierf ist. Wäre sie es, wäre sie weniger langweilig.

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