6639381-1957_36_01.jpg
Digital In Arbeit

Dreimal Deutschland

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Wahlkampf bringt es mit sich, daß sich vor allem in seiner Endphase die einzelnen politischen Erscheinungen dem Schwarzweiß einer Alternativentscheidung einschmelzen. Die Wahl, die der freie Teil des deutschen Volkes, der sich täglich um fast tausend Menschen aus dem sowjetischen Besatzungsgebiet Mitteldeutschlands vergrößert, am 15. September zu treffen hat, steht in besonderer Weise unter einem solchen Vorzeichen. Auf der Ebene der dem Menschen abverlangten Gegenwartsentscheidung gibt es für ihn — heute und hier — kaum eine Möglichkeit, sein Votum zu nuancieren. Es bleibe dahingestellt, wieweit die Kräfte der deutschen Innenpolitik — bewußt oder unbewußt — selbst eine solche dramatische Zuspitzung des „Entweder-Oder“ herbeigeführt haben oder wieweit hier Deutschland unausweichlich im Kraftfeld der Weltmächte steht, von deren Eintracht oder Entzweiung, gemäß immer noch rechtsgültigem Potsdamer Beschluß, die Mitte Europas abhängig geworden ist. Wie dem auch immer sei: vom Ausland her gesehen zeigen die politischen Grundkräfte des heutigen Deutschland ein anderes, licht- und schattenreicheres Gesicht als in der propagandistischen Vereinfachung des innerdeutschen Wahlkampfes. Der Verfasser dieser Zeilen hatte in den letzten Monaten Gelegenheit, im kleineren Kreise drei Persönlichkeiten zu begegnen, die — jede für sich — einen bestimmten Ausdruck der deutschen Gegenwart darstellen. Ob und wie sich diese drei ausgeprägten Elemente harmonisieren lassen, welches von ihnen in naher Zukunft das wirklich dominierende sein wird — das alles liegt im Dämmerlicht der unmittelbar bevorstehenden Monate und Jahre. Der Wahlkampf wird in der Nacht zum 16. September beendet sein. Dann erst wird zu erkennen sein, welche Züge der freie Teil Deutschlands annehmen wird. Feststeht, daß die in den hier genannten Männern personifizierten Grundkräfte „im Spiele" sein werden.

ADENAUER

Es war zur Zeit seines Staatsbesuches in Wien. Auf dem Programm stand die Besichtigung der Schatzkammer in der Hofburg, die unter anderem der Aufbewahrung der Kroninsignien des „Heiligen Reiches“ dient. Der deutsche Bundeskanzler wurde von den Kustoden der Sammlung geführt, denen er sachliche Fragen mit dem verständnisvollen Interesse des Historikers und Kunstkenners stellte. Nichts war bei diesem Rundgang von unechter „Feierlichkeit" und jenem Talmi-Reichspathos zu spüren, dessen sich die Offiziellen der dem „Heiligen“ seit 1806 nachgefolgten Reiche beflissen hatten. Den zahlreichen Pressephotographen schien diese Haltung und Atmosphäre nicht zu behagen. Der deutsche Kanzler hatte sich bereits wieder einer anderen Vitrine zugewendet, als ihn einer der Photographen bat, noch einmal zum Glasschrein der alten Reichskrone zurückzukehren. Eine Einzelaufnahme war vorgesehen: Vielleicht hätte die Unterschrift lauten sollen: „Der Kanzler vor der deutschen Krone“ oder ähnlich. Adenauer, der sich sonst sehr geduldig und pressefreundlich zeigte, winkte höflich, aber bestimmt ab: „Wenn schon; dann nicht allein.. Er bat seine Umgebung und die zufällig anwesenden, keinesfalls „Prominenten“, mit ihm zum Schrein der Krone zurückzukehren. Als ein einfacher, ehrfürchtiger Besucher inmitten vieler anderer stellte er sich dem Blitzlicht. Diese winzige Episode war mehr als eine manierierte Geste. Sie war der Ausdruck einer ganz bestimmten, durch ein acht Jahrzehnte währendes Leben geprägten Haltung. Ich möchte sie das „vornationale“ Element im heutigen Deutschland nennen. Man hat Adenauer oft leicht abschätzig den ewigen „Oberbürgermeister“, den reinen Kommunalpolitiker,, geheißen. Etwas Wahres, keinesfalls Abträgliches wohnt dieser Bezeichnung inne. In seiner Person meldete sich in den Jahren nach 1945 jenes verschollen und ausgestorben geglaubte „Dritte Deutschland" zu Wort, von dem bereits der Freiherr vom Stein sprach, und das er als ausgleichenden Faktor zwischen Schönbrunn und Potsdam — damals vergeblich — zu beschwören suchte. Das Deutschland der freien Reichsstädte mit ihrer weltfrommen Nüchternheit, ihrem bie- dermännischen Selbstbewußtsein. Adenauers politisches Glaubensbekenntnis schließt keinen mystischen „Traum vom Reich“ ein, weder den wilhelminischen noch den staufischen, nicht einmal den karolingischen, den man ihm andichten will. Er glaubt nicht an das Reich, er sehnt sich nicht nach dem Reich, weil er als einer der wenigen Letzten mit seinem ganzen Wesen innerhalb dieses Reiches lebt. Das Reich, in das seine Wurzeln hineinreichen, ist älter als der Nationalstaat, älter als das Alldeutschtum und selbst das Großdeutschtum. Es ist jene gesunde, statische Grundkomponente der europäischen Mitte, die plötzlich sichtbar wurde, als die luftigen und weniger luftigen Bauwerke der Reichsmystiker jeder Spielart im Blut der Schlachtfelder und Konzentrationslager, im Hagel der Bomben zunichte gemacht wurden. Dieser alte Mann drängte nicht zur Führung. Er war einfach da. Er hatte kein „neues“ Konzept für Deutschland, keine Missions- und Erlösungsidee für Europa. Aber er besaß und besitzt jene Tugenden, die in Vergessen und Verruf geraten waren, seit das Jahrhundert der Ideologien in Deutschland seine buntschillernden Fahnentücher zu hissen begann: die sachlichpfiffige Nüchternheit des „Kölnischen I ün- gels", die väterliche Würde des altbürgerlichen Herrn, den vom Seewind des Nordens angewehten Scharfblick des königlichen Kaufmanns. Seine Politik kennt im Grunde nur die Gegenwart. Das verächtliche Wort gegenüber einem moralisierenden Kritiker, der dem Kanzler einige Tage zuvor gemachte widersprechende Aeußerungen vorhielt: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“ ist vielleicht nur erfunden, aber es ist gut erfunden. Adenauer ist der letzte große „Offizielle“ in unseren Tagen, der echt historisch lebt. Ohne die geringste Hemmung gegenüber einem Gestern. Von tiefer Skepsis gegenüber, jeder Utopie des Morgen erfüllt, mögen sie selbst Schwärmer des eigenen Lagers vortragen Adenauer, das ist das historische Deutschland. Sein Argume ist das der Statik. Nach allen unseligen Dynamismen

zur Stunde für Deutschland vielleicht noch eine Lebensnotwendigkeit.

OLLENHAUER

Immer wieder mußten wir an die Weimarer Republik denken, als wir ihm gegenübersaßen. An jene grundanständigen, hoffnungslos unpopulären Männer, an Ebert, Noske, Scheidemann, die in den problematischen Jahren von 1918 bis 1933 zwischen die beiden zerstörerischen Feuer kamen, die das aus leichtem Holz gezimmerte Haus der deutschen Demokratie verbrannten. Ja, so waren sie vielleicht, diese einsamen, glücklosen Sachwalter der deutschen Sozialdemokratie: die Linke, damals noch lodernd, ätzend, funkelnd, verfolgte sie ob ihrer Bürgerlichkeit und Korrektheit mit vernichtendem Hohn. Die Propaganda der Rechten formte si», infam und bedenkenlos zum Zerrbild des „Systembonzen" um. Man photographierte den Reichspräsidenten Ebert in der Badehose am Ostseestrand. Das war bei einer öffentlichen Meinung, die Wilhelm II. in Husarenuniform anbetete und wenig später die makabre Gestalt Hitlers in Lohengrinrüstung zu bewundern bereit war, ein schweres Handikap. Wer mit Ollenhauer spricht, wer die präzise, etwas schwunglose Art, mit der er die einzelnen Fragen beantwortet, auf sich wirken läßt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es diesem Mann ernst ist mit seinem Glauben an ein sozial fortschrittliches Deutschland, an einen Staat in den Koordinaten der Weimarer Demokratie. Die revolutionären, religionsähnlichen Züge des Marxismus, dessen Lehre ja die theoretischen Fundamente auch der SPD bis auf den heutigen Tag bildet, haben die deutschen Genossen nie in jenem Maß ergriffen wie etwa die einstigen Führer der österreichischen Sozialdemokratie zwischen den beiden Kriegen. Kaum vorstellbar, sich Ollenhauer neben Otto Bauer zu denken. Die Frage eines Journalisten nach dem „Endziel“, der Diktatur des Proletariats, beantwortet der Führer der deutschen Sozialdemokratie mit einem breiten, behäbigen Lächeln. „Von Diktatur werden Sie bei uns nichts finden." Wir glauben es ihm. Und wir sind überzeugt, daß er stellvertretend für Millionen Anhänger seiner Partei steht. Aber dennoch ist die weltpolitische Konstellation da, die mörderisch-unausweichliche Alternative, in die das deutsche Volk hineingedrängt ist. Für Adenauer ist sie eine Frage der Realität, eine Gegebenheit der Staatsräson, der mit den bewährten .Mitteln der klassischester ideologischen . Diplomatie . Alteuropas -begegnet, werden muß.' Für Ollenhauer ’ find Sie‘ Semen liegt dieses Problem im Nebelland des ideologischen „Wenn“ und „Aber". Seine Konzeptionen haben, wenn er sie entwickelt, etwas Tastendes, Unsicheres an sich, das menschlich nicht unsympathisch wirkt. Er spricht von Verhandlungen, Kompromißlösungen, Diskussionen. Seine Stimme wird flacher, leiser, müder Und Unsichtbar stehen die Schatten der Untergangstage von Weimar im Raum, die diskutierende, anständige deutsche Sozialdemokratie, die Männer des „guten Willens" und des lautlosen Endes.

GERSTENMAIER

Vielleicht wird er einmal die Schlüsselfigur der deutschen Politik sein. Der kaum mittelgroße, korrekte und nicht eben sehr verbindliche Protestant. Es wäre zu vereinfachend, ihn in die Mitte zwischen Adenauer und Ollenhauer su stellen, obwohl er in seinen Jüngstvergangenen Wahlreden keinen Hehl daraus machte, laß die Gemeinsamkeit der Kräfte der deutschen Demokratie — die Koalition der christlichen und freiheitlich-sozialistischen Demosraten — für ihn auch in diesem Wahlkampf ler harten Alternativen nicht untergegangen ist. :r gehört zu den Männern des deutschen Widerstandes. Wir schreiben diesen Satz im Präsens, lenn er ist keine Vergangenheit. Mit Adenauer, lessen Partei er angehört, verbindet ihn der vürttembergische Sinn für die echten Realitäten, lie zeitlos sind und für das Morgen ebenso not- vendig wie für das Heute. Aber er ist Schwabe, lohn der Heimat Schillers, Hegels und Schel- ings, Hölderlins, genug, um ein Organ für die große, über die Bejahung des gegebenen Sein linausweisende Zukunftsvision zu haben. Er steht auf dem schmalen Grat zwischen der icheinsachlichkeit des wirtschaftswunderlichen 'ettreaktionärs und der gefährlichen Selbst- rersponnenheit des weltverbessernden Ideologen. Ein schmaler Grat, den bislang in der Geschichte lur die wenigsten deutschen Staatsmänner heil :u überwandern vermochten. Aber Gerstenmaier ist über dies hinaus eine Hoffnung des kor.im- len Deutschland, nicht nur innerhalb seiner Konfession und seiner Partei. Heute hat es den Anschein, als ob es für die Zukunft nur zwei Alternativmöglichkeiten gäbe, eben jene vielgenannten, um die der gegenwärtige Wahlkampf ausgetragen wird. Morgen wird dies mit Sicherheit anders sein. Adenauers spezifische

Geistigkeit ist im Grunde ohne Nachfolger. Aber auch die durch Ollenhauer verkörperte humanistisch-bürgerliche Mitte der deutschen Sozialdemokratie — zwischen Carlo Schmid und Herbert Wehner — wird kaum eine neue Generation der Politik begeistern. Etwas Drittes wird in Deutschland früher oder später mitbestim- men, vielleicht sogar einmal maßgeblich bestimmen. Die nicht zu unterschätzende Düsseldorfer Gruppe der Freien Demokraten bietet sich, kaum sehr verhohlen, für diese Aufgabe an. Ihr Rezept ist einfach: Es ist — notdürftig

getarnt mit einigen europäischen Phrasen — das eines zeitgemäß adaptierten Nationalsozialismus. Die Attrappen des Altnationalen und Liberalen verdecken diese Dynamik nur schlecht. Die Männer von Düsseldorf wissen, warum sie ihre propagandistische Munition in den letzten Wochen besonders gegen Gerstenmaier richteten. Hier verkörpert sich der Kern jenes anderen Deutschland, das 1944 mit dem Preis der Selbstaufopferung das Vaterland retten wollte, als es zu spät war. Eines Deutschlands, das in den guten idealen Kräften der Vergangen

heit verwurzelt ist, das Morgen aber in seinen neuen, nicht zuletzt auch sozialen Aufgabenstellungen erkennt. Im Gespräch mit Gerstenmaier haben wir offen und ohne Umschweife auch die heikelsten Fragen berührt. Manchmal war sein Schweigen, eine Satzpause in seiner Antwort, beredter als manches Wort. Er hat nichts von der in sich ruhenden Ueberlegenheit des „Alten“, nichts auch von der im Grunde liberalen Bonhomie des Sozialdemokraten. Zuweilen macht er einen fast vergrübelten Eindruck. Und das hat seine guten Gründe.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung