6629171-1956_27_05.jpg
Digital In Arbeit

RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

Werbung
Werbung
Werbung

DER ARBEITER SOLL WIEDER TRÄUMEN. Die Sozialistische Partei ist uns lange Zeit eine ernste Analyse des Wahlergebnisses vom 13. Mai — wie sie es sieht — schuldig geblieben. Die Kommentare ihres Zentralorgans in den Tagen nach der Wahl blieben stets nur an der Oberfläche. Auffiel die offensichtliche Zurückhaltung ihres Chefredakteurs. Nun hat sich dieser in dem theoretischen Organ des österreichischen Sozialiismus an der Spitze einiger grundlegender Untersuchungen zu Worf gemeldet. Wenn auch Chefredakteur Oscar Pollak seine Ausführungen „als nur einen bescheidenen und rein persönlichen Beitrag“ vorsfell' — „unlerspielen“ nennt man dieses bewußt bescheidene Auftreten auf der modernen Bühne —, so erwecken die Ausführungen des führenden Publizisten der SBOe zweifelsohne nicht geringes Interesse. Oscar Pollak bleibt bei seiner Untersuchung der sozialistischen Wahlschlappe zunächst innerhalb der eigenen Fakultät. Die sozialistische Wahlpropaganda kommt nicht gut weg. .Hausbackenheit und politische Kleinlichkeit“ sind recht massive Interjektionen! Bald aber ist O. P. bei dem Kernstück seiner Untersuchung angelangt. Es umfafjt eine ernste, man könnte auch sagen melancholische Betrachtung über die geistige und seelische Situation des Arbeifers um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Jenes Arbeifers, den der Sozialismus aus den dumpfen Hinterhöfen der Grofjstadt in ein neues, lebenswerteres Dasein geführt hat. „Suburbia“ nennt Oscar Pollak den räumlichen, aber auch geistigen Standort des Arbeiters von heute. Dort aber einmal angekommen, vollzieht sich für O. P. das Unfafjbare:

„Wenn wir von der beginnenden Citybildung in Wien sprechen, so meinen wir damit auch den zunehmenden Zug zur Lebensweise jener Zehntausende, die nachmittags nach der Arbeit in ihr Siedlungshaus am Stadtrand heimkehren und die wenig andere Interessen mehr haben als ihren Garten und ihr Motorrad. Der soziale Fortschritt hat ihre Lebenshaltung verbessert, ihre Freizeit verlängert, der soziale Wohnbau hat ihnen vielfach die Wohnung verschafft, der Mieterschutz sichert sie, der Wohlfahrtsstaat schützt ihre soziale Sicherheit — das alles danken sie der Partei des sozialen Fortschritts, den Sozialisten. Aber, ach, wie weit ist es von ihrem Siedlungshaus zur Sektionsversammlung geworden, und wer hat denn am Abend Zeit, dorthin zu gehen .. . Das war anders, als man noch in der engen Zimmer-Kuchel-Wohnung der Favoritner Zinskaserne wohnte und das kleine Gasthaus am Eck das Lokal war, wo sich immer die Genossen trafen. Jetzt vergißt man manchmal ganz die Einladung zum Sek-lionsabend, die Partei ...“ O. P. erkennt hiermit klar das Dilemma des Sozialismus. Allein der Ausweg? Die Erinnerung an das Wort eines schwedischen Arbeiterführers „Wir haben so viel erreicht, daß die Arbeiter ihre Träume verloren haben“ .. . ist gut. Seine Abwandlung: „Es geht darum, die Menschen auch in suburbia nicht traumlos einschlafen zu lassen“... ist auch nicht schlecht. Ist es aber mehr als eine schöne Stilwendung? Hier mufj man präzisere Auskünfte verlangen. Man darf gespannt sein, welche Aufnahme diese auf der Rechten Wienzeile angestellten Ueberlegungen in der Löwelsfrafje finden werden.

VOLKSTREU! Ein .Ring volkstreuer Verbände“ macht derzeit in Sonnwendfeiern. Da die Betonung offensichtlich auf .volkstreu“ liegt, muß man sich fragen, welches Volk mit der Treue gemeint ist. Das österreichische wohl kaum. Denn um diesem die Treue zu halten, hätten die Führer der „volkstreuen“ Gruppen um 1938 und später reichlich Gelegenheit gehabt. Und haben sie nicht benutzt. Es scheint daher mit dem Wort „Volk“ etwas anderes als gemeiniglich verstanden zu werden. Die Kommunisten sagen .Volksdemokratie“, wenn sie Kommunismus meinen. Die englischen Faschisten sagen .Europa“, wenn sie die Internationale der Ewiggestrigen meinen. Nur in Italieh ist man offen und sagt .Faschismus“, wo man ihn meint. In Oesterreich hat man zur Verdeckung der Ideen einer in Blut und Tränen liquidierten Epoche verschiedene Begriffe verwendet, angefangen mit der „Unabhängigkeit“ (von wem und für wen?) über die „Freiheitlichkeif“, um schließlich beim .Volk“ zu landen. So nebenher engagiert man sich ein wenig in der Frage Südtirol. Jenem Südtirol, das bekanntlich niemand anderer als der „Größte aller Deutschen“ seinerzeit verkauft und verraten hatte. Die Töne, die man in der vergangenen Woche bei verschiedenen Feuerstätten und auf der Tagung der in Lienz „angetretenen“ 240 Alten Herren der nationalen (derzeit: „freiheitlichen“) Korporationen zu hören bekommen hat, waren nicht ein Anlafj, so unbedingt auf die Treue gewisser „freiheitlicher“ Kreise zu Oesterreich und seinem Volk fest zu bauen.

ZWISCHEN WASHINGTON UND BONN. Der neue Rückfall in der Erkrankung des amerikanischen Präsidenten ist weltpolitisch von schwerer Bedeutung. Wenn Eisenhower nicht mehr für die nächsten Wahlen kandidiert, wird Amerika einen bitter scharfen Wahlkampf sehen, der Sieger dürfte ein Demokrat sein, da die Republikaner über keinen weifgültigen Mann neben Eisenhower verfügen. Ueberau auf der Welt rächt sich die Tafsache, dafj die riesigen Apparate der Machfmaschinen, der Grofjparfeien, Grofj-gewerkschaften usw. das Hochkommen und Erproben charakterfester, eigenständiger Persönlichkeiten verhindern; im Ernstfalle ist dann kein „Ersatz“ da... Diese Gedanken wird sich-auch der Einsame aus Bonn, Bundeskanzler Adenauer, machen, der den schwierigsten Amerikabesuch seines Lebens eben hinter sich hat. Die Herzlichkeit der Beziehungen zwischen den US und Westdeutschland hat in der letzten Zeit einige Einbußen erfahren, wie nicht nur die Kritik der „Time“ an Bonn verrät. Damit ist es aber allein nicht getan. Maßgebende, vor allem morgen vielleicht ausschlaggebende Amerikaner befürchten eine Allianz Deutschlands mit Rußland nach dem Ausscheiden Adenauers, den eine Koalition von Sozialisten und den kleineren Parteien zu Fall bringen kann. Schon verlangen offen Ollenhauer, Dehler und andere Parteiführer aus dem Gegnerkreis der CDU, Verhandlungen mit Moskau, ja sogar mit Pankow, das bisher tabu war. — Doktor Adenauer -seinerseits kennt sehr genau die Befürchtungen Bonner Kreise, daß Westdeutschland, in einem künftigen Agreement zwischen UdSSR und USA hinfangestellt werden könne. Wenn Russen und Amerikaner sich nicht mehr gegenseHig fürchten, werden beide auch die Deutschen nicht mehr zu fürchten haben: und deren Anliegen nicht allzusehr in den Vordergrund rücken. — Die zunehmende Unsicherheit in Washington und Bonn, verursacht durch die bedrohte Stellung der beiden führenden Männer, Eisenhower und Adenauer, hat sich bis jetzt nur in Börsenstürzen wirksam gemacht. So rasch aber, wie die Börse sich erholen kann, dürfte diese schleichende- Krise nicht zu beheben sein: hinter ihr steht ein Problem von fundamentaler Bedeutung: die notwendige innere Belebung und Neubildung der Demokratie im Westen; diese erweist sich als zuwenig bewegungsfähig, da die Riesenapparate der Macht naturgemäß schwerfällig sind und je ein Mann naturgemäß nur zwei Augen, ein Herz und ein Hirn hat. Um die heutige Welt zu überschauen, richtig zu beurteilen und dann zu behandeln, bedarf es eines großen Teams gleichrangiger Mitarbeiter...

TITO AUS MOSKAU ZURUCK. Der triumphale Empfang, der dem jugoslawischen Sfaafschef während seines Aufenthaltes in Moskau bereitet wurde, galf nicht einem „verlorenen Sohn“, der reumütig ins Vaterhaus heimkehrte, sondern dem wichtigsten und treuesfen Mitarbeiter in Moskaus weltpolitischen Bestrebungen zur Ausdehnung seiner Einflußsphäre mit friedlichen Mitteln. Als solcher hat sich Tito mehrfach bereits in Indien, Asien, im Nahen Osten erwiesen — der erste Auslandsbesuch des neuen Außenministers Schepilow gilt Aegypten und Syrien, wo Tito und übrigens Schepilow selbst als geheime Unterhändler bereits wertvolle Vorarbeit geleistet haben. Die betonte Treue und Verläßlichkeit Titos zum Weifkommunismus wirft ein Licht auf den anderen, größeren Bruder: Mao und Tschu En Lai. Die Chinesen werden höchlichst respektiert, aber nicht ganz zu Unrecht gefürchtet: es könnte sein, daß Chruschtschow in seiner berühmten Rede von Stalins Bemühungen, China durch eine Entfesselung von Kriegen in seinen Randgebieten (Korea und Indochina) enger an sich zu binden, gesprochen hat. Sehr wahrscheinlich hat er das gefan. Diesen Schaffen zu überwinden, wird die sowjetische Führung noch längere Zeit beschäftigen. Das 600-Millionen-Riesenreich um Peking ist zudem an sich bereits eine solche Größe, daß von „Treue“ und „Verläßlichkeit“ kaum gesprochen werden kann: Giganten haben ein Schwergewicht, das seine eigenen Wege geht. Anders steht es um Tito: dieser ist, wie aus dem veröffentlichten gemeinsamen Kommunique hervorgeht, bereit, konkrete Verpflichtungen im Sinne einer weltpolitischen Allianz auf sich zu nehmen, wenn er das alte große Ziel Belgrads berücksichtigt erhält: als Nachfolger der a I f ö s t e r r e i c h i s c h e n Monarchie die Donaustaafen und Slawentümer in einer Föderation zu vereinen. Naiurgemäß muß Oesterreich die zu erwartende Sammlung der Nachfolgestaaten, einschließlich Polens, um Belgrad aufmerksam beobachten. Sicher wird diese „kleine Allianz“ wesentlich dynamischer und wirkmächtiger sein als die von den Franzosen nach 1918 geschaffene Verbindung einiger Nachfolgestaaten mit der Spitze gegen Deutschland. Deutschland hat sich Moskau selbst zur Behandlung vorbehalten. Als Abschirmung gegen die geballte Potenz der 70 Millionen Deutschen hat aber die neue, um Belgrad zu zentrierende Allianz gerade auch für Moskau eine sehr große positive Bedeutung: sie ermöglicht es, den Nationalismus und nationalen Selbstbehaupfungs-willen dieser kleineren slawischen Brudervölker in Dienst zu stellen, sfqtt ihn, wie unfer Stalin, ständig zu knechten und zu knebeln. — Dem Oesterreicher tut hier auf längere Sicht hin not, sich voreiliger Kommentare, Angstschreie und Hysterien zu enthalten, wie sie von außen bei uns lanciert und von einer willigen Boulevardpresse kolportiert werden. Zunächst gilt es, die Tatsachen kennenzulernen und genau zu studieren: die Veränderungen in Warschau, Prag, Budapest, die jetzt am laufenden Bande vor sich gehen und die noch zu erwarten sind ...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung