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Heimkehr ins Vaterhaus

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Bei vielen Beobachtern der jugoslawischen Entwicklung hat das eifrige Betonen Belgrader Offiziöser, die mit der auswärtigen Presse berufsmäßig Kontakt pflegen — man denke nicht daran, ins „sozialistische Lager“ zurückzukehren — den Verdacht geweckt oder bestärkt, eben das sei das Hauptergebnis des Besuchs Gromykos im Land Titos. Manche westliche Diplomaten gehen noch weiter: Sie sehen die Visite des sowjetischen Außenministers als einen Beweis dafür an, daß die so sehr bestrittene Einordnung Jugoslawiens in die „Gemeinschaft der friedliebenden Völker“ bereits vordem Tatsache geworden ist. Nun heißt es, bei diesem Problem zwei Dinge sorgsam voneinander unterscheiden: erstens eine formelle, wenn auch vorerst geheime Bindung an den sogenannten Warschauer Pakt; zweitens weitgehende Übereinstimmung mit der UdSSR in der Weltpolitik und demgemäß mehr oder weniger enge Zusammenarbeit auf diesem Gebiet.

Das eine ist entschieden zu leugnen. Vorbedingung für einen regelrechten Eintritt Jugoslawiens in den Ostblock wäre der Verzicht auf alle die ketzerischen Ansichten, die von Tito und dessen Getreuen verfochten werden. Einschwenken also auf die Moskauer Generallinie, und vor allem gründliche Beseitigung der innenpolitischen und wirtschaftlichen Besonderheiten („Spe-cifica“), die sich, unter lebhafter Mißbilligung der kommunistischen Orthodoxie, seit 1948 in Jugoslawien herausgebildet haben. Davon kann keine Rede sein: Tito und die Seinen wollen Herren im eigenen Haus bleiben. Die in Arbeit befindliche, übrigens zu langwierigen Auseinandersetzungen innerhalb des jugoslawischen Kommunistenbundes Anlaß gebende, neue Verfassung soll und wird gerade den eigenen Standpunkt dieser Häretiker ausdrücken.

Doch etwas anderes ist es mit einer Koordinierung der Außenpolitik Moskaus und Belgrads, dann mit den kleinen oder größeren Geschenken, die eine wiedergefestigte Freundschaft erhalten müssen.

Als kurz nach Chruschtschows Machtübernahme der verlorene Sohn

Tito wenigstens insoweit ins bolschewikische Vaterhaus heimfand, daß er die Verbindung mit dem Westen stark lockerte, da wurde vom wiedergewonnenen Väterchen gar manches allegorische Kalb geopfert. Nun, bei der zweiten Rückkehr des verlorenen Sohnes, ist die Reihe an ihm, etwas zu opfern. Und da hat man sich nicht mit zarten Kälblein begnügt, sondern einen Stier auserkoren, der mit seinen noch nicht abgestumpften Hörnern grimmig zuzustoßen weiß. Um aus der Bildersprache in die nüchterne politische Wirklichkeit zurückzugleiten, Deilas wird als Opfer das jetzige Familienfest verschönern.

Die Angelegenheit dieses gefährlichen Eigenbrötlers hat, nach zuverlässigen Mitteilungen, einen viel tieferen Hintergrund, als die zum unmittelbaren Vorwand genommene Veröffentlichung der mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden Gespräche mit Stalin und die Schilderung des damaligen Milieus im Kreml. Dzilas ist am 20. Jänner 1961 aus der Haft entlassen worden, und zwar nach mancherlei Verhandlungen, deren Ergebnis sein nunmehr in Belgrad veröffentlichtes Gnadengesuch an die kompetenten Stellen, das heißt faktisch an Tito, war. Allmählich wurden alte Freundschaftsbande erneuert. Der einstige Kampfgefährte des Marschalls hatte öfter Gelegenheit, mit derzeitigen Machthabern zusammenzutreffen, und er hat dabei sicher allerlei Dinge erfahren, die von größerer Aktualität sind als die schon historisch gewordenen Erinnerungen ans stalinsche Moskau. Die Entdeckung der Tatsache, daß der bedingt in eine relative Freiheit Gesetzte, entgegen seiner schriftlichen und mündlichen Zusage, dennoch Verbindungen mit westlichen Politikern, Publizisten und Verlegern unterhielt, erregte nicht nur Empörung, sondern auch starke Besorgnis bei den maßgebenden jugoslawischen Sphären.

Die Empörung war ungerechtfertigt: denn Dzilas hatte sein Gelöbnis des Schweigens und des Verzichts auf jederlei politische Wirksamkeit nur unter (un)moralischem Zwang abgelegt: Anders wäre er nicht dem Gefängnis entronnen. Die Besorgnis aber scheint wohl begründet gewesen zu sein. Er hat entweder bereits aus der neuesten Schule geschwätzt und insbesondere über die im Gang befindliche Wiederannäherung an die UdSSR Einzelheiten berichtet, die in Moskau wie in Belgrad gleichermaßen peinlich berührten, oder man hielt ihn für fähig, derlei und ähnliches jederzeit zu tun, solange er sich frei bewegte. Nicht zu vergessen ist, daß die Männer zunächst Tito, also vornehmlich Kar'delj und Rankovic, die als Nachfolger des heutigen Präsidenten vor allem in Frage kommen, den hochbegabten und faszinierenden Dzilas ebenso nicht leiden können wie sie ihn fürchten. Entscheidend aber war der . Unwille Chruschtschows. Ein potentielles Störungselement der mühsam neu zusammengekleisterten sowjetisch-jugoslawischen Freundschaft mußte um so eher und um so schneller ausgeschaltet werden, je gefährlicher es zu werden vermochte. Darum hat man dem mit recht naiven Vorstellungen nach Belgrad geflogenen Ex-jugoslawen und Neuamerikaner Jovano-novic,. dem Boß des Dzilas in den USA propagierenden Verlags Harcourt-Brace, klar bedeutet, daß die „Gespräche mit Stalin“ die hohe Politik Titos überhaupt nicht interessieren; sie würden erscheinen oder nicht. Dzilas ist in einem an die schönsten Zeiten der Stalinschen Diktatur gemahnenden Geheimprozeß zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden, die er, außer den noch unabgebüßten fast vier Jahren seiner früheren, nicht aufgehobenen, sondern nur suspendierten Strafen, absitzen soll. Und dagegen helfen weder die Proteste westlicher schriftsteller und Politiker der nichtkommunistischen Linken noch sogar Bemühungen einiger anderer Persönlichkeiten, auf die man sonst in Belgrad Rücksicht nähme.

Denn im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der jugoslawischen Gesamtpolitik beharrt jetzt, auswärtige und innere Fragen miteinander verknüpfend, folgender Komplex: Es geht dem Land wirtschaftlich nicht gut. Jederlei Hilfe ist ihm nötig. Sie aus dem Westen im gewünschten und im nötigen Umfang zu bekommen, müßte mit politisch-militärischen Zugeständnissen erkauft werden, die Tito und seine Leute weder zubilligen wollen noch können. Das Ausmaß der jugoslawischen Wirtschaftsnöte läßt sich dem Bericht ablesen, den Mijalko Todoro-vid, einer der vier Vizepräsidenten des Bundesvollzugsrates — der höchsten Kollektivbehörde —, dem Parlament, der Skupstina, Anfang April vorgelegt hat. Darin wurde ein strenges Sparprogramm entwickelt, das zugleich einen empfindlichen Lohnstopp, Erhöhung der Produktion und der Arbeitsleistung, Vermehrung des Exports, Drosselung des Imports, Reduzierung des Konsums beschert. Das alles brächte indessen keine spürbare Erleichterung ohne die Lieferungen und die Kredite von auswärts, vor allem aber ohne eine Verwirklichung der großen Industrievorhaben, für die in Belgrad die Pläne ausgearbeitet und im Lande die Erdschätze vorhanden sind, nicht aber die finanziellen Mittel und die technischen Voraussetzungen. Und da bleibt, angesichts der Unmöglichkeit derlei bei den selbst des Beistands bedürftigen Staaten der dritten Kraft, den Erzfreunden Jugoslawiens, zu erhalten, nur der Appell an Moskau.

Dort hat man ja Erkleckliches auf weltpolitischem Terrain zu bieten: Unterstützung in der UNO, Einflußnahrae bei den „jungen“ und bei den alten afroasiatischen Ländern zugunsten der UdSSR, Widerstand gegen westliche, an Belgrad herantretende Verlockungen. So sind schon im vorigen Sommer zarte Fäden gejpfngeiip worden. Der ideologischen f3lfsfc keiten unbeschadet, die zeitweilig noch zu lautem Theaterdonner gediehen, war seit Popovid', des jugoslawischen Außenministers, Reise nach der Sowjetunion im Juli 1961 das Zusammenrücken Chruschtschows und Titos deutlich. Es ist bei vielen internationalen Gelegenheiten bestätigt worden. Nicht zuletzt im sowjetisch-chinesischen Disput und in bezug auf Albanien. Je besser sich das Verhältnis zwischen dem Kreml und Jugoslawien gestaltete, um so heftiger wurden die Angriffe aus Peking und. aus Tirana, die dem Belgrader Söldling Wallstreets, dem Lakaien der Imperialisten, dem Vorkämpfer einer Rückwendung zum Kapitalismus galten. Es ist nun so weit, daß man hinter allen pathetischen oder beschimpfenden Vorwürfen an <lie Adresse Titos den eigentlichen Empfänger merkt, dem sie zugedacht sind: Chruschtschow. Tito hat das erstmals in einem Interview für den „Observer“ Ende März offen erklärt.

So war die Atmosphäre, in der Gromyko vom 16. bis 21. April auf jugoslawischem Boden weilte, durchaus günstig für eine weitere Festigung der Beziehungen zwischen dem Väterchen, das die Emanzipation des zum zweitenmal wiedergewonnenen Sohnes anerkennt, und diesem, der jetzt hübsche Geschenke mitbringt. Die amtlichen Veröffentlichungen bemühen sich, den Ton eher zu sordinieren. Von Ideologie wird — mit Fug — kein Wort gesprochen. Der Gedankenaustausch hat sich nur zwischen Vertretern der Staaten, nicht aber der Parteien vollzogen. Man hat „im Geiste der Freundschaft und Aufrichtigkeit einen erschöpfenden Austausch der Meinungen über die wichtigsten internationalen Probleme und über die das beiderseitige Verhältnis der zwei Staaten betreffenden Fragen gepflogen. Bei der Betrachtung der internationalen Lage bestätigte sich die Ubereinstimmung oder die Nähe der Standpunkte in bezug auf die internationalen Probleme. Es bestätigte sich ebenfalls die beiderseitige Überzeugung, daß eine folgerichtige Politik der friedlichen Koexistenz und die Lösung der internationalen Probleme auf dem Weg von Verhandlungen der sicherste Weg zur Milderung und zur Überwindung der internationalen Spannung wie zur Stärkung des Friedens auf der gesamten Welt ist. Beide Teile stellten mit Genugtuung fest, daß der Besuchaustausch der Minister nützlich und fruchtbar war, daß sich die Beziehungen zwischen der UdSSR und der FBRJ seit der Visite K. Popovid' in der Sowjetunion weiterhin günstig entwickelt haben, daß die erreichten Ergebnisse eine fernere Entwicklung politischer, wirtschaftlicher, kultureller Zusammenarbeit ermöglichen, eine Zusammenarbeit, die sich auch auf andere Gebiete erstreckt.“

Niemand wird bezweifeln, daß sich hinter diesen wohlabgewogenen, jeden Überschwang vermeidenden Sätzen sehr viel birgt. Diese Vermutung wird durch jüngste Äußerungen Chruschtschows bei seinem Bulgarienbesuch von Mitte Mai bestätigt. Es handelt sich zwar nicht um eine Rückkehr in die Abhängigkeit vom Kreml, das haben wir schon eingangs betont; doch um was denn sonst? Auf weltpolitischem Gebiet um enge Gemeinschaft bei der UNO, Jugoslawien als Brücke zu den afroasiatischen Staaten, dafür wird die UdSSR sich schützend gegen die chinesischen Angriffe bezeigen. In Europa stärkt der Kreml die Position des Landes gegenüber Albanien und Griechenland, mit welchem bisher verbündeten Nachbarn der alte Streit um Mazedonien neu aufflammt. Man übersehe nicht den Angriff Chruschtschows gegen die Athener Staatsbürger, den er ebenfalls auf seiner Bulgarienfahrt vom Stapel ließ. Popovid wird auf seiner im Mai stattfindenden Südamerikareise sich der UdSSR sehr nützlich erweisen können, besonders in Brasilien, Bolivien und Mexiko. Jugoslawien macht sich völlig den sowjetischen Standpunkt in den Fragen Wiedervereinigung Deutschlands und Berlin zu eigen. Es wird bei der Expertenkonferenz in Kairo, die für Juni-Juli geplant ist, der wirksamste Vertreter der sowjetischen Tendenz sein, der bekanntlich bei den dort zusammentreffenden Delegierten der „Dritten Kraft“ eine westliche und eine isolationistische gegenüberstehen. Auch in der Abrüstungsfrage sind Moskau und Belgrad eines Sinnes. Die UdSSR wird großzügige, umfängliche Wirtschaftshilfe gewähren. In der jugoslawischen Innenpolitik beschreitet Tito, im Einklang mit Chruschtschow, den Weg der Entspannung. Zeuge dafür: die Amnestie für 150.000 Emigranten und mehr als tausend Häftlinge im Land. Daß man nicht unbedingt Bruch mit den USA wünscht, dafür spricht schon der Besuch, den Popovid aus Anlaß seiner Südamerikafahrt in Washington abstatten wird; zweifellos nicht ohne Billigung Moskaus, sondern auch, um bei aller Annäherung an die UdSSR seine Sonderstellung zu bekunden.

Der verlorene Sohn hat zum zweitenmal heimgefunden, doch er vermag dabei, wirtschaftlichen Verlegenheiten zum Trotz, seine Großiährigkeit, seine Selbstständigkeit zu behaupten. Ist das nicht eher ein neuer Anbeginn denn eine Rückkehr zu nennen?

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