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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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Pressekonferenz darauf geantwortet: „Um zu wissen, ob Amerika stark oder nicht stark ist, dazu ist eine Reise dorthin nicht erforderlich. Nur einem Dummkopf ist es nicht klar, daß Amerika stark und reich ist.“ Diese Behauptung trifft voll zu. Man weiß in Moskau sehr gut Bescheid über die Vereinigten Staaten. Wichtig ist, mit welchen Informationen seiner Fachleute über die USA Chruschtschow nach Washington fliegt und wie er und seine Experten vor allem die innere Lage der USA beurteilen. Denn schon seit 1918 — und das ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der zaristischen und bolschewistichen Außenpolitik — iahen die Sowjets erkannt, daß die amerikanische Entwicklung und das amerikanische soziale Gefüge ganz anders sind als in der übrigen Welt. So optimistisch ein Lenin die nahe Weltrevolution sah, in Amerika konnte er sie sich nicht vorstellen. Bekanntlich ist dort der Sozialismus, von Kommunismus und anderen revolutionären Bewegungen gar nicht zu reden, nur in Spuren vorhanden. Die gewaltige Gewerkschaftsbewegung in den USA geht ganz unmarxistische Wege und steht nach der Meinung Moskaus fest auf kapitalistischem Boden.

Nach dem zweiten Weltkrieg wandelte sich in Moskau in gewissem Sinne die Beurteilung der USA, richtiger gesagt, die Beurteilung der amerikanischen Außenpolitik. Die Moskauer Theoretiker behaupten, daß die Amerikaner erst jetzt voll und ganz in das imperialistische Zeitalter ihrer Geschichte eingetreten sind und daß ihre Dollarpolitik, ihr Streben nach Beherrschung des Rohöls, des Erzes und anderer Wirtschaftsgüter, eines Tages dazu verführen wird, auch in der Sowjetunion eine weitere Expansion für ihren Wirtschaftsdrang zu suchen, was natürlich zum Kriege führen müßte. Ausgangspunkt dieser Ueberlegungen war der von Stalin vollkommen mißverstandene Marshall-Pan. Auch heute noch gibt es jedoch in Moskau Leute, die eine andere Theorie vertreten: die innere soziale Struktur der USA sei gar nicht so gesund, wie sie aussehe: wenn wieder wirtschaftliche Krisenerscheinungen auftreten, so könne sich der soziale Klassenkampf in eine revolutionäre Massenbewegung verwandeln; dabei braucht man nicht gerade annehmen, daß es gerade der Kommunismus sein werde, der dann angestrebt werden würde; es sei nun zu befürchten, daß, um einer wirtschaftlichen Krise zu entgehen oder einer revolutionären Entwicklung vorzukommen, die Mächtigen der Wallstreet einen Ausweg in einem großen Krieg suchen werden. Dabei sei für die USA schon der Gedanke verführerisch, von der Wallstreet aus die gesamte Weltwirtschaft zu organisieren und zu leiten.

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Es ist also wichtig, daß Chruschtschow bei seinem Besuch in den USA sieht, daß von revolutionären Gärungen dort keine Rede sein kann, anderseits aus Gesprächen mit den amerikanischen Wirtschaftsführern erkennt, daß die Befürchtungen über amerikanische Hegemoniepläne unberechtigt sind. Chruschtschow fährt jedoch vor allem nach Washington, nicht um sich selbst überzeugen zu lassen, sondern umgekehrt: er will durch persönliche Einflußnahme die Amerikaner von der Friedensliebe der Sowjets überzeugen. Auf jeden Fall muß man sich vor Augen halten: Die Sowjets glauben fest, daß nicht die eine oder andere territoriale Streitigkeit, auch nicht das eine oder andere herrschende Regime der eigentliche Grund des kalten Krieges und

VOR ALLEM: PARTEIREFORM. Den um die Zukunft der ersten Regierungspartei Besorgten wurden in diesem Sommer nur wenige ruhigere Tage gegönnt, denn die anderen, die sich nach dem 10. Mai als die Sieger priesen und — noch mehr — gebärdeten, setzten ihre offensiven Handlungen fort und gaben damit zu Unruhe, Verwirrung und Verirrung Anlaß. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand die Aktivität des mit der Leitung der verstaatlichten Industrie betrauten Vizekanzlers. Als bekannt wurde, daß er die Uebernahme des Stahlwerkes zu Sankt Andrä-Wördern durch die verstaatlichte Alpine- Montan-Gesellschaff befürworte, replizierte ein Teil der österreichischen Presse mit dem Vorschlag, das ehemalige Haselgruber-Werk einer mächtigen Gruppe der Ruhrindustrie zu überantworten, damit „der letzte Rest freiwirtschaftlichen Einflusses" in der österreichischen Eisenindustrie gerettet werde. Wie und wie lange ein deutsches Mammutunternehmen in einer österreichischen Dependance die Fahne des freien Wirtschaftens in Oesterreich hochhalfen könnte und würde — diese Frage wurde von den Befürwortern der „deutschen Lösung" nicht gestellt. Inmitten dieser Verwirrung der Geister erschien gerade zur rechten Zeit ein Artikel aus der Feder des früheren Staatssekretärs Dr. Hermann W i f h a I m am letzten Sonntag, der die verschobenen Perspektiven zurechtrückte: „Wir haben in der Vergangenheit zum Teil viel davon geredet, dafj wir eine Politik für den kleinen Mann machen wollen. Daß wir es nicht oder jedenfalls zuwenig getan haben, hat uns das Volk am 10. Mai 1959 eindeutig zu verstehen gegeben." Nicht die „Randschichten" also, sondern eine breite Front „österreichisches Volk’ soll über gutes oder schlechtes Abschneiden der Volkspartei bei Wahlen entscheiden. Ein nüchternes, ein rechtes Wort. Statt der „Rettung" von Sankt Andrä-Wördern ist nämlich die längst fällige Parfeireform das Gebot der Stunde.

GESPRÄCHE IN ALPBACH. Europäische Gespräche im Rahmen der soeben beendeten 15. Internationalen Hochschulwochen des österreichischen College Alpbach: Die Themen umfaßten die westliche Wirtschaftshilfe an die Enfwicklungsgebiefe, die Wechselbeziehungen zwischen Politik und Geschichtsschreibung. Politik und Erziehung, Politik und „den Intellektuellen” und zuletzt auch die Rolle Tirols im europäischen Freiheifskampf vor 150 Jahren. Das große Erlebnis der drei Wochen währenden Alpbacher Gespräche war der junge Europäer als Debatfenredner — der bereits unter uns lebt, in vielen kleinen Zirkeln, in Provinzzeifun- gen, ürfd’ on abgelegenen ’Ohlversftäten vieler Länder wirkt und nur selten, wie in Alpbach, ins „Rampenlicht der Oeffentlichkeif" trift. Bescheiden und doch selbstbewußt, traten diese Wissenschafter, „Intellektuellen" aus Italien, Frankreich, Belgien, Deutschland und nicht zuletzt aus Oesterreich nacheinander auf und stellten mit ihren Fragen und Hinweisen die prominenten Vortragenden, die Minister, Bankdirektoren und Professoren, überall dort richtig, wo diese es sich mit traditionellen Formulierungen „bequem’ gemacht hatten. Ein zweites: das Erscheinen außereuropäischer Gesprächspartner in Alpbach. Der sympathische Schwarze, der vor der allzu eifrigen Propagierung westlicher Denkkategorien und sozialen Einrichtungen in Ländern warnte, in denen die alten Bande der Familie und des Stammes noch immer lebendig sind. Er wurde von der schrillen Stimme des Kairoer Studenten unterbrochen, der jede „Kollaboration" mit Europäern als Verrat an der gemeinsamen Sache der afrikanischen Völker brandmarkte. Es kam zu einer erregten Szene, fast zu Tätlichkeiten zwischen den Farbigen. Sie sei nicht „zum Lachen", versicherte der -Dozent aus Tübingen das benommen schweigende Auditorium. „Der Weg, der vor uns liegt, ist noch schwerer, als wir dachten." Dies war der Höhepunkt der Alpbacher Wochen 1959 — reich.an Aussichten und Lehren mannigfacher Arf.

PANKOWER ENTEN. Die fetteste Zeitungsente des Jahres 1959 dürfte das SED-Organ „Neues Deutschland" am 9. August gebraten haben. Unter der Schlagzeile „Auswandererflut wächst Bonn über den Kopf" behauptete Ulbrichts Leibblaff allen Ernstes, daß die Auswandererstatistik der Bundesrepublik künftig nur noch als „geheime Verschlußsache” geführt werde, damit die „Massenflucht äus der Westzone sowohl in die DDR als auch ins Ausland , nicht publik würde. Das Bundesamt veröffentlicht und führt tatsächlich keine Auswandererstatistik mehr. Allerdings nicht wegen einer bestehenden Massenflucht nach Ulbrichts paradiesischen Gefilden, sondern schlicht deshalb, weil die Auswanderer nicht mehr zu erfassen sind, seif fast alle Reisebeschränkungen wegfielen. Den linientreuen SED-Redakteuren leuchtet es nicht ein, daß man ohne ein Dutzend Stempel und Kontrollen aus einem Land ausreisen darf. Was das „Neue Deutschland" allerdings vergaß: rund 3,5 Millionen Menschen sind aus der DDR nach Westdeutschland geflohen. Nicht ins Ausland ausgewandert. Einfach geflohen. Und das ohne statistische Erfassung durch das Regime westlich der Elbe.

DIE 4. WOCHE DES USA-STAHLSTREIKS. So grotesk es erscheinen mag: die Stärke des wirtschaftlichen Potentials der USA wird in diesen Tagen besonders eindrucksvoll sichtbar durch den Streik der Stahlarbeiter. 500.000 Arbeiter streiken seit mehr als drei Wochen. Jeder Tag kostet sie 10,4 Millionen Dollar an eingebüßten Löhnen. Die Sfreikbetriebe verlieren täglich 42 Millionen an Verkäufen, und die USA haben täglich 283.000 Tonnen Stahl weniger. Trotzdem ist bis jetzt so gut wie nichts von katastrophalen Folgen zu merken. Seit Monaten wurde Stahl von der sfahlverarbeifenden Industrie gehortet, die Vorräte reichen noch. Die einzigen wirklichen Leidtragenden sind bis jetzt die Eisenbahnarbeiter. Die privaten Eisenbahngesellschaften Amerikas, die den Sfahltransport besorgen, haben 20 Prozent ihrer Arbeiter entlassen müssen. In den Sfahlmetropolen Pennsylvanias ist aber nichts von Not oder Angst zu bemerken. Die Arbeiter hoffen fest auf eine Lohnerhöhung, was von der Industrie mit einer Stahlpreiserhöhung ausgeglichen werden müßte. Gewerkschaften und Industrie sind sich in Ruhe ihrer Macht bewußt. Nur so ist es verständlich, daß man amerikanischerseifs bereits anregen konnte, Chruschtschow, falls der Streik bis dahin noch dauern sollte, unbedingt zur Besichtigung der Streikorfe einzuladen, damit er sich von dem friedsamen und selbstsicheren Klima dieser amerikanischen Lohnkämpfe überzeugen könne .. . Hier trift kein „hungerndes Proletariat" auf die Barrikaden, sondern hier ficht eine starke und selbstbewußte Großgruppe der amerikanischen Gesellschaft um eine weitere Ausdehnung ihrer Wohlstandssphäre ...

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