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RANDBEMERKUNGEN zur woche

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DAS NEIN DER SPÖ. In der vergangenen Woche haben die Wiener Straßenbahner gestreikt. Nicht irgendwann, sondern zu einer Zeit, in der die meisten Wiener die üble Angewohnheit haben, die Strafjenbahn zu benützen, um ihre Arbeitsstätten aufzusuchen. Die Ursache des Streiks waren nicht die Preisbewegungen, sondern die Gehaltsansätze der Strafjenbahner. Wer weifj, was heule ein Bediensteter der Wiener Sfraßen-bahn verdient, wird die Unmut der Mehrheit der Strafjenbahner verstehen, ist doch das, was sie unter dem Titel „Gehalt“ beziehen, kaum höher als der Lohn einer Bedienerin. Das sollte festgestellt und denen entgegengehalten werden, die leichtfnrtig über die Halfung der Strafjenbahner urteilen, wobei es so ist, dafj am schärfsten das Urfeil jener ist, welche — weil im Besitz eines Autos — ohnedies die Strafjenbahn nur als ein Verkehrshindernis kennen. Der Gewerkschaftsbund, und noch eindeutiger die Sozialisfische Partei haben zum Streik „nein“ gesagt. Es war ein heroisches „Nein“ — auch wenn zufälligerweise diesmal der Arbeitgeber Gemeinde Wien hiefj. Dessen solle sich die sogenannte „bürgerliche“ Seite bewufjf sein. Die Erklärung des Streikes zu einem „wilden“ Streik wird der SPOe bei der nächsten Wahl einige Stimmen kosten. Wenn nun die Sozialisfische Partei den Mut zur Un-popularität gehab und „wirtschaftlicher“ gedacht hat als so manche, die immer von den „Belangen“ der Wirtschaff sprechen, sollte das ein gutes Omen für die weitere Zusammenarbeit der beiden Regierungsparteien sein. Darüber hinaus beginnt man auf der Gewerkschaftsseite einzusehen, dafj wenig verlangen ein mehr an sozialem Effekt bedeutet, als ein Allzuviel an Forderungen. Man sieht ein (es sei auf die „Arbeifer-Zeitung“ vom 1. Dezember verwiesen und auf die Ausführungen des NR. Pölzer zum Thema des Sfrafjenbahnerstreiks), dafj die „Politik der Gewalf“ dem Arbeiter weniger nützt als eine Lohnpolitik mit Mafj, da eben nur gegeben werden kann, wenn etwas zum Verteilen da ist.

GLAUBE UND HEIMAT. Als inferne innerkirchliche Veranstaltung, als Arbeitstagung, ging in diesen Tagen die Generalsynode der Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekentnisses in Oesterreich in Wien zu Ende. Die Oeffentlichkeit erfährt zunächst, dafj die zahlreichen Anträge auf der Synode zur gründlichen Bearbeitung Sachausschüssen überwiesen worden sind. Solche Ausschüsse sind unter anderem der theologische Ausschufj, der liturgische Ausschufj (seine Arbeit kann das besondere Interesse auch der Katholiken erwecken), der ökumenische Ausschufj, der diakonische Ausschufj, der Ausschufj für Lebensordnung und Kirchenzucht, der Ausschufj für Evangelisafion und Gemeindedienst. Von den wichtigen Entscheidungen, die auf der Generalsynode gefällt wurden, erweckt die Ablehnung eines Antrages einiger Theologinnen, zur Ordination und damit zur Uebernahme und Ausübung des vollen Pfarramtes zugelassen zu werden, besondere Aufmerksamkeit. Zugleich aber mit der Ablehnung „sprach sich die Generalversammlung einstimmig dafür aus, dafj der Dienst der Vikarinnen der Evangelischen Kirche im Rahmen dieser Entscheidung neu durchdacht, umrissen und gewertef wird. Die materielle Gleichstellung der Theologinnen mit den Pfarrern der Kirche wurde einmütig beschlossen“. Das ist hochbeachtlich: in der ganzen Christenheit treten heute die Frauen, die Massen, die „unterentwickelten Völker“ viel stärker als je zuvor in Erscheinung, es ist für alle Einsichtigen klar, dafj die Potenz, die Jugendkraft und Sfrahlmacht der ganzen Christenheit ohne eine Bergung und Gewinnung dieser drei Faktoren nicht entwickelt, nicht gereift werden können. Alle Bemühungen in den protestantischen Denominationen, hier neue Wege zu gehen, verdienen auch das gröfjte Interesse von Seiten der Katholiken (man denke im Anschlufj an obige Entscheidung nur an die prekäre rechtliche und finanzielle Situation der katholischen PfaT-helferinnen, aber auch jener kafholischen Frauen, die ein Theologiestudium, off mif bestem Erfolg, frequentiert haben). — Neben den gemeinchristlichen Anliegen, das Protestanten und Katholiken hier in vielen Einzelfragen der Synode verbindet, mufj hier noch ein anderes dankbar vermerkt werden: das staatsbürgerliche und staatspolitische Anliegen. Die Generalsynode der evangelischen Kirchen in Oesterreich ist heufe eine Veranstaltung von österreichischen Prolestanfen, von Staats-bürgern unseres Landes und Staates, die sich zu uns bekennen, unsere Lasten mittragen und schon deshalb ein Recht auf jeden Schutz haben, der jedem Bürger dieses Landes, eines Rechtsstaates, zukommt. Die Vorsprachen der Synodalführer bei Bundespräsident, Kanzler und Vizekanzler und Unterrichtsminister unterstrichen diese hocherfreuliche Tafsache.

EIN BOTSCHAFTER NACH MADRID. Mif der nun vereinbarten Wiederaufnahme normaler diplomatischer Beziehungen zwischen Wien und Madrid, die seit 1938 unterbrochen waren, ist einem Zustand ein Ende gemacht, der schon längst als unnatürlich, ja als geradezu widersinnig empfunden werden mufjfe, mochte er auch der Einstellung jener in unserem Lande entsprechen, die in Unkenntnis oder in absichtlich falscher Beurteilung der spanischen Geschichte, ihre an sich nicht unverständlichen Einwände gegen das heufe in Spanien herrschende Regime auf die spanische Nation als solche ausgedehnt hatten. Der Mangel an Logik, der darin lag, dafj Oesterreich schon vor Jahren mit einer Reihe von Staaten, deren kommunistisch-totalitäres System das österreichische Volk einhellig ablehnt, diplomatische Vertretungen ausgetauscht hafte, nicht aber mit Spanien, kam jenen Kreisen offenbar nie in den Sinn, ebensowenig wie die Bande vielfacher Art, die das österreichische und das spanische Volk verknüpfen. Diese Bindungen sind nicht allein traditioneller Natur und aus den Jahrhunderten erwachsen, da die Casa de Austria die Geschicke beider Völker lenkte. Man spricht heute soviel von der Neuerweckung des europäischen Gedankens, von der Einigung Europas auf geistiger Grundlage; was könnte da selbstverständlicher sein, als dafj Oesferreicher und Spanier, die beiden Völker, die zur Entwicklung und Verteidigung der abendländischen Welt entscheidendste Beiräge geleistet haben, und jedes zu seiner Zeit, an der Erfüllung dieser heroisch übernommenen Aufgabe fast verblutet sind, sich .leuerdings näher kennenlernen, ihre kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen ausbauen und vertiefen und, gefreu ihrer überlieferten universellen Haltung, Hand in Hand der Gefahr begegnen, die Europa in zweifacher Hinsicht bedroht — dem Materialismus östlicher und westlicher Prägung. Der Name Oesterreich hat auch heute noch einen guten Klang in Spanien; dies bietet Möglichkeiten, die sich unser Land im eigenen wie im gesamteuropäischen Interesse nicht entgehen lassen darf.

ADENAUERS GEGENZUG. Die außenpolitisch Debatte im Bonner Bundestag begann mit einer „kleinen Sensation“. Dr. Adenauer dankte ostentativ dem Führer der Opposition Ollenhauer für dessen offene Absage an die Adresse Pankows und Moskaus. Die deutsche Sozialdemokratie wird sich Moskaus Rezept der Wiedervereinigung nicht zu eigen machen. Der Bonner Bundeskanzler hat mit seinem Dank zugleich demonstrativ unterstrichen, dafj er nicht gesonnen ist, den Freien Demokraten unter Dehler, der zweitgrößten Regierungspartei, eine eigene außenpolitische Konzeption zuzugestehen. Das Ultimatum des Bonner Kanzlers an die FDP, von dieser versöhnlich beantwortet, in einem wichtigen Punkt aber sachlich unannehmbar, da es eine so weitgehende Bindung der Partei an die Politik des Kanzlers verlangt, dafj diese für den kommenden Wahlkampf nur mehr als Satellit in Erscheinung freien könnte, verrät die überaus heikle Situation Bonns heufe. Bonn erwartet, mit Recht, eine kommunistische Infiltration in der Bundesrepublik. Alle Erhöhung des Lebensstandards, aller wirtschaftlicher Aufschwung, unvergleichbar mif den fristen Verhältnissen in der Deutschen Demokratischen Republik, können nämlich das innere, das geistige und weltanschauliche Vakuum nicht auffüllen: die Krise ist viel größer, als man denkt. Sowohl der demokratische Sozialismus Wesf-

deufschlands, erstickend in seiner Partei- und Gewerkschaftsbürokratie, wie der humanitäre Liberalismus Westdeutschlands, dahinsiechend in Phrasen und sterilen Manifestationen akademischer Veranstaltungen, wie auch das Christentum, das nach 1945 allzusehr den harten Griffen der Restaurationsmänner erlegen ist (das gilt für alle Kirchen in Westdeutschland), vermögen wenig echte Banngewalt auf die Gemüter auszuüben. So steigt einerseits der alte hektische Nationalismus wieder hoch — Dulles und Pinay warnten vor kurzem deutlich vor ihm. Zum anderen eben der Kommunismus: befreit vom drückenden Erbe seines grofjen, schrecklichen und übermächtigen Alten, Stalin, stellt er sich als eine politische Religion vor, die Freiheit, Freude, Frieden, wirklichen Weltfrieden, verspricht. Im Betriebsrat der Dortmunder Wesf-falenhüfte, einem Hauptwerk des Ruhrgebietes, haben soeben die Kommunisten die absolute Mehrheit errungen. Und nun kommt der grohe Spezialist für die Bearbeitung „weicher“, in labilen Verhältnissen lebender Staaten, Zorin, als sowjetischer Botschafter nach Bonn. Bonn hat diesem Anprall zunächst nichts Ebenbürtiges gegenüberzustellen. Es gilt also, sich in Geduld und Langmut zu fassen. Und eine Fähigkeit zu entwickeln, die am deutschen Rhein früher weniger beheimatet war als an der österreichischen Donau: die Tugend des zähen hinhaltenden Widerstandes.

und der pietistischen Lausitz, zwischen Wittenberg und Weimar die große Versuchung des puren, jeder religiösen oder ethischen Komponente baren Nationalismus. Die Sowjets bieten Deutschland, über die Mitte hinauswirkend bis in den Westen das, worum sich Hitler zu seiner Wut vergeblich gemüht hat: Den „Sacro egoismo“ in der radikalsten Form. Die gänzliche Absage an die immer noch hemmenden Werte des Abendlandes, an jedes Maß wird verlangt. Geboten wird die Chance einer durch Rußland im Rücken absolut gesicherten Machtentfaltung im Innern wie im Aeußeren ohne jede Begrenzung. Ein nationalbolschewistisches Deutschland würde das gehätschelte Lieblingskind des Kremls werden. Man würde seinen Wünschen bedenkenlos tschechische und polnische Interessen opfern. Die schweigenden Menschen der Ostzone aber erkennen wahrscheinlich besser als wir alle die unwiderrufliche Gefährdung, die auf einem solchen Wege liegt. Vielleicht — und diese Hoffnung kann letztlich nur religiös begründet werden — vollzieht sich gerade angesichts dieses „Entweder—Oder“ in der Mitte des deutschen Volkes in zwölfter Stunde jene große innere Wandlung, für die die Männer des 20. Juli gestorben sind und die in der Sphäre des „Deutschen Wunders“ so erschreckend ausgeblieben ist. Vielleicht Wird gerade in der Mitte Deutschlands die heimliche Hauptstadt, das „heilig Herz“ geschaffen, an das Hölderlin glaubte. Hier und dort würde sich dann die Welle des Kommunismus brechen.. . Vielleicht könnte erst dann die echte und dauernde Einigung Europas im friedlichen Sinn vollzogen werden. Es stimmte nachdenklich, als man erfuhr, daß die Westmächte bereit gewesen wären, um der rein national verstandenen deutschen Wiedervereinigung willen die osteuropäischen Staaten durch eine formelle Garantieerklärung des heutigen sowjetischen Besitzstandes für immer auch moralisch aufzugeben. Vielleicht wird in diese Zeit des heute unabsehbaren Wartens, wofern sie wach und zukunftsbereit durchstanden wird, die letzte, reifste Krone errungen werden. Wenn Deutschland in der Absage an die gefährlichste Versuchung des heidnischen Nationalismus zu seinem eigensten Wesen zurückfindet, dann wird vielleicht auch der Bann über Europa gebrochen sein.

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