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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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KRIEGSGEFAHR! So schreit es in überdimensionalen Lettern (für den Fachmann: zehn Cicero, vierspaltig) nach der Blutnacht von Bagdad aus einem Boulevardblatt auf die Wiener ein. Die Sonne steigt, die Nerven vibrieren, die große Angst beginnt wieder ihre Runden zu drehen. Irgendwo in einem besseren oder schlechteren Jenseits freut sich der Stammvater der Wiener Revolverjournalistik, Sandor Weiss, über seine gelehrigen Schüler.

FORSCHERGEIST TRIUMPHIERT nach der Meinung eines sozialistischen Montagblattes, das von einem „Experiment“ berichtet, „das von immenser Tragweife für die ganze Erde sein könnte“. Es geht um nichts anderes, als um die Verhütung der Schwangerschalt, um die Suche nach einer Droge, die an den Klippen des Strafgesetzes vorbeiführt. Und da kommen den Herren, die eine ganze Seite für derlei gerne opfern, die Doktoren Pincus und Rock auf Porforico gerade recht, die sit zwei Jahren anglich zweihundert Frauen täglich eine Tablette Progesfin schlucken lassen, wofür sie „von den Frauen eines Arbeiterviertels wie Heilige verehrt“ werden. Diese Pillen sollen sogar den Krieg verhüten helfen. Sie werden den Hunger erledigen. Und garniert ist diese pseudowissenschaftliche Reportage ausgerechnet mit drei Bildern. Oben die zarte Hand mit der Pille, links eine skandalbakannle Filmschauspielerin mit ihrem Kinde, um dessen Vater geraten wird, und, als besonders zündend gedacht, hungernde chinesische Bauern. Merkwürdig: für die Hilfe an unterentwickelte Länder, für eine landwirtschaftliche Arbeitsteilung, für einen internationalen Ausgleich der Sozialisten wird nicht so geworben, wie für die Pincus-Tobletten. Nicht der Forschergeist triumphiert bei un, sondern die Geschmacklosigkeit.

FANFANI UND SUDTIROL. Das Regierunqs-programm des neuen italienischen Ministerpräsidenten, weithin freundlich in der Oeffentlichkeit aufgenommen durch seine sozialpolitische Ausrichtung, hat in nationalistischen Kreisen sofort kritische Reaktion erfahren durch die in ihm enthaltene Ankündigung, neue Verhandlungen mit Oesterreich im Geiste freundschaftlicher Nachbarschaft über Südtirol aufzunehmen. Ober-Etsch, Alto Adige, ist für diese italienischen Nationalisten eine „rein italienische Angelegenheit“. Jede Verhandlung darüber mit einem anderen Staat grenzt für sie bereits an Hoch- und Landesverrat. Wir in Oesterreich hoffen jedoch, daß sich der so überaus zähe und tatkräftige Führer der italienischen Democrisfiani als Staatsmann den ruhigen und klaren Blick bewahren wird, zum Wohl für sein Volk, für Europa, und dar} es, endlich, in einer gereinigten Atmosphäre zu Verhandlungen und zu Taten kommen wird, die dem Südtiroler Volk jene Freiheit bringen, die es längst verdient hat; und von der leider auch in der freien Well oft nur geredet wird. Weif ist der Weg ins Vereinte Europa, hier aber ist er nah. Man sollte ihn, in Wien und Rom, schnell und entschlossen begehen, zur Befriedung beider Völker.

CHRUSCHTSCHOWS DEUTSCHLAND. Das Erscheinen des sowjetischen Regierungs- und Parteichefs auf dem Parteitag der SED in Berün bedeutet weit mehr als eine Demonstration für das Ulbricht-Regime. Die UdSSR hat hier neuerdings bekundet: Ruhland ist nicht entschlossen, auf sein Deutschland zu verzichten. Wie man sich drehen und wenden mag, die Realpolitik ;n Europa und um Europa wird sich mit dieser harten Tatsache auseinandersetzen müssen: es gibt heute zwei Deutschland. Ein westliches und ein östliches Deutschland. Mit Hilfe der Sowjetunion will das neue Ostdeutschland in drei Jahren den westdeutschen Lebensstandard erreichen und, was ihm noch wichtiger erscheint, eine Industrie aufbauen, die Westdeutschland auf den Weltmärkten gegenübertritt. Diese Ankündigung ist, nicht nur als Drohung, sehr ernst zu nehmen. Westdeutsche Wirtschafter beobachten bereits seit einiger Zeit die Bemühungen der „Zone“, Märkte im Nahen und Fernen Osten für sich zu gewinnen. Der Dreißigjährige Krieg zwischen den beiden Konfessionen, die um den deutschen Menschen ringen, findet nicht statt. So darf gehofft werden. Wohl aber werden sich in absehbarer Zeit zwei Deutschland als Gegner auf den Weltmärkten gegenüberstehen. Ein Schauspiel, von dem manche Gegenspieler, in Ost und Wesf, sich einen Nebengewinn versprechen. Die weilreichenden Wirtschafts- und Kapitalverhandlungen zwischen Ostdeutschland und der UdSSR erhalten noch eigentümliche Lichter aufgesetzt durch die eben bekannt werdenden Bemühungen Moskaus, seine europäischen Satelliten wirtschaftlich enger als bisher an sich zu binden. Eine Zollunion mit Ungarn, dann wähl Rumänien steht in Vorbereitung. Das ist als Gegenschlag gegen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Freihandeiszone zu verstehen, ober auch in einem größeren Zusammenhang zu sehen: Ruhland meint es ernst mit dem wirtschaftlichen Großkampf um die Völker und Kontinente. Der Rubel rollt in Afrika wie in Südamerika, von Asien gar nicht zu reden. Und die deutsche Technik und die deutsche Industrie sollen dabei wichtige Dienste leisten.

FRANKREICH KLOPFT BEIM „ATOMKLUB“ AN.

John Foster Dulles ist in Paris mit betonier Herzlichkeit empfangen worden. De Gaulle haf soeben in seinen Verhandlungen mit dem englischen Premier MacMillan seinen Standpunkt klar aufgezeigt: Frankreich ist bereit, sich entschieden und aktiv in der westlichen Verteidigungsfront zu engagieren. Bedingung: Aufnahme in den „Atomklub“; Frankreich als dritte Atommacht neben USA und Großbritannien. Gestärkt in seinem Ansehen und seiner realen Mach), eben als Atommacht, will man sich dann, in Paris, weit mehr als bisher im Sinn der westlichen Allianz engagieren. Dulles kann hier faktisch nur hinhaltend arbeiten. Wird sich Amerika dem entschiedenen Wunsch des durch de Gaulle armierten Frankreich entziehen können? Das wirft Lichter auf die Neugruppierung des westlichen Bündnissystems. Stand da, für viele, die Achse Washington-Bonn, ganz im Vordergrund, so ersteht jetzt, durch das energische Drängen Englands und Frankreichs, nicht ohne Seitenblick auf die alte „entente cordiale“ zweier Weltkriege, ein zweites Kraftfeld von immer stärkerer Wichtigkeit. In diesem Zusammenhang verdienen die atmosphärischen Störungen zwischen Washington und Bonn in den fetzten Monaten Beachtung. Zunächst waren es amerikanische Vorwürfe an die Adresse Bonns: dieses belaste Amerika, da es selbst nichts tue, um das deutsche Problem In konkreter Auseinandersetzung mit dem Osten weiterzutreiben, von den USA aber ein weitgehendes Engagement für seine Deufschlandkonzeption verlange. Jetzt sind es schwere Vorwürfe Bonns an die Adresse Washingtons: man wirft der amerikanischen Regierung Bruch gegebener Versprechungen zu. Adenauer und Brentano hatten in Washington die Zusicherung erhalten, die früheren deutschen Eigentümer von in Amerika beschlagnahmten Vermögen würden „gerecht und billig“ entschädigt werden. Jetzt i?f nicht nur von keiner Entschädigung mehr die Rede, sondern, vierzehn Jahre nach dem Kriege, will Amerika von Deutschland Reparationen verlangen. In Kürze soll diesbezüglich im Kongrefj ein Gesetzentwurf eingebracht werden. Hinter diesen, Bonn sehr überraschenden Plänen stehen offensichtlich einflußreiche Kreise der amerikanischen Industrie, die eine, deutsche Konkurrenz fürchten und, auch im Blick auf die amerikanische Wirtschaftskrise, eine“ gewisse Abschöpfung des deutschen Goldsackes für angebracht halfen. Politisch dürften damit jene Kreise in Verbindung stehen, die ebenfalls im Blick auf die Recession, die schwere Belastung der USA durch die deutsche Politik gerne eintauschen möchten für offene Märkte im Osten. Beides kann de Gaulle gelegen kommen.

USA UND KANADA ODER: DIE FURCHT VOR DEM GROSSEN BRUDER. Die persönliche Liebenswürdigkeit und die politische Schwäche Eisenhowers wurden eben wieder einmal der Weltöffentlichkeit eindringlich vorgestellt, und zwar bei dem Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten in Ottawa. Eisenhower kam nach Kanada, um Volk und Regierung des außerordentlichen Wohlwollens zu versichern, das die USA Kanada gegenüber beseele. Allerlei Unstimmigkeiten und Mißtöne, die in den letzten Jahren in Kanada an die Adresse der USA gerichtet waren, sollten weggewischt werden, großzügig, genflemanlike. An der Redlichkeif und dem guten Willen Eisenhowers zweifelte niemand in Kanada. Um so größer war die Enttäuschung: der Präsident der USA war keinesfalls geneigt, Kanada wirfsohafflich entgegenzukommen; er konnte dies auch nicht, da hier andere Kreise Wort und Entscheidung haben. Es gelang nicht, Eisenhower durch den Hinweis zu beeindrucken, daß sich Kanadas Wirtschaff von den USA erdrosselt, übermachtet fühle, da wichtigste Sektoren zu 60 Prozent in amerikanischen Händen seien. So blieb, neben der tiefen Enttäuschung über Eisenhower, eine Erscheinung, die übrigens dem kanadischen Staatschef Diefen-baker zugute kam, nur der Ausweg: eine Einigung über eine engere militärische Zusammenarbeit, und zwar durch einen gemeinsamen Verteidigungsausschuß. Kanadische Beobachter sehen darin vor allem eine optische Maßnahme, um das Gesicht zu wahren. Dieser Ausschuß soll nämlich genau nach dem Vorbild des Komitees für Handelsfragen geschaffen werden. Dieses Komitee sollte von 1953 an jährlich zweimal gemeinsame Wirtschaftsprobleme erörtern, tagte aber bisher nur dreimal, ohne weiterzukommen. Die spießigen und schwierigen Verhandlungen zwischen den beiden amerikanischen Nachbarstaaten zeigen, wie manövrierunfähig heute die amerikanische Staatspolitik geworden ist. Mit freundlichen Worten und viel gutem Willen allein ist es ja nicht getan. Die Schwäche der Regierung wie die Uebermacht der wirtschaftlichen Interessenverbände wurden hier also, wie vor kurzem Bonn gegenüber, nunmehr auch :n Ottawa in einer beunruhigenden Weise sichtbar.

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