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Kriegsrat in Moskau

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Es war selbstverständlich ein Friedensrat, den das Friedenslager in diesen Tagen zu Moskau abgehalten hat. Weil aber die milden, sanften Menschenfreunde mindestens in ihrem politischen Jargon eine sehr militaristische Sprache führen, als Friedenskämpfer und Klassenkämpfer, die, den Sieg über den Feind zu erringen, das Banner des Fortschritts über die Arbeiterbataillone schwingen, so dürfen wir vielleicht doch von einem Kriegsrat sprechen. Zunächst, was die Tagung betrifft, die sich am 2. und

3. Februar mit der Landwirtschaft befaßte. Man hat darnach getrachtet, die Agrarproduktion einheitlich und übersichtlich zu regeln, die Volksdemokratien, die mit der Kollektivisie-rung nachhinken, vor allem Polen, sodann Ungarn, zur Beschleunigung des Abbaus der Einzelbauernhöfe anzuspornen, besonders aber die Verteilung der Ernten und der Viehzuchtprodukte so zu regeln, daß in den von Mißwachs heimgesuchten oder durch Mißwirtschaft gehemmten Ländern keine bedrohlichen Engpässe in der Versorgung mit Nahrungsmitteln entstehen. Die an Defiziten Leidenden haben dabei alle hilfeheischend auf Mütterchen Rußland geblickt, um noch und noch zu kriegen, so daß man diese Zusammenkunft wohl einen Kriegsrat heißen mag.

Doch die weit wichtigere Begegnung vom

4. Februar, welcher Besprechungen der Außenminister'1'Und 'dw-militäriscrreii' Fachleute seiti dem' Mohiatsersten1 vorangegangen • waren? Ungeachtet der streng gehüteten Geheimnisse einer derartigen Konferenz hat man einiges über die Themen erfahren oder erraten. Selbstverständlich waren der Besuch Chruschtschows in Paris und die spätere Viererbegegnung ebenso Hauptthemen wie die Frage der deutschen Wiedervereinigung, die Zukunft Berlins, ein eventueller Sonderfriedensvertrag mit der DDR. Berührt wurden sodann zweifellos das Verhältnis zur EFTA und, höchst aktuell, das zu Italien und Frankreich. Es ist zu unterstreichen, daß die Moskauer Ostgipfelkonferenz am Vorabend der Rußlandfahrt des italienischen Staatspräsidenten Gronchi stattgefunden hat, und zwar in großer Terminnot. Chruschtschow wollte offenbar noch schnell die Dinge klären, die nach den algerischen Geschehnissen von Ende Jänner und Anfang Februar, der Lage rings ums Mittelmeer einen durchaus veränderten Aspekt eingeprägt haben. Die Unterredungen mit Gronchi und Pella bilden den Auftakt zu der so wichtigen Reise des sowjetischen Allgewaltigen nach Frankreich. Wir dürfen vermuten, daß sich die Moskauer Staatslenker bemühen werden, ihre italienischen Gäste, nach dem für den Kreml ermutigenden Verlauf von Adenauers Besuch in der Ewigen Stadt, von der Bundesrepublik Deutschland abzuziehen und für eine Kombination zu gewinnen, bei der Italien zusammen mit Frankreich ein brauchbarer Partner der UdSSR würde.

Im Zusammenhang damit stellen wir die Anwesenheit einer erstrangigen Vertretung der wichtigsten kommunistischen Parteien auf dem Anfang Februar beendeten Kongreß der italienischen KP fest. Suslow, nach Chruschtschow der wichtigste Mann in der sowjetischen Weltpolitik, K1 i s z k o, Gomulkas Alter Ego, und der Chinese Liu Tschan Sehen sind gewiß nicht nur darum nach Rom gekommen, um dort die üblichen Reden zu schwingen, sondern um den Genossen wichtige Instruktionen für die nahenden internationalen Ereignisse zu überbringen, damit aber die Haltung des offiziellen Italien mitzubeeinflussen, das in seinem Tun und Lassen keineswegs so wenig auf die, immerhin rund ein Viertel der Wählerschaft umfassenden Kommunisten Rücksicht nimmt, wie das den Anschein haben könnte.

Weitere außenpolitische Fragen, die in den Moskauer Gesprächen gestreift wurden, sind die als Vorspiel und als Begleitmusik zur Reise Chruschtschows gedachten Bemühungen einzelner europäischer Volksdemokratien, um vermehrte Kontakte mit Frankreich, die vor allem seitens Polens — das neue Kulturabkommen^ Ungarns luchartssteiiung in Paris,-land-dÄ Tschechoslowakei unternommen werden. Dabei gilt es insbesondere, durch hartnäckige Kleinarbeit Frankreich, das heißt, de Gaulle, auf seinen Standpunkt festzulegen, daß die Oder-Neiße-Grenze und der tschechoslowakische Gebietsstatus endgültig sind, den französischen Präsidenten ferner für eine faktische Anerkennung der DDR zu gewinnen. Diese Punkte bilden — ja die, angesichts der sonst von keinem Hindernis gefährdeten, Moskau aber höchst unerwünschten deutsch-französischen Zusammenarbeit, das größte Hemmnis für eine sowjetischfranzösische Annäherung, die an sich durchaus ins Konzept de Gaulles passen würde. Ein anderer Stein des Anstoßes ist durch die jüngste Entwicklung zwar nicht entfernt, doch vorläufig beiseitegeschoben worden: Algerien. Auch darüber wird in Moskau gesprochen worden sein, und zwar in dem Sinne, daß den Satelliten Vorsicht in ihrer praktischen Unterstützung der nordafrikanischen Unabhängigkeitskämpfer angeraten wurde. Weder in bezug auf Algerien noch auf die Oder-Neiße-Grenze klaffen ernste Meinungsverschiedenheiten zwischen Moskau und London. In der Berlin-Frage dürften die Briten am ehesten zu erweichen sein; deshalb war über England kaum viel zu erörtern.

Zwei Hauptprobleme sind zweifellos im Mittelpunkt der Moskauer Beratungen gestanden: Die Umstellung auf dem militärischen Sektor und der Sonderfrieden mit der DDR. Das zweite ist als, nach der Ansicht Chruschtschows, wirksame Drohung auf der Gipfelkonferenz vorbereitet, und es wird wohl auch als eine, unter bestimmten Voraussetzungen aufrichtig erwogene Eventualität behandelt worden sein. Nach Gerüchten aus gewöhnlich gutunterrichtetem Kreise soll sogar ein konkreter Entwurf eines Friedensvertrages in Moskau vorgelegen sein. Dazu sind selbstverständlich keine zuverlässigen Aufschlüsse zu holen. Unbestritten ist dagegen, daß für die europäischen Satelliten ähnliche Maßnahmen auf der Tagesordnung standen, wie die von der UdSSR in großer Aufmachung verkündeten: eine spektakuläre Verminderung der unter den Waffen stehenden Menschen, bei gleichzeitiger furchterregender Verstärkung der einsatzbereiten Mordmaschinen. Die Satelliten werden mitteilen, daß sie aus lauter Friedensliebe einen beträchtlichen Teil ihrer Streitkräfte heim zu fruchtbarer Aufbauarbeit schicken, daß sie aber, wie das als Vorbote dieses Völkerfrühlings Ulbricht in seinem Brief an Adenauer verhieß, Abschußrampen, modernste Vernichtungsinstrumente in den Dienst des Weltfriedens stellen würden, wenn nicht die bösen Kriegshetzer im kapitalistischen Westen gründlichst abrüsten. Mit anderen Worten, die Volksdemokratien würden dann zugegebenermaßen das tun, was sie bis jetzt ohnedies, doch es ableugnend oder verschweigend, getan haben. Neu wäre nur die Formel, die allerdings nicht in dieser Präzision ausgesprochen worden ist: kleinere Heere, größere Verheerung.

Über alle von uns genannten Themen ist natürlich längst zwischen Moskau, Peking und den Vasallen dieser beiden Mittelpunkte der kommunistischen Welt ausführlich gesprochen und geschrieben worden. Darum war man sich binnen wenigen Stunden des 4. Februar 1960 so rührend einig, wie das auf den westlichen Gipfelkonferenzen niemals der Fall ist. Dabei seien Nuancen beachtet, die den weltpolitisch-militärischen Teil der Besprechungen vom landwirtschaftlich-allgemein-ökonomischen unterschieden. Zum ersten waren außer der Sowjetunion und deren europäischen Satelliten nur Beobachter aus der Mongolei und aus Nordkorea erschienen; die betreffenden Kommunisten Nummer eins, Cedenbal und Kim Ir-Sen. China und Vietnam, die offenbar in Agrarfragen andere Wege beschreiten, hielten sich ferne.

Dagegen waren beide Staaten anwesend, als es um die internationale Lage, um die kommende Gipfelkonferenz und um Militärisches ging.

Hervorzuheben ist noch, daß, wie schon in bezug auf die Mongolei und Nordkorea bemerkt wurde, von überall die erste Garnitur vollzählig nach Moskau gepilgert ist: Gomulka, Cyran-kiewicz, Ochab aus Polen, Novotny, Siroky aus der Tschechoslowakei, Ulbricht, Grotewohl aus der DDR, Gheorghiu-Dej und Stoica aus Rumänien, Kädär, Münnich aus Ungarn, Zivkov, Jugow aus Bulgarien, Enver, Hoxha, Mehmed Shehu aus Albanien, samt ihren Außenministern und Verteidigungsministern. Chruschtschow rief, und alle, alle kamen, wie es einst von Friedrich Wilhelm III. und seinen Preußen gedichtet wurde. Diesmal aber dreht es sich nicht um einen Befreiungskrieg, sondern um einen Befreiungswaffenstillstand im Kalten Krieg zweier Welten: (Sowjetlesart) um die Vorbedingungen für die bei Einzelbegegnungen — Chruschtschow-de Gaulle, Eisenhower-Chru-schtschow — und auf Gipfelberatungen der Großen Vier zu schaffende Koexistenz, oder (britische Lesart) ganz einfach um das Überleben, um die nackte, durch einen heißen Krieg der Zerstörung preisgegebene Existenz. Es gibt auch noch andere Lesarten, doch davon soll hier nicht die Rede sein: es ist im Titel dieses Berichts angedeutet.

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