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Die Sphinx und ihr Gesetz

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Die Welt verfolgt mit hoher Aufmerksamkeit das neue Auftreten der Sowjetunion auf der diplomatischen Bühne sowie die Vorgänge in Rußland seit dem Tode von Josef Wissarionowitsch Stalin.

Als Fakten ersten Ranges wurden neuerdings beobachtet: die proklamatorische Forderung der Beseitigung willkürlicher Entscheidungen einzelner Persönlichkeiten, an deren Stelle größere Gruppen von Verantwortlichen treten sollen, die Verhaftung prominenter Köpfe der Aera Stalins, die Um-besetzung führender Stellen der politischen Verwaltung, in der diplomatischen Vertretung im Ausland, nicht zuletzt in Ostdeutschland; zu diesen „inneren Vorgängen“ treten nach außen hin: die Zustimmung zur Wahl eines neutralen Generalsekretärs der UNO, eine sichtliche Beeinflussung der wieder in Fluß gekommenen Verhandlungen um Korea, mit dem ersten positiven Ergebnis ein Gefangenenaustausches, eine Einschränkung der Presse- und Funkpolemiken gegen die „amerikanischen Kriegstreiber“; viel beachtet wurden zuletzt die Erklärungen Marschall Woroschilows anläßlich der Ueber-reichung des Akkreditivs des neuen USA-Bofschafters Charles Bohlen sowie die erstmalige Wiedergabe seiner Rede in der sowjetischen Presse. Das alles hat bis jetzt seine letzte Krönung erfahren in der ausführlichen Erwiderung der „Prawda“ auf „Präsident Eisen-howers Friedensappell“, in der das sowjetische Zentralorgan die Bereitschaft der Sowjetunion bekundete, zu „ernsten und nüchternen Erörterungen“ der Meinungsverschiedenheiten ab sofort bereit zu sein.

Die Reaktion der freien Welt auf diese Vorgänge war bisher uneinheitlich. Während Frankreich und England für eine baldige Aufnahme von diplomatischen Verhandlungen in großen, ja in allergrößtem Stil plädierten, wobei sich Ministerpräsident Churchill bereit erklärte, nach Moskau als Quartiermacher der westlichen Alliierten zu gehen, verharren die Vereinigten Staaten und Westdeutschland vorsichtig prüfend, wobei sowohl von Außenminister Dulles wie von Bundeskanzler Adenauer die Parole vertreten wird: die Worte Moskaus sind schön, nun wollen wir aber Taten sehen. Auf einer mittleren Linie bewegt sich Präsident Eisenhower, der in einer in Moskau ausführlich kommentierten Rede den festen Willen Amerikas, eine neue Periode des Friedens heraufzuführen, unterstrich. Führende amerikanische Regierungspolitiker gaben gleichzeitig der Wirtschaft beruhigende Erklärungen ab: der Ausbruch des Frieden dürfe nicht als Beginn einer Inflation und eines Zusammenbruchs der auf die Aufrüstung abgestellten amerikanischen Wirtschaft angesehen werden. Diese Erklärungen waren nötig, da die Börsen auf die ersten sowjetischen Friedensfühler sofort mit heftigen Kursstürzen reagierten.

Naturgemäß reagiert also der „Westen“ sehr uneinheitlich: als eine Welt von Freien, von sehr verschiedenartigen Individualitäten, Staaten, Volkskörpern. Man sollte den Mut aufbringen, auch in dieser Vielstimmigkeit nicht nur das bisweilen Gefährliche und Negative zu sehen, sondern auch einen positiven Wert. Der rechte Weg zur Auseinandersetzung und Begegnung mit dem Osten ist noch lange nicht gefunden; also tut es gut, wenn viele Stimmen sich bemühen. Bei so umfassenden weltpolitischen Vorgängen, wie es im Ost-West-Konflikt unzweifelhaft der Fall ist, darf es nicht heißen: „Viele Köche verderben den Brei“, nachdem es sich drastisch gezeigt hat, daß e i n Koch, e i n Führer dieser Komplexität noch nie gewachsen war, mochte er nun Alexander der Große, Napoleon oder Hitler heißen. Hier muß, aus der Absprache vieler in Rede und Gegenrede, der lange Atem gewonnen werden, der allein zu heilvoller Aktion befähigt. Die Diskussion des Westens im Blick auf den Osten ist deshalb als wertvoll zu begrüßen; immer mehr Stimmen melden sich zu Wort, und langsam, nach den Politiseuren, den Zweckoptimisten und Zweckpessimisten, treten auch Kenner auf den Plan. Es darf als ein gutes Zeichen begrüßt werden, daß nach den Salondiplomaten einer nahen Vergangenheit die USA jetzt ihren besten Rußlandfachmann als Botschafter nach Moskau entsandt haben.

Das ist ungemein wichtig; denn: die Sphinx hat ihr Gesetz, sie lebt keineswegs anarchisch, sondern diesem gehorsam, und mit tausend Fühlern tastend und erspürend, was ihrem Wesen gemäß ist; ausscheidend, abwehrend, was ihren riesenhaften Leib zu gefährden droht, langsam, in unendlich langsam scheinenden Atemzügen annehmend, was sie verdauen kann. Der Koloß, der heute den Namen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken trägt, und heute von einem mehr-häuptigen Gestirn geführt wird, lebt, zwischen den Ozeanen, ein Siebentel der Erde umfassend, weil er seit den Tagen der Mongolen- und Tatarenherrschaft gelernt hat, riesige, ja ungeheure Spannungsfelder in sich zu bergen und zum Ausgleich zu bringen. Die Räume und die Zeiten, die Völker und die Gesellschaften in diesem Koloß haben bestimmte, über die Jahrhunderte hinweg stabile Entwicklungstendenzen, die ihre Macht bezeugen, und in tausend Schwierigkeiten, Chancen ihren jeweiligen Herrschern ihre Realität aufs nachdrücklichste bewußt machen, wenn diese in Gefahr geraten, diese oder jene Wirklichkeit zwischen Schwarzem Meer und Weißem Meer zu übersehen. Was dem Westen, seit den Tagen des österreichischen Botschafters Graf Herberstein zur Zeit Kaiser Maximilians, der das erste westeuropäische Buch über Rußland schrieb, so oft als verwirrend und anarchisch am und im Osten erscheint, ist sehr oft nichts anderes als eben dies: das sich Ueberschneiden und Ueberlagern, sich Treffen und Kreuzen der verschiedenen Gesetze, die jeweils eine Kraftkomponente dieser unendlich erscheinenden Räume und ihrer Völker vertreten. Das Zusammenspiel vieler, dem Westen oft noch wenig bekannter Gesetze und innerer Kraftfelder dieses Kolosses ergibt eine Stabilität und Kontinuität, die gerade auch in der Außenpolitik sehr zu beachten ist.

Wenige sind sich heute bereits darüber klar: auch ein „zaristisches“ Rußland hätte, nach dem Gewinn des letzten Weltkrieges, kaum eine andere Außenpolitik getrieben als das sowjetische. Wer die russische Unter-heiratung Deutschlands im 18. und 19. Jahrhundert beobachtet (zwischen Leibniz, Kotzebue und Franz von Baader sind zudem namhafteste deutsche Literaten und Schriftsteller in russischem Solde), wer die Kon-giesse der Slawophilen zwischen Prag, Moskau und Belgrad seit dem hohen 19. Jahrhundert verfolgt, und dann noch etwa einen Blick auf die russische Infiltration in China wirft, kann mühelos eine Kontinuität russischer außenpolitischer Entfaltung ablesen, die nur den maßlos in Erschrecken versetzt, der sie nicht anzusehen wagt.

Dieselbe Kontinuität gilt für die innerrussische Entfaltung. Es gehört zum Lebensgeheimnis des russischen Kolosses, als eines Großleibes, der aus verschiedenartigen Gliedern besteht (nur deshalb nennen wir ihn hier eine „Sphinx“), daß er in allen seinen Revolutionen sich selbst treu bleibt und Zug um Zug Wesens- und. Strukturelemente entfaltet, die bereits jahrhundertelang an sich existieren. Das gilt selbst für die scheinbar revolutionärsten Institutionen, wie den „Sowjet“, den Rat der Auserwählten, der in uralten Sekten seinen Ursprung hat, und die Kolchosen, die im „Mir“, in der altrussischen Agrarver-fassung wurzeln. George Kennan hat den Mut gehabt, in einer vielbeachteten Broschüre, die erstmals als Aufsatz in den „Foreign Review“ erschienen war, klarzustellen, daß viel von der heutigen Sozialstrukaw und gerade auch Agrarstruktur die Tage der Sowjets überleben würde, wenn diese bereits gezählt wären.

Es verdient doch sehr beachtet zu werden: die jetzt die Welt in Atem haltenden Proklamationen und Aktionen der russischen Regierung wurzeln sichtlich in Entwicklungen, die bereits zu Lebzeiten Stalins eingeleitet wurden. . '

Beim Wiener Weltfriedenskongreß im vergangenen Dezember fiel es kundigen Beobachtern bereits auf: diese groß aufgezogene Veranstaltung hatte den primären Zweck, den Völkern der östlichen Hemisphäre den Friedenswillen der sowjetischen Regierung zu demonstrieren, die sich hier einen politischen Leumund vor ihren eigenen Massen erwerben wollte. Was nunmehr mit den Vorgängen dieser Tage ebenso in engstem Zusammenhang gesehen werden will, wie die Abschaffung der wichtigsten Exekutivorgane der Partei, des Politbüros, das seit der bolschewistischen Machtergreifung die gesamte innere und auswärtige Politik des Sowjetregimes dirigiert hat, und des Organisationsbüros, dem die Leitung des Parteiapparats oblag, bereits bei der Neugliederung der Moskauer Hierarchie auf dem Parteitag im vergangenen Herbst. Dessen Beschlüsse und Maßnahmen müssen heute sorgfältig studiert werden; sie zeigen, daß der „Kurswechsel“ in Moskau durchaus ein Vorgang eines neuen Atemholens im organischen Prozeß der Selbstentfaltung dieses Großkörpers ist.

Die neue Fühlungnahme mit dem Westen ist von langer Hand vorbereitet; und sie ist ihrerseits ein Akt des Einatmens, der mit dem des Ausatmens, der vorhergehenden Aggressivität, in engstem Zusammenhang steht.

Dieser Tatsache gegenüber tritt das personale Moment — ob nämlich Malenkow oder Beria einen Brutuskomplex besitzt, und sich nun durch ein langsames „Töten“ Stalins im Gedächtnis des Sowjetvolkes von dem übermächtigen Druck befreien will, den diese Persönlichkeit gerade auf seine nächsten Mitarbeiter unzweifelhaft ausüben mußte — ebenso zurück, wie das positionspolitische; die Frage also, wie die Machtkämpfe zwischen den leitenden Persönlichkeiten und den großen Interessenverbänden Partei, Armee, Staatsbeamtenschaft zu bewerten sind. Das sind durchaus sekundäre Fragen, so aufregend sie für uns nahsichtige Wesen auch erscheinen mögen. Primär wichtig ist anderes: der russische Koloß atmet ein; e r findet es für richtig, in neue Kommunikationen mit dem Westen zu treten; ohne natürlich sein Wesen, ohne das Geheimnis seiner Existenz preiszugeben.

Diese Situation verlangt dem Westen ein Maß staatsmännischer Kunst, von Einsicht, Geduld, Kraft und Klugheit ab, wie es ihm seit den Tagen des Wiener Kongresses nicht mehr abgefordert, wie es zumindest seither nicht mehr geleistet wurde.

Ein neuer Wiener Kongreß? Vielleicht. Die Chancen des Westens sind jedoch nicht auf Kongressen zu suchen; und sicherlich auch nicht in Reden. Wohl aber in einer verhaltenen Kraft und einer geduldigen Sündhaftigkeit, die bereit ist;, dem Osten Rede und Antwort zu stehen in einer wachsenden Konsolidierung seiner Potenzen im eigenen, im inneren Raum. Der Osten braucht einen starken Partner.

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