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Genf, Juli 1955

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Einer der großen Staatsmänner Frankreichs, dem es gelang, Frankreichs Stellung im „Konzert der Nationen“ auf dem Wiener Kongreß zu sichern, nachdem es durch den Parforceritt Napoleons eine schwere Einbuße erlitten hatte, Talleyrand, hat das Wort geprägt: Genf, ein fünfter Kontinent. Als Gottesstadt Calvins, als Metropole des Calvinismus, vieler Sekten, des Maurertums, eines späteuropäischen Liberalismus, hat die Stadt des Franz von Sales und Rousseaus, um nur zwei Pole ihres reichen Spannungsfeldes zu nennen, seit Jahrhunderten das innere Gesicht Europas mitgestaltet: viele Lichter und viele Schatten sind, von Genf her, über die Welt gefallen.

Dunst des hohen Sommers liegt schwer auf den klobigen, dem verblichenen Pomp der Jahrhundertwende verhafteten riesigen Hotelgebäuden, die aus hundert leeren Fensteraugen auf die Promenade des Anglais herabsehen. Die Sterilität, die gewollte und ungewollte Vergeblichkeit endloser Debatten und Prozeduren der internationalen Verhandlungen der Völkerbund-Zeit hängt an den Fassaden, bestimmt immer noch die Atmosphäre. Es ließe sich kaum ein Ort denken, der mit unglücklicheren Erinnerungen an gescheiterte Verhandlungen mehr belastet ist als die schöne Stadt am Lac Leman.

Glücklicherweise sind die Männer, die jetzt nach Genf kommen zur ersten Begegnung seit Yalta und Potsdam, nicht mit Sentimentalitäten belastet, und bemühen sich auch, die Last schwerwiegender Erinnerungen nicht übermächtig werden zu lassen: es sind nüchterne, ernste Verhandlungspartner, die hier, mit Präsident Eisenhower an der Spitze, zusammentreffen. Es ist nicht die Genfer Luft, die sie bestimmt — mit Bedächt haben sie sich als Domizile Villen und Schlösser im nahen Llmkreis von Genf gewählt, dergestalt ihre Ungebundenheit durch den ominösen gpnius loci andeutend —, die Last, die auf ihnen liegt, ist eindeutig bestimmt durch das Gewicht der Verantwortung, daß diese Männer heute bewußt tragen: Veran-w Ortung für ihre Nation, und untrennbar damit verbunden, Verantwortung für den Weltfrieden.

Noch niemals hat, in den zehn Jahren seit 1945, ein internationales Treffen mit so stark akzentuierten vorhergehenden Erklärungen und Demonstrationen begonnen, die alle sichtlich bestimmt waren, Spannungen zu mildern oder zu klären, und die Situation zu entgiften. Moskau hat, seit Monaten, keine Gelegenheit vorübergehen lassen, das — begründete — Mißtrauen der westlichen Welt zu vermindern. Einladungen amerikanischer, westeuropäischer, in letzter Zeit auch westdeutscher Journalisten, die Ankündigung, das sowjetische Imperium werde bereits in allernächster Zeit seine Tore dem internationalen Reiseverkehr öffnen, bilden den atmosphärischen Umkreis zu jener Kette staatspolitischer Aktionen, die bisher ihren Höhepunkt im Abschluß des österreichischen Staatsvertrages und der Einladung an Dr. Adenauer fanden. Der Kreml hat sich, um seine Politik der Koexistenz zu unterstreichen, prominentester Fürsprecher versichert: als solcher muß in Europa Tito gelten, der mit seiner Stellung am Balkan und im Mittelmeerraum ein Zünglein an der Waage aller europäischen Entscheidungen bildet. Als solcher Fürsprecher muß in Europa und aller Welt der „Apostel der Koexistenz“ Nehru gelten, dessen Europatournee in den letzten AVochen ganz unter diesem Leitmotiv stand: nicht Krieg, sondern Koexistenz. Es ist dies zum ersten Male, daß ein führender Staatsmann Asiens sein ganzes Gewicht und all seine Autorität in die Waagschale legt, um in Europa und um Europa weltpolitische Entscheidungen vorwärts zu treiben. Denn, wenn nicht alle Zeichen täuschen, dann geht es bei dieser Genfer Begegnung (mit aller gebotenen Vorsicht sei hier das große Wort gewagt: „Begegnung“, in ihm ist die Floffnung enthalten, daß es in Genf zu einer Begegnung von Gegnern eis Partner kommen kann, nicht nur zu einem Re-contre von Diplomaten, die bewußt, gewollt und ungewollt, aneinander vorbeireden, weil sie glauben, daß die stärksten Generale und General Zeit jenseits der runden Tische das entscheidende Wort miteinander abzuhandeln haben) vorwiegend um Europa. Eine Auseinandersetzung also, im Juli 1955, zwischen den beiden stärksten Weltmächten, in Europa, um Europa.

Die LISA und die UdSSR haben ihre guten Gründe zu einer Absprache über Europa zu langen. Eisenhower und Dulle's wissen sehr genau, daß die Auseinandersetzung mit China nur aufgeschoben ist; Formosa bleibt ganz ungeklärt, obwohl es im gegenwärtigen Moment zu einem stillschweigend von beiden Seiten akzeptierten Waffenstillstand gekommen ist. So seltsam es auf den ersten Augenblick erscheinen mag: gerade die ernstesten Kämpfer gegen den Weltkommunismus befürworten heute eine Absprache mit Rußland, weil man viel Zeit und viel Geld braucht, um die unentwickelten Völker, die Massen Asiens, Afrikas und Südamerikas, zu erziehen und richtig zu betreuen, so daß sie nicht morgen bereite nationalbolsche-v/istischen Revolutionen und Diktatoren zum Opfer fallen, bei denen, wie die Tagesbeispiele zeigen, rechte oder linke Parteiabzeichen nur die Rolle von jederzeit austauschbaren Etiketten spielen. Will Amerika seine Rolle als Vorkämpfer einer freiheitlichen Welt ernst nehmen, dann muß es alles tun, um den Massen der noch nicht kommunistischen Diktaturen anheimgefalle nenKontinente Brot und Frieden zu schaffen. Nun ist aber die amerikanische Industrie und der amerikanische Staatsschatz zu dieser ungeheuren Leistung nur dann imstande, wenn die Rüstungen eingeschränkt und so beide, der Geldbeutel und das Fließband, spürbar entlastet werden können. Das Debakel des McCarthysmus ist vielleicht nie offenbarer geworden als heute: die Erhaltung der Kriegsangst und Kommunistenpsychose würde nur der Sache des Weltkommunismus und der Weltrevolution in den vielen Ländern und Völkern, die in Armut, Elend und Unbildung und deshalb fiebernder Unruhe leben, dienen. Das weiß heute gerade General Eisenhower sehr genau, der am Vorabend von Genf erklärte, er persönlich gehe „mit großer Hoffnung“ nach Genf- Er selbst hat vor wenigen Wochen eine sichtbare Demonstration “des guten Willens und der staatspolitischen Klugheit gesetzt, als er General Ridgway verabschiedete, einen verdienten Waffengefährten, der als Leiter des Generalstabes sich gegen die Verringerung der Landstreitkräfte aussprach. Der Soldat Eisenhower scheint heute zur Ueberzeugung gekommen zu sein, daß es im gegenwärtigen weltgeschichtlichen Moment vor allem auf Soldaten des Friedens ankommt: auf Arbeiter, die den Vereinigten Staaten die wirtschaftliche Vormachtstellung sichern sollen, die nicht zuletzt das sichtbare Einlenken der Sowjetführer geschaffen hat. Die nüchternen Rechner im Kreml fürchten nicht so sehr den amerikanischen Soldaten, als sie den amerikanischen Arbeiter und die von ihm getragene Produktion respektieren.

Das Interesse Rußlands an einer Beruhigung in Europa ist offensichtlich. Die innere Situation dieses Großreiches darf vielleicht verglichen werden mit der inneren Lage des Vielvölkerstaates der österreichischen Monarchie in den Jahren um den Wiener Kongreß. Altösterreich hatte damals, durch den Zwang der geschichtlichen Verhältnisse, die undankbare und bis heute ihm nicht verdankte Aufgabe übernommen, die Nationen in seinem Schöße — durch Schule, Hochschule, Beamtenschaft und Armee — zu erziehen zur Selbständigkeit, sie auszugebären zur eigenständigen Reife. Viel Unglück seit 1914 hängt an der Tatsache, daß dieser Prozeß des Austragens und Ausgebärens willkürlich unterbrochen, zu früh abgebrochen wurde ... Die Sowjetunion sieht sich heute in einer ähnlichen Lage, und genießt den Vorteil, einige mögliche Folgen aus den Erfahrungen anderer bereits vorberechnen zu können. In der Sowjetunion und in ihrem Umkreis — in China, Indo-china, beiden Indien, im Nahen und Fernen Osten — wird heute in Hunderten von Hochschulen, Akademien, eine nationale Intelligenz von einigen Dutzend großen und einigen hundert kleineren Völkern herangebildet: Menschen, die man braucht, um die riesigen Aufgaben der Industrialisierung und Meliorisierung des Bodens (mehr als halb Asien wartet auf künstliche Bewässerung, auf Kanalsysteme, Baumgürtel usw.) durchzuführen. Die nüchternen Staatsmänner im Kreml machen sich keine Illusionen: sie wissen sehr genau, daß die dünne Tünche bolschewistischer Ideologie nicht gerügt, um den leibseelischen Untergrund und damit den stärksten Bewegungsfaktor dieser farbigen Aerzte, Ingenieure, Agronomen, Politiker, Intellektuellen so stark einzufärben, daß sie gehorsame Schafe einer bolschewistischen Weltkirche bleiben, oder auch nur werden. Moskau setzt deshalb auf die Karte des Nationalismus, gerade weil es weiß, wie gefährlich diese Karte ist: sie kann nur dann zu seinen Gunsten ausgespielt werden, wenn es der Sowjetunion gelingt, in schöpferischer Ausgestaltung der altrömischen und englischen Maxime divide et irhpera, teile, um zu herrschen, die von ihm heute noch überherrschten riesigen Lande und Völkermassen zunächst auszugliedern zu kleineren Gebilden, zu Bünden und Konföderationen, die elastisch beherscht, zumindest beeinflußt werden können durch das Haupt Moskau. Die UdSSR will sich deshalb mit einem Kranz von Föderationen umgeben, die den schwierigen Volkswerdungs- und Integrationsprozeß in dem riesigen, noch ungegliederten Innenleib abschirmen sollen. Dazu braucht man Zeit, Frieden und konkret: Friedensräume. Das große Spiel um Asien, Afrika, Südamerika verlangt also auch von Seiten der Sowjetunion, daß Europa, das alte, dynamische, unruhige Europa relativ befriedet wird. Hier finden die Sowjets ein Objekt vor, an dem sie die ganze Kunst ihrer Politik zeigen können: Deutschland. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die meisterliche Handhabung und Lenkung des deutschen Nationalismus durch die Erbenkelin der byzantinischen Kabinettspolitik, durch Moskau, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Welt mehrmals den Atem anhalten lassen wird.

Hier können die Russen ihren großen europäischen Gegner, der in der Schweiz jetzt auf die erste Begegnung mit ihnen wartet, treffen: Dr. Adenauer. Treffen im doppelten Sinne: im Sinne einer möglichen Absprache, und treffen, im Sinne einer tödlichen Bedrohung. Die innerste Wunde des deutschen Wunders, die Lebenslüge des Bonner Staates von heute, wird ja hier direkt angesprochen: dieses Gebilde aus forcierter Wirtschaftsmacht und vernachlässigter Geisteskraft, ebenso sehr leidend unter dem Druck ungezügelter materieller Potenzen wie unter dem Mangel spiritueller Energien, ist ja am stärksten dem Anprall der russischen Anerbieten ausgesetzt. Die Staatsmänner des Westens werden hier einer Bewährungsprobe unterzogen, wie nie zuvor im konkreten politischen Handel der letzten Jahre. Vielleicht darf es als ein gutes Zeichen gebucht werden, daß die in Bonn seit Wochen arbeitende westalliiert-deutsche Expertenkommission zur Prüfung der Deutschlandfrage und der Wiedervereinigung sich sehr stark mit den englischen Plänen, nicht nur mit dem Eden-Plan, über die künftige Gestaltung des deutschen Raumes in Europa auseinandersetzt.

Die Koffer für Genf sind gepackt: in Washington, London, Paris, Moskau und Bonn. In ihnen liegt die ganze Last der Aengste des beginnenden Atomzeitalters und der jungen Hoffnung.

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