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Drücken wir uns wieder?

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Zuweilen liebt die Geschichte, für einige ihrer minder begabten Lieblingsschüler eine Wiederholungsprüfung zu gewähren. Und zuweilen setzt sie diesen Termin an einem leicht einprägbaren Jahrestermin fest, so etwa an dem eines Vierteljahrhunderts. Blättern wir also zurück:,Am 25. September 1935 stand der Völkerbund mitten in seiner schwersten Existenzkrise; an deren prakr tischer Nichtbewältigung er wenige Jahre später zugrunde gehen sollte. Eine der damaligen europäischen Großmächte rüstete offen zu einem Angriffskrieg, zu einer kolonialistischen Intervention in Afrika: Italien hatte bereits die Mobilmachung gegen das Kaiserreich Äthiopien veranlaßt, der eine Woche, später der Ausbruch der Feindseligkeiten folgen sollte. Die Frage der Sanktionen gegen den Angreifer stand auf der Tagesordnung. Das nach dem ersten Weitkrieg mit so viel Hoffnung'und'idealistischem Überschwang geschaffene Instrument einer übernationalen Friedensordnung — kein Geringerer als Österreichs großer Staatsmann Seipel hatte an seiner geistigen Konstruktion mitgewirkt und ihm eine eigene Schrift gewidmet —, eben dieses erste Jnitrument einer übernationalen Autorität, das die Geschichte seit dem Untergang des Heiligen Reiches kannte, sollte jetzt im Ernstfall seine Kraft und Effektivität beweisen. Man wußte im damaligen Genf sehr genau, daß die Wirksamkeit aller beschlossenen Sanktionen gegen den unverhohlen auf sein Ziel zusteuernden faschistischen Angreifer nicht nur von den übrigen Großmächten, sondern zum gleichen Teil von der Solidarität der Kleinen abhängen mußte, daß Sanktionen nur dann ihre moralische Kraft besitzen, wenn sie von allen Mitgliedstaaten im Hinblick auf das gefährdete Ganze, den einen und unteilbaren Frieden, beschlossen und durchgeführt werden. Gerade in diesen Prüfungstagen wäre es auf jede Stimme angekommen, hätte jedes Votum vor deT Geschichte gewogen. Ein Kreuzweg der Nachkriegspolitik war erreicht, an dem es nur das geben konnte, was die Gründungsurkunden der neutralen Schweiz „die Richtung“ nennen, die auch von dem gefordert ist, der nicht zu den großen Macht- und Paktsystemen gehört. An eben jenem 25. September 1935, auf den Tag vor einem Vierteljahrhundert aber, verzeichnet die Chronik (Kee-sings Archiv der Gegenwart 9(35, 2236 E), daß

sich Österreich diesem harten Ruf der Geschichte entzogen hat. Offiziöse Stellungnahmen erschienen unter diesem Datum in der Presse, die mit den zuweilen aufreizend widerlichen Bekundungen ballhausplätzlicher charmanter Konzilianz zu verstehen gaben, daß man gar nicht daran denke, an den Sanktionen teilzunehmen. Sogar Komplimente wurden für die „ausschließlich friedlichen“ Absichten Italiens gedrechselt, die Sanktionen überflüssig machen sollten. (Übrigens hat sich die Schweiz damals recht ähnlich und wenig „richtungsbewußt“ benommen.) Warum man dies tat, braucht hier wohl kaum mehr erklärt zu werden. Man setzte eben ganz ungeniert auf den Stärkeren. Und der saß nicht in Genf, sondern im Palazzo Venezia. Ein Jahr später sollte es der österreichische Außenminister Guido Schmidt dann bei der Generalversammlung des Völkerbundes am 4. Oktober 1936 mit offenem Zynismus begründen: Der Völkerbund solle nicht Aufgaben auf sich laden, die seine Verantwortung zu stark belasteten. Direkte diplomatische Verhandlungen könnten der freundschaftlichen Zusammenarbeit der Völker viel besser nützen, wie zum Beispiel das vor kurzem geschlossene Abkommen zwischen Deutschland und Österreich ... Die Geschichte ging ihren Lauf sehr schnell. Unter dem offenen Hohn der faschistischen Angreifer, seit dem Spanienkrieg; durch die Intrigen der um einen Frontwechsel bemühten Sowjets von innen her sabotiert, ging der Völkerbund ruhmlos zugrunde. Unter denen, die nach biblischen Vorbild „dastanden und zusahen“, waren die Österreicher von damals. In den Stunden des Todeskampfes vom 11. März 1938 gab es unter den vielen verzweifelten Telephonaten um Hilfe wohl kaum mehr eine Gesprächsanmeldung in den Völkerbundpalast von Genf. Diese Leitung hatte man ja selbst durchschnitten ...

Auch die schönsten und verbindlichsten Worte, die in diesen Stunden des September 1960 zur Eröffnung einer deT dramatischesten Sitzungen der UNO-Vollversammlung gehalten werden, können uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß die um Vermeidung bestimmter Konstruktionsfehler des Völkerbundes erfolgreich bemühte Gemeinschaft der Vereinten Nationen heute mitten in einer Existenzkrise steht, die der des Völkerbundes in. den dreißiger Jahren durchaus vergleichbar ist, wenn auch die Akteure andere Namen tragen und hinter anderen Fahnen und Symbolen marschieren. Betrachten wir nicht die verwirrenden Verhüllungen und Masken, sondern den Kern der Dinge: Die Vollversammlung hat, einem ceylonesisch-tunesischen Antrag, der durch zwölf andere afro-asiatische Länder unterstützt wurde, folgend, beschlossen, im Vertrauen auf die bisherige Sicherheitsaktion unter der Federführung Generalsekretär Hammarskjölds den Mächten ein direktes oder indirektes Eingreifen zugunsten der streitenden Parteien im Kongo zu untersagen. Jedes- zeitunglesende Kind weiß, daß damit die Sowjetunion und ihr volksdemokratisches Gefolge gemeint ist. Eben dieser Ostblock hat sich zwar bei der Versammlungsdebatte der Stimme enthalten und — aus zur Stunde noch nicht ganz überschaubaren Gründen — eine vorbereitete Gegenresolution zurückgezogen. An jener Stelle aber, wo es auf die konkrete Durchführung der Beschlüsse ankommt, im Sicherheitsrat, hat er den inhalfcsgleichen ceylonesisch-tunesischen Antrag zu Fall gebracht. Aus UNO-Kreisen wird zugleich das Zirkulieren einer sowjetischen Erklärung gemeldet, die eine; Fortführung der bisherigen indirekten Intervention im Kongo, ja sogar deren Umwandlung in eine direkte auch gegen den Willen der Voll-; Versammlung ankündigt. Ein bemerkenswerter Artikel von Botschkarew in der „Prawda“ vom 13. September spricht sogar ganz offiziell vom Kampf gegen den „Kolonialismus unter der UNO-Flagge“. Dies alles ist deutlich genug. Gewiß: Chruschtschow ist kein Mussolini. Aber er hat oft genug zu verstehen gegeben, daß er sich im wirklichen Ernstfall kommunistischen Interesses den Teufel um Herrn Hammarskjöld schert. Vielleicht werden wir schon in den nächsten Tagen viel schärfere Töne aus dieser Richtung hören, vielleicht aber auch die plötzliche Überraschung von konziliantem Entgegenkommen im Rahmen der großen Abrüstungsdebatte. Österreich weiß dies ebensowenig, wie es nicht in seiner Macht steht, irgend etwas an diesen Dingen zu ändern. Kein Mensch erwartet das von unserem Land, das ja im Bewußtsein seines Rechtes ohnehin am besten daran tun wird, ohne allzuoft und allzu klug nach rechts und links zu schielen, vor der Vollversammlung seinen Südtirolstandpunkt zu vertreten. Aber etwas anderes wird von uns erwartet: daß wir uns gerade in dieser Stunde, da die Dinge der Welt — nach einem sehr klugen Kommentar unseres UNO-Delegierten zu Beginn der Sitzungsperiode — wieder einmal an die Kleinen gekommen sind, da wieder einmal jeder gewogen wird, jener Aufgabe nicht entziehen, die das UNO-Generalsekretariat konkret an uns gestellt hat: daß wir den von Österreich gewünschten Beitrag für die gemeinsame Sicherheitsaktion im Kongo korrekt und in einer Form leisten, die unseres Landes würdig ist. Darunter verstehen wir, ganz deutlich gesagt, daß! die sanitären und Veterinären Einheiten, wie auch die postalischen Fachkräfte nicht im „Räuberzivil“ und in „losen Haufen“ als verkappte Touristen auf die Reise geschickt werden, sondern daß die zuständigen Stellen, in diesem Fall das Bundesverteidigungsministerium, jene Verantwortung übernehmen, die nicht zuletzt die Angehörigen jedes Mitbürgers fordern können, der sich, dem Aufruf der Freiwilligmeldung folgend, zur Verfügung stellt. Es handelt sich' um keinen Operettenkrieg und um keinen Betriebsausflug der Postgewerkschaft, sondern um eine sehr ernste, vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu vollziehende Staatsaktion unseres Landes. Wir haben das nicht ganz ohne eigenes Verschulden über uns hereingebrochene Ende von 1938, das sich an jenem 25. September 1935 moralisch vorbereitete, ohne wesentliches eigenes Verdienst überleben, wir haben aus der Todesnacht auferstehen dürfen. Aufs neue tritt die Geschichte mit einer relativ kleinen Forderung an uns heran: Wir sollen der UNO jenes Maß an solidarischer Tatbereitschaft für das Ganze entgegenbringen, das unsere Vorsänger 1935 dem Völkerbund zum eigenen Schaden versagt haben... Wir sollen mit den Vereinten Nationen jene einzige noch bestehende Instanz der Erde stärken, von der wir uns selbst einmal Hilfe in neuer Bedrohung erwarten, die wir gerade jetzt in einer Lebensfrage unseres Volkes anrufen. Kann es da noch eine feilschende Debatte, ein hofrätliches Rücksichtnehmen, geschäftsmännische Leisetreterei geben?

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