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Was soll mit Berlin geschehen?

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Der Streit zwischen West und Ost um das Statut von West-Berlin ist seit Kriegsende nie zum Ruhepunkt gekommen, wenn auch zeitweise nicht darüber verhandelt wurde. Jetzt haben Chruschtschow und Ulbricht wieder einen Stein in den Teich geschleudert und beteuern, daß sie nicht mehr locker lassen werden, bis das Problem im Sinne ihrer politischen Zielsetzungen gelöst sein wird. Was soll der Westen tun?

Zunächst muß er das Problem klar sehen. Heute ist das nämlich nicht der Fall! Alle Erwiderungen aus Amerika, England und Frankreich beschränken sich auf einen einzigen Aspekt: man darf dem Osten nicht nachgeben, man darf nicht zulassen, daß er eine unserer politischen Stellungen nach der anderen mit diplomatischen Aktionen entwertet. Diese Gegenaktion gehört in das Feld der Tagespolitik. Darüber hinausgehend muß man aber den Streit in einen größeren Zusammenhang stellen und auf lange Sicht eine konstruktive Lösung suchen.

In der Tagespolitik ist die Lage der Westmächte stark. Moskau hat nicht das Recht, einseitig zu erklären, daß ein Abkommen nicht mehr besteht, weil es seine Außenpolitik stört, Es ist auch vollkommen falsch und rechtlich unhaltbar, wenn Moskau behauptet, das Abkommen von Potsdam sei auf Berlin nicht mehr anwendbar, weil die Westmächte andere Teile desselben verletzt haben. Abgesehen davon, daß solche Anschuldigungen mit Beweisen belegt werden müßten, ist es im Völkerrecht ebensowenig möglich, aus der Verfehlung einer Partei auf eine automatische Aufhebung des Vertrages zu schließen, wie etwa im Privat- oder im Eherecht.

Nur in einer Hinsicht hat Chruschtschow recht. In seiner kilometerlangen Note steht ein einziger, kurzer Satz, dem weder er noch seine westlichen Gesprächspartner die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt haben: eine fremde Besetzung ist kein normaler Zustand, und ein Abkommen über diesen Punkt kann nicht für eine unbegrenzte Zeitspanne gelten. Hier treten wir aus dem Bereich der Tagespolitik heraus und begeben uns auf das Gebiet der Geschichtsphilosophie. Wir sollen es auch tun, denn nur dort werden wir klare Sicht über das Problem von Berlin erhalten.

Seitdem es eine menschliche Gesellschaft gibt, besteht der Kampf zwischen dem Recht und der Entwicklung. Die Rechtsschöpfung geht immer von einer gegebenen Lage aus und trachtet, Grundsätze aufzustellen, die später auf konkrete Streitfälle anwendbar sein sollen. Zeigt es sich, daß der frühere Grundsatz in einer neuen Lage nicht mehr den „Notwendigkeiten“ entspricht, dann wird neues Recht geschaffen. Dies geschieht entweder durch langsamen Fortschritt oder, wenn der Widerstand zu stark ist, auf revolutionärem Wege. Aber jedenfalls vollzieht sich die Entwicklung des geschriebenen Rechtes in deutlich getrennten Abschnitten.

Demgegenüber geht die geschichtliche Entwicklung meist still und unbemerkt vor sich. Technik und Kultur bringen neue Ideen, diese finden immer mehr Anhänger und werden zur Mehrheitsauffassung. Wie das kam, läßt sich nur rückwirkend - und auch dann nicht immer -feststellen.

Der Gegensatz zwischen der tatsächlichen Lage und der rechtlichen Regelung ist uns in einem anderen Felde wohlbekannt. Um ihn zu überbrücken, anerkannten schon die Römer neben dem geschriebenen Recht das Gewohnheitsrecht. Das Rechtsempfinden des Volkes kann — falls es sich während einer langen Zeitspanne unverändert offenbart — neues Recht schaffen oder altes Recht außer Kraft setzen. In der Weltpolitik gibt es wohl kein Gewohnheitsrecht, aber auch dort muß man Brücken von der Vergangenheit in die Zukunft schlagen können. Wie stellt sich dort das Problem von Berlin?

Die heutige Rechtslage ist in einem Zeitpunkt entstanden, in dem die weltpolitischen Gegebenheiten anders “waren. Der Westen hatte die Atombombe und Rußland noch nicht — also bestand kein strategisches Gleichgewicht in der Weltpolitik. Heute haben beide Lager nicht nur die „A“-, sondern auch die „H“-Bombe. Auch die Wirtschaftslage hat sich grundlegend geändert. Damals war Rußland in großer Not, heute bietet es den unentwickelten Völkern Geld- und technische Hilfe und beteuert, daß es in zehn Jahren das Lebensniveau Amerikas erreichen wird. Ganz anders als zu Zeiten des Abkommens von Potsdam ist auch die weltpolitische Lage. Es gab damals überhaupt keine festen Frontlinien in der Weltpolitik, und der Bolschewismus war isoliert. Heute hingegen stehen einander die Mächtegruppen des Warschauer Paktes und der NATO gegenüber, und in den unentwickelten Ländern erhoffen Millionen von irregeführten Menschen Hilfe von Sowjetrußland gegen den Kolonialismus. Sie glauben auch, es könnte ihnen möglich sein; mit russischer Hilfe ihr Elend in Wohlstand umzugestalten.

Wir haben also ein Schulbeispiel für einen internationalen Vertrag vor uns, der unter ganz anderen allgemeinen politischen und militärischen Umstände abgeschlossen wurde, als jetzt vorherrschen. Es stellt sich daher die Fraee, ob man auf die Dauer eine Regelung aufrechthalten , kann, deren Grundlagen sich geändert haben, und -wenn nicht, wie die Anpassung vor sich gehen soll.

Zunächst die Vorfrage: darf man sich der Abänderung eines Vertrages endlos widersetzen? Die Weltgeschichte kennt ungezählte Tragödien, die durch den Irrtum hervorgerufelfWulrdfen?m£P man sich an die Vergangenheit anklammerte, anstatt an die Zukunft zu denken.

Schon diö Statuten des Völkerbundes haben (Artikel 19) anerkannt, daß Verträge, die ursprünglich gut gewesen sein mögen und zu Recht bestehen, den Frieden gefährden können. Daher war ein Verfahren für ihre friedliche Abänderung vorgesehen. Es wurde allerdings nie angewendet, weil ja ein Vertrag — ob gut oder schlecht — nach einiger Zeit unweigerlich eine Partei mehr begünstigt als die andere. Beim Völkerbund brachten es die „Nutznießer“ nicht über sich, ein Opfer zu bringen. Damit erreichten sie bloß, daß das Dritte Reich Genf den Rücken kehrte und erst recht so handelte, wie es ihm paßte. Das Vetorecht im Sicherheitsrat ist nichts anderes als die Anerkennung des Grundsatzes, daß man Staaten, die mächtig genug sind, um sich zu verteidigen, keine Regelungen aufzwingen kann. Hier blicken wir auf die Kehrseite der Medaille: es handelt sich nicht um die Abänderung von Verträgen, sondern um eine Vorkehrung gegen die Schaffung von Regelungen, die im Gesichtswinkel eines wichtigen Staates von Anbeginn abänderungs-becjürftig erscheinen würden.

Ob die Regelung laut dem Vertrag von Potsdam jemals gut war oder nur eine Notlösung darstellte, ist heute belanglos. Sicher ist bloß, daß seither 13 Jahre verflossen sind und das Weltbild sich gewaltig geändert. hat. An sich wäre dies eine Rechtfertigung für den Wunsch, die Materie neu zu prüfen. Man wird ,es tun müssen, weil Moskau sich so sehr auf eine Linie festgelegt hat, daß es nicht mehr ohne den Anschein eines Erfolges zurücktanzen kann. Es ist auch taktisch in einer günstigeren Lage als seine Gegner. Der Ostblock ist eben in Berlin „intra dominium“, im Gegensatz zum Beispiel zu den Vereinten Nationen, wo seine Gegner hinter einem Wall von Vertragstexten sitzen und die Uebertragung der Vertretung Chinas von Tschiangkaischek auf Mao Tse tung verhindern können. Auch hier besteht eine Regelung, die den Aenderungen der politischen Lage seit der Gründungskonferenz der UNO in San Franzisko, im Jafire 1945, nicht Rechnung trägt und irgendwann eine Abänderung erfahren muß.

Welche Aufgaben stellen sich dem Westen angesichts der geschilderten Lage? Vorerst muß er entschlossen „nein“ antworten. Einem Druck darf er nicht nachgeben, er muß Rußland, dem Ostblock und den unentwickelten Ländern zeigen, daß er zum Kampf bereit ist, wenn es sich um seine Lebensinteressen handelt.

Aber hinter der entschlossenen Miene der westlichen Staatsmänner sollte sich eine konstruktive Denktätigkeit anbahnen. Auf lange Sicht muß ein Kompromiß mit dem Ostblock ausgearbeitet werden. Heute sagt Moskau „nein“ zum Vorschlag einer Konferenz über das gesamtdeutsche Problem. Aber die Westmächte könnten ihm erwidern, daß auch andere Abkommen als der Vertrag von Potsdam abänderungsbedürftig geworden sind. Wenn die Vierteilung einer Stadt nur als Uebergangslösung gedacht war, so konnte auch ein vertragloser Zustand mit einer Nation von rund 70 Millionen Menschen nicht als Endlösung geplant worden sein. Und die Zweiteilung eines Landes ist eine noch größere Anomalie als die Zweiteilung einer Stadt.

Wenn also Moskau die lästige Anwesenheit der Westmächte in Berlin loswerden will, so soll es dafür den Preis bezajilen: einerseits kontrollierte freie Wahlen in ganz Deutschland und hernach freie Entwicklung des deutschen Volkes. Dies allein würde eine Kapitulation der Russen darstellen, und dazu haben sie keinen Anlaß. Aber könnte diese Bedingung nicht mit einer Neuorganisierung Zentraleuropas verbunden werden, wozu der Rapacki-Plan als Anreger der Diskussion dienen könnte? Vor einem Jahr wäre dies für den Westen unannehmbar gewesen, aber dieser Tage wurde durch die amerikanische Armee zum ersten Male mit Erfolg eine interkontinentale ballistische Rakete abgeschossen. Diese wird die gesamte Abschreckungsstrategie auf neue Grundlagen stellen und 'nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa — den westlichen und den östlichen Teil — strategisch „abwerten“. Da darf man wohl verlangen, daß frühere Stellungnahmen revidiert werden! Bloß muß von Anbeginn verhindert werden,1 daß Rußland die Wahlen in der Ostzone fälscht und aus deren Ergebnis sich bei den unentwickelten Völkern Kapital schlägt. Die hernach notwendige Neutralisierung sollte heute nicht mehr als Gefährdung Deutschlands, oder gar des Westens, betrachtet werden. Strategisch ist dies nicht mehr der Fall (zumindest wird es in einigen Monaten nicht mehr sein, dehn Amerika wird die neue Rakete sehr rasch „in den Dienst stellen“); politisch ist das Kompromiß durchführbar, was man am Beispiel Oesterreichs ersehen kann. Zugegeben, daß die Dimensionen des Problems im Falle Deutschlands ganz anders sind. Doch ist dies kein Grund, um nicht eine ähnliche Therapie anzuwenden. Eine Grippe wird bei einem Erwachsenen ebenso, behandelt wie bei einem Kind. Nur die Dosierung der Arzneien ist anders. Die Regel dürfte sich auch in der internationalen Politik bewähren.

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