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Ein zweiter Wiener Kongreß?

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Der Zweite Weltkrieg ist noch nicht zu Ende. Die beiden Staaten, deren Zusammenstoß ihn ausgelöst hat, haben ihre diplomatischen Beziehungen noch immer nicht aufgenommen. Deutschland und Polen sind noch nicht versöhnt. Zwischen ihnen und den mit ihnen verbundenen Machtgruppen | herrscht weder ein echter Krieg noch | ein echter Frieden; sondern der „kalte I Krieg“. |

Die Welt braucht Frieden. Um die- | sen Frieden zustande zu bringen, | braucht sie Friedensverhandlungen.

Friedensverhandlungen haben keine | Aussicht auf Erfolg, solange beide | Parteien sich hinter unversöhnlichen Positionen verschanzen.

Dies ist heute leider der Fall. Die Bundesrepublik, ebenso wie ihre Verbündeten, stehen auf dem Standpunkt, daß sie die einzige Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches ist. In ihren Augen ist die DDR illegitim und völkerrechtlich gar nicht vorhanden.

Polen, und die mit ihm verbündete Staatengruppe, vertritt den Standpunkt, daß das einstige Deutsche Reich nach seinem Untergang zwei Rechtsnachfolger hinterlassen hat: im Westen die Bundesrepublik, im Osten die DDR.

Über diese Streitfrage gibt es keine Verhandlungen, denn keine der beiden Parteien denkt daran, nachzugeben. Die Bundesrepublik fordert den Anschluß der DDR, die „Wiedervereinigung“. Die DDR und ihre Verbündeten fordern deren Anerkennung al zweiten deutschen Staat.

Solange über diese Frage keine Einigung erfolgt, wird und muß der kalte Krieg weitergehen. Und damit die Gefahr, daß aus irgendeinem geringfügigen Anlaß der dritte Weltkrieg ausbricht, der zu unserer Vernichtung durch Atombomben führen müßte.

Der Gang zum Richter

Wenn unter zivilisierten Menschen zwei Parteien sich nicht gütlich einigen können, gehen sie zum Richter und unterwerfen . sich seinem Urteil. Diese Methode sollte auch zwischen zivilisierten Völkern gelten — um so mehr, seit die zweite bisher übliche Methode, der Krieg, infolge der Erfindung der Atombombe zum Doppelselbstmord führen müßte.

Zur Entscheidung der völkerrechtlichen Streitfrage, ob das Deutsche Reich nach seinem Zusammenbruch einen oder zwei Rechtsnachfolger hinterlassen hat, gibt es nur einen kompetenten Gerichtshof: den Internationalen Gerichtshof in Haag.

Dieser Gerichtshof sollte von beiden Parteien aufgefordert werden, ein Gutachten darüber abzugeben, ob die Bundesrepublik allein befugt ist, als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches aufzutreten — oder ob dieses Reich zwei Rechtsnachfolger hinterlassen hat: die Bundesrepublik und die DDR; ebenso wie nach dem ersten Weltkrieg Österreichs und Ungarns Republik als die beiden Rechtsnachfolger der einstigen Donaumonarchie anerkannt wurden.

Der Haager Gerichtshof wird aber vielleicht weder die Bundesrepublik allein noch die beiden deutschen Staaten zusammen als Rechtsnachfolger des Bismarckschen Reiches bezeichnen, sondern sich der Auffassung einer Reihe von hervorragenden Völkerrechtslehren anschließen, denen zufolge das 1871 gegründete Deutsche Reich durch seine totale Niederlage im Jahre 1945 sein Dasein verwirkt hat, ohne Rechtsnachfolger zu hinterlassen. Ebenso wie im Jahre 145 3 das Ost-römische Reich und 1806 das Heilige Römische Reich. Die Frage, ob das Deutsche Kaiserreich der Rechtsnachfolger des Heiligen Römischen Reiches wäre oder nicht, wurde 1871 aufgeworfen und verneint. Sonst hätte Kaiser Wilhelm I, den Namen Wilhelm II. annehmen müssen.

Diese Auffassung geht davon aus, daß das Deutsche Reich durch „Debellation das heißt durch seine totale Niederlage, sein definitives Ende gefunden hat: durch die bedingungslose Kapitulation der Armee, die Besetzung des Landes, die Auflösung der Regierung und die Übernahme der Verwaltung namens der Sieger.

Erst nach vierjähriger Kolonialherrschaft kam es, 1949, zu einer doppelten Staatengründung auf dem Boden des einstigen Reiches: im Westen zur Gründung der Bundesrepublik durch die Westmächte — im Osten zur Gründung der DDR durch die Sowjetunion. Nach dieser Theorie handelt es sich in beiden Fällen nicht um Rechtsnachfolger des Reiches, sondern um neue Staatengründungen. Da keiner dieser neu gegründeten deutschen Staaten mit irgend jemandem Krieg geführt hat. bedarf es keiner Friedensverträge mit ihnen, sondern nur der definitiven Regelungen der Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten und ihren Verbündeten.

Es wäre müßig, heute voraussagen zu wollen, welcher dieser drei Auffassungen sich der Internationale Gerichtshof anschließen würde: ob er entscheiden würde, daß das Deutsche Reich einen, zwei oder keinen Rechtsnachfolger hinterlassen hat.

Worum es sich handelt ist, in dieser Schicksalsfrage die politische Sackgasse zu verlassen, um auf der Ebene des Völkerrechtes nach einer gerechten Lösung zu suchen. Denn weder das deutsche Volk noch dessen Verbündete und Gegner werden ein Gutachten des höchsten internationalen Gerichtshofes der Welt ignorieren können. Um so mehr, als niemand diesem Gerichtshof vorwerfen kann, in seinem Urteil durch prokommunistische Vorurteile befangen zu sein.

Dieses völkerrechtliche Gutachten des Haager Gerichtshofes müßte durch den Weltsicherheitsrat eingefordert werden. Es würde auf jeden Fall eine objektive Rechtsgrundlage schaffen für eine politische Lösung der Deutschlandfrage.

Wäre auf diesem Wege der heute scheinbar unüberbrückbare Gegensatz zwischen West und Ost in der Deutschlandfrage überwunden, so ließe sich auch in der Berlin-Frage eine Kompromißlösung finden. Diese Lösung müßte die Freiheit und Sicherheit der Bevölkerung West-Berlins besser sichern als dies heute der Fall ist.

Diese Kompromißlösung wäre die Verlegung des Generalsekretariats der Vereinten Nationen nach dem freien Berlin und dessen Umwandlung in eine der UNO-Souveränität unterstellte Stadt. Ihr internationaler Status wäre dem des Vatikanstaates ähnlich. Die künftige Welthauptstadt Berlin sollte ihre bisherige Zoll- und

Die Zeit ist reif

Dieser Vorschlag stammt aus Amerika; vom berühmten amerikanischen Fliegergeneral Spaath. In Deutschland wurde er von der Hamburger Zeitschrift „Die Zeit“ aufgegriffen und propagiert und fand dort ein starkes Echo. Frankreich und England haben zu dieser Frage noch keine Stellung genommen. Es ist aber mit Sicherheit anzunehmen, daß sie diese Kompromißlösung der Berlin-Frage nur begrüßen würden.

Sobald die vier Weltmächte sich grundsätzlich darüber geeinigt hätten, die Frage der Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches dem Haager Gerichtshof zu unterbreiten und den Sitz der UNO nach Berlin zu verlegen, wäre der Weg frei zur Beendigung des kalten Krieges. e Zu diesem Zweck sollte durch die vier Mächte ein Friedenskongreß nach Wien einberufen werden.

• Dieser Kongreß wäre eine Friedenskonferenz nicht zwischen Staaten, sondern zwischen den beiden feindlichen Bündnissystemen, der NATO und den Unterzeichnern des Warschauer Paktes.

• Eine Friedenskonferenz zwischen diesen beiden Gruppen, statt zwischen den sie bildenden 23 Staaten, würde die Streitfrage nach der vorherigen Anerkennung der DDR umgehen. Denn die Delegation der Warschauer-Pakt-Gruppe wäre natürlich berechtigt, auch ostdeutsche Delegierte zu ernennen,

Währungsunion mit der Bundesrepublik aufrechterhalten. Alle Zufahrts-wege, zu Lande, zu Wasser und in der Luft, würden der UNO unterstehen und durch sie gesichert und garantiert. Natürlich müßte die böse Mauer fallen. Berlin würde so aus einem Zankapfel zu einer Brücke zwischen West und Ost werden, zu einer der blühendsten Städte Europas.

Dieser Vorschlag ist keineswegs utopisch, seit die Sowjetunion in aller Form die Verlegung des UNO-Sitzes von New York in eine neutrale Stadt gefordert hat. Chruschtschow hat ausdrücklich die Wahl Berlins als UNO-Sitz gebilligt. ohne daß dies die Frage der Anerkennung der DDR präjudizieren würde. • Die Konferenz sollte Delegierte Jugoslawiens und Finnlands zur Mitarbeit einladen, obgleich diese beiden Staaten weder der NATO angehören noch dem Warschauer-Pakt-System. Im Schatten Chinas

Dieser zweite Wiener Kongreß wäre ein paneuropäischer Friedenskongreß im weitesten Sinn des Wortes.

Die beiden auseinandergerissenen Hälften Europas, zusammen mit ihren amerikanischen und sowjetischen Bundesgenossen, würden Wege zur Wiedervereinigung Europas suchen. Eines Europa, das von San Franzisko nach Wladiwostok reicht und das allein in der Lage wäre, der drohenden Weltherrschaft Chinas entgegenzutreten.

Heute stehen in diesem größeren Europa, das aus NATO plus Warschauer Pakt besteht, an die 800 Menschenmillionen den 600 Millionen Chinesen gegenüber. In einer Generation wird die Zahl der Chinesen größer sein als die der Europäer, einschließlich Nordamerikas und Nordasiens.

Keine Stadt der Welt würde sich besser als Kongreßort eignen als Wien. Denn Wien liegt im neutralen Österreich, das mit den vier Weltmächten, die es jahrelang besetzt hielten, die besten Beziehungen unterhält. Österreich hat nicht nur enge Beziehungen zu allen NATO-Staaten, sondern auch zu vielen Völkern jenseits des Eisernen Vorhangs, vor allem zu denen, dern..Hauptstadt noch in. diesem Jahr' hundert Wien gewesen war. Hier würden sich Ungarn und Tschechen, Polen und Rumänen nicht fremd fühlen, sondern in einem befreundeten menschlichen Klima.

Für einen echten Frieden

Der erste Wiener Kongreß hat einem Vierteljahrhundert europäischer Kriege ein Ende gesetzt und unserem Kontinent eine Friedensperiode von fast vier Jahrzehnten geschenkt.

Eineinhalb Jahrhunderte sind seit diesem europäischen Friedenswerk vergangen.

Ein Jahrhundert nach dem ersten Wiener Kongreß ist der erste Weltkrieg ausgebrochen. Seither lösen sich in Europa heiße und kalte Kriege ab. Einen wahren Frieden, wie es ihn vor dem ersten Weltkrieg gab, kennt unsere Generation nicht.

Die Zeit ist reif für einen zweiten Wiener Kongreß. Für einen Versuch zur Wiedervereinigung des entzweigerissenen Europa. Für einen Versuch zur Beseitigung des Eisernen Vorhang — nicht durch einen dritten Weltkrieg, sondern durch einen europäischen Friedenskongreß.

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