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Unterfall Europas

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Kaum ein anderes Ereignis seit . 1945 hat die weltpolitische Szenerie so gründlich, so schlagar­tig und so überraschend verändert wie der Zerfall des kommunisti­schen Imperiums. Niemand sah das voraus, niemand hat es von außen gelenkt. Die Ratlosigkeit, mit der Regierungen in Ost und West auf die neue Situation schauen, und die Disparatheit der Diskussionen über Ziele und Wege beweisen dies über­zeugender, als alle Beteuerungen der eigenen Unschuld es könnten.

Wie sehr auch die deutsche Ent­wicklung nur verstanden werden kann als Bestandteil eines übergreifenden Prozesses, zeigte sich schon zu Beginn ihrer heißen Pha­se: Der Entschluß der ungarischen Regierung, die Flüchtlinge und Touristen aus der DDR die Lager verlassen und ausreisen zu lassen, und die Bereitschaft Österreichs, ihnen beim Durchzug behilflich zu sein, haben die Auflösung der Honecker-Diktatur eingeleitet. Der Exodus der Zehntausenden, von den Massenmedien in dramatischen Szenen aufgenommen und auch jenseits des bis dahin Eisernen Vorhangs verbreitet, wischte die Propagandalügen weg und weckte in Millionen Menschen den Mut zur Veränderung.

Nicht weniger deutlich zeigt sich die deutsche Frage heute als ein Unterfall der europäischen Frage, da es um das Neben- oder Mitein­ander der „beiden deutschen Staa­ten" in der Zukunft geht. Gegen die Europa-Politik Adenauers wurde immer wieder eingewandt, sie ver­hindere die „Wiedervereinigung" der getrennten Reste des Deutschen Reiches. Von der SPD Kurt Schu­machers bis zu rechten Nationali­sten wurde behauptet, der erste Bonner Kanzler habe die Einheit der Nation einem christlich-aband-ländischen Traum geopfert, von den ihm unterstellten separatistisch-rheinländisch-katholischen Moti­ven ganz zu schweigen.

Heute haben sich die Fronten weitgehend umgekehrt, sodaß man fragen muß, wo die Wendehälse lockerer sitzen, im Westen oder im Osten. Politiker, die jedem Schritt auf die Einigung Europas zu ihr Nein entgegengesetzt haben, äußern jetzt Besorgnis, daß die deutsche Einigung der europäischen davon­laufen könnte. Die Spekulation auf das kurze Gedächtnis der Deut­schen ist weitverbreitet.

Das Dilemma der Bonner Regie­rung liegt zutage: Der Wirtschafts­misere in der DDR muß so rasch wie möglich begegnet werden, damit nicht weitere Hunderttausende mutlos werden und ihre Heimat verlassen. Gleichzeitig muß verhin­dert werden, daß die SED ihren etablierten Einfluß benutzt, um einen Wahlsieg der demokratischen Opposition unmöglich zu machen. ♦ Auch die Vorverlegung des Wahl­termins auf den 18. März 1990 hat zwei Seiten: Einerseits ist die Frist zu kurz, um den neuen Parteien eine faire Chance zu gewähren; andererseits ist sie nicht kurz ge­nug, um das Verständnis wachzu­halten, daß Verhandlungen jeder verbindlichen Art nur mit einer demokratisch legitimierten Regie­rung geführt werden können.

Das Tempo der Ereignisse hat nicht nur Politiker und Diploma­ten betroffen gemacht. Auch die Intellektuellen zeigen sich verwirrt und konzeptionslos. Begriffe stei­gen wie Feuerwerkskörper in die Luft und verlöschen nach kurzem Aufflackern: Deutscher Bund, Großdeutschland, Kulturnation und so weiter. Sie manifestieren den Verlust geschichtlichen Den­kens, denn sie lassen sich auf die gegenwärtige Situation gar nicht oder nur falsch anwenden.

Da die deutsche Teilung als ein Unterfall der Teilung Europas ent­standen ist und verstanden werden muß, kann sie auch nur in diesem größeren Zusammenhang überwun­den werden. Es ist ein Glück, daß Europa wirtschaftlich, aber auch politisch bereits so weit geeint ist, daß die heruntergewirtschaftete DDR aufgefangen werden kann, ohne die Stabilität der Partner zu gefährden - und ohne daß die Nach­barn vor einem deutschen Natio­nalstaat mit Hegemonieansprüchen Angst haben müssen.

Gewiß, das politische Europa ist noch nicht „fertig". Aber es ist schon stark genug, um auch 80 Millionen Deutsche in die europäische Ord­nung einzubinden und darin fest­zuhalten. Und gerade weil es noch nicht fertig ist, besitzt es noch so viel Beweglichkeit und Wachstums­energie, um osteuropäische Natio­nen, falls sie es wünschen sollten, mitaufzunehmen in das „europäi­sche Haus", das sich bereits als sicher und wohnlich bewährt hat.

Was freilich nicht möglich sein wird, ist die Wiederkehr eines deut­schen Nationalstaats von zentrali-stischer Struktur, ledig aller ver­traglichen Bindungen, uneinge­schränkt in seiner Souveränität und damit fähig, eigene Wege der Machtpolitik zu beschreiten (wozu „Neutralität" alten Stils eine gar nicht so untaugliche Voraussetzung böte). Dergleichen werden nicht allein die Siegermächte des Zwei­ten Weltkriegs verhindern, auch die Mehrheit der Deutschen will es nicht.

Die Vorzüge und Vorteile des Lebens in einem föderativ geglie­derten Gemeinwesen mit offenen Grenzen nach innen und außen sind in der Bundesrepublik ebenso nach drücklich erlebt worden wie die Vergeblichkeit aller Mühe in der DDR, unter der Last des „real exi­stierenden Sozialismus". Die Wie­derkehr der alten Länder steht auch östlich der Elbe bevor. Auch das mag die Furcht vor Größenwahn und Großmachtträumen - und wären sie nur wirtschaftlich-tech­nischen Inhalts - abmildern.

Die Siege des Volkes in den Stra­ßen von Leipzig und Ost-Berlin haben vielleicht bei manchem die Illusion geweckt, wer mit Honek-ker fertig geworden sei, könne auch die künftige Rolle Deutschlands in der Welt bestimmen. Die Zehn Punkte des Bonner Regierungschefs Kohl sind davon weit entfernt. Sie rechnen mit langen Fristen und mit den Grenzen der deutschen Mög­lichkeiten.

Wie die Zimmer der deutschen Wohnung im europäischen Haus eingerichtet werden, mag den Deut­schen überlassen sein - und sie werden damit genug zu tun bekom­men. Aber wo diese Räume liegen, wie groß sie sind und welchen Zu­schnitts - darüber werden sie sich mit ihren Nachbarn und Miteigen­tümern einigen müssen.

Prof. Dr. Otto B. Roegele ist Mitherausgeber der Wochenzeitung „Rheinischer Merkur".

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