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Entspannung mit dem Würgegriff?

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In Bonn hat sich ein Szenenwechsel vollzogen. Mit Willy Brandt ging auch der Chefplaner der Ostpolitik, Minister Egon Bahr. Zwischen Ost-Berlin und Bonn ist durch den Fall Guillaume eine neue Eiszeit hereingebrochen. Alle diese Ereignisse haben Illusionen zerstört; daß der „Ausgleich“ mit dem Osten nicht nui bereits eine dauerhafte Entspannung in Europa und eine Verbesserung der Lebensbedingungen in der DDR, sondern auch die Sicherung Berlins ermöglichen könnte.

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In Bonn hat sich ein Szenenwechsel vollzogen. Mit Willy Brandt ging auch der Chefplaner der Ostpolitik, Minister Egon Bahr. Zwischen Ost-Berlin und Bonn ist durch den Fall Guillaume eine neue Eiszeit hereingebrochen. Alle diese Ereignisse haben Illusionen zerstört; daß der „Ausgleich“ mit dem Osten nicht nui bereits eine dauerhafte Entspannung in Europa und eine Verbesserung der Lebensbedingungen in der DDR, sondern auch die Sicherung Berlins ermöglichen könnte.

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Eingeweihte wußten schon im De zember 1973, daß der Nervenkrie, gegen das freie Berlin bald wiede angeheizt werden sollte. Solche In formationen konnte man natürlich wie schon so oft in der Vergangen heit, nicht veröffentlichen. Man hätt sich sonst dem Vorwurf ausgesetzl schlafende Hunde geweckt, das heißl durch die Veröffentlichung die Ak tion erst ausgelöst zu haben.

Dann gab es Proteste im Zusam menhang mit den Plänen, in Berlii ein Bundesamt für Umweltschutz zi errichten. Und es gab als Drohun; dazu plötzlich wieder schikanös Kontrollen auf den Zufahrtsstraße] zur alten deutschen Hauptstadt. Dal man nur nach Deserteuren gesuch habe, wer kann das glauben, beson ders, da alliierte Fahrzeuge überhaupt nicht belästigt wurden? In Wirklichkeit war und ist das alles Teil einer sorgsam geplanten Aktion.

Wer daran noch Zweifel hatte, dem mußten diese vergehen, als sowohl der Staatsratsvorsitzende Willi Stoph als auch der Ministerpräsident Horst Sindermann in das Vokabular und der Argumentationstechnik des Kalten Krieges zurückfielen.

Diese Ereignisse, die in den verschiedensten Variationen wiederkehren werden, zeigen, daß eines der Hauptziele, das mit der gesamten deutschen Ostpolitik, speziell aber mit dem Vier-Mächte-Abkommen und den bilateralen Abmachungen zwischen Bonn und Ost-Berlin, erreicht werden sollte, immer weiter in die Ferne rückt: die Entschärfung der Krisenlage Berlins. Der Würgegriff der Sowjets und ihrer Vasallen an den Lebensadern des freien Ber-

lins ist ungebrochen. Er kann nach Belieben gefestigt und wieder gelok-kert werden, ein Spiel, das seit langem betrieben und demonstriert wird und das trotz aller Verträge munter weitergeht.

Die Kampagne um die vollständige Lösung West-Berlins von der übrigen Bundesrepublik ist trotz vieler Versprechungen, großer Hoffnungen und schöner Reden nie eingestellt worden. Schikanen auf den Zufahrtsstraßen und mit Drohungen untermalte Proteste sind nicht so sehr ein zeitweiliger Rückfall in alte Gepflogenheiten als ein Zeichen dafür, daß sich im Grunde nichts geändert hat. Nach wie vor gilt das Wort Lenins: „Wer Berlin hat, hat Deutschland. Und wer Deutschland hat, hat Europa.“

Wem Lenin nicht mehr beweiskräftig genug ist, weil er schon vor 50 Jahren starb, der sei an eine Feststellung des sowjetischen Botschafters in Bonn, Valentin Falin, erinnert. Bei mehreren Gelegenheiten sagte dieser: „Der geschichtliche

Zwang — oder das natürliche Schwergewicht — sorgt dafür, daß West-Berlin eines Tages .Bestandteil der DDR sein wird.“

Auf dem Wege zu dieser Gemeinschaft Europa sind aber in letzter Zeit keine Fortschritte zu verzeichnen, sondern Rückfälle in kleinstaatliches, egoistisches Denken, was genau den Intentionen des Kreml entspricht. Und militärisch stehen einer in ihrem Ausmaß von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommenen Aufrüstung der kommunistischen Staaten auf der Seite des Westens, wenn auch noch nicht der Zerfall, so doch eine Schwächung und Infragestellung der NATO gegenüber.

Es waren im wesentlichen wirtschaftliche Probleme, die Risse und Sprünge im Gebäude der Europäischen Gemeinschaft sichtbar werden ließen. Was jahrelanges Bemühen der Sowjets und ihrer Hilfstruppen im Westen nicht erreichte, der öl-boykott der Araber oder auch nur die Angst vor einem möglichen Mangel an dem „schwarzen Gold“ hat es zuwege gebracht: In vielen Fällen steht erneut engstirniger nationaler Eigennutz vor den Überlegungen der Gemeinsamkeit. Die Gemeinschaft der europäischen Staaten, aus der ein vereintes Europa erwachsen soll, hat ihre erste schwerere Belastungsprobe bestanden, öl war der Sprengstoff.

„Wurden Machiavellis Werke ins Arabische übersetzt?“ fragt der französische Publizist Jean-Jacques Ser-van-Schreiber in einer besorgten Analyse in der Zeitschrift ,,L' Ex-pres“. Aber eine solche Übersetzung

war gar nicht nötig, denn auf einer entscheidenden Geheimtagung, die Ende 1972 in Bagdad abgehalten wurde und auf der man Pläne für einen „ölkrieg“ gegen die westlichen Industrienationen schmiedete, war Machiavelli persönlich anwesend, führte allerdings den Namen A. S. Dasokow. Sein Beruf: sowjetischer ölexperte; seine vorgesetzte Behörde: der KBG. In einer Grußbotschaft der sowjetischen Regierung, die Dasokow seinen arabischen Gastgebern vorlas, hieß es, diese werde den „wichtigen Kampf des arabischen Öls gegen den Imperialismus“ unterstützen.

Die damals in Bagdad unter sowjetischer Anleitung ausgearbeitete Strategie verfolgt einmal das Ziel, die westlichen ölförderungskonzeme aus dem Nahen Osten zu vertreiben; weiter durch willkürliche und rigorose Preissteigerungen Sand in das Wirtschaftsgetriebe der Industrieländer zu streuen und schließlich die arabischen Besitzer der durch das öl erzielten Riesenvermögen zu veran-

lassen, durch koordinierte Börsentransaktionen wirtscnaftliche und währungstechnisch Schwierigkeiten größten Umfangs zu provozieren.

Das war zehn Monate vor Ausbruch des letzten Nahostkrieges, der ja zeigte, daß die Unterstützung der Araber durch die Sowjets nicht nur in machiavellistischen wirtschaftlichen Ratschlägen, sondern auch in der Lieferung modernsten Kriegsgeräts und in weltpolitischer Schützenhilfe bestand.

Es waren diese hochentwickelten Waffen, besonders neueste Flugzeug-und Panzerabwehrgeräte, neben einer von den Sowjets entworfenen und von den Arabern exakt durchgeführten Angriffstaktik, die Ägyptern wie Syrern in den ersten Tagen des Oktoberkrieges zu ihren Erfolgen verhalfen.

Am Suezkanal bekam Europa ein Lehrstück dieser Kunst vor Augen geführt: Modernste Pioniereinheiten mit Wurflbrücken, Unterwasserstegen und Faltbrücken bewerkstelligten den schnellen Sprung über ein Wasserhindernis. Schwimm- und Watpanzer kamen lautlos und unsichtbar unter Wasser von Ufer zu Ufer. Kampfhubschrauber sicherten unterhalb der Radarschirme den ersten Nachschub. Und die SAM-6- sowie die simplen und handlichen SAM-7-Raketen schützten die Brük-ken und Übersetzstellen erfolgreich vor den israelischen Jagdfliegern.

Zwei ägyptische Armeen wurden in wenigen Tagen über den 150 bis 200 Meter breiten Suezkanal geworfen. 1000 Panzer sowjetischer Bauart, mit Nachtzielgerät und großkalibrigen Kanonen, standen zwölf Stunden nach Angriffsbeginn auf der Ostseite zum Kampf bereit.

Gestoppt wurden die hervorragend ausgerüsteten Aggressoren nur von besseren Soldaten. Der Geist der Todesverachtung, gewachsen aus der Gewißheit eines jeden Israeli, daß es für ihn nur Halten oder Fallen geben konnte, hat im Bunde mit guten Waffen aus amerikanischen Beständen die Rettung bewirkt und die drohende Katastrophe abgewandt.

Dem heißen Krieg um Israel folgte, getreu den sowjetischen Vorstellungen, der Wirtschaftskrieg der meisten ölexportierenden Länder gegen die Industriestaaten des Westens. Auch wenn einige. ölpotentaten einzulenken versuchen, weil starke Rückschläge im Westen sich auch für sie nachteilig auswirken würden, und einige Staatsmänner unter ihnen sich von Anfang an nicht beteiligten, ist dieser ölkrieg noch keineswegs beendet. Und er hat, was oft vergessen wird, neben wirtschaftlichen, von allen Bürgern verspürten Auswirkungen, auch gravierende militärische Bedeutung.

Eine moderne Armee und ihr Luftschutz sind ohne Treibstoff nicht einsatzfähig. 56 Tage reichen die Benzinvorräte der NATO; am 57. Tag muß also gewonnen sein. Und wenn nicht, was ist am 58. Tage? Es ist legitim, eine solche Frage zu stellen.

Die Armeen des Warschauer Paktes befinden sich än voller Kriegsstärke und können innerhalb von 24 Stunden ohne größere Vorbereitungen zu einer begrenzten Offensive über die Elbe antreten. Nur wenige Tage sind nötig, um eine Großoffensive gegen Westeuropa zu starten.

Es muß nachdenklich stimmen,

• wenn in der DDR die Zahl der Manöver im Divisionsverband von 16 im Jahre 1972 auf 32 im Jahre 1973 verdoppelt wurde;

• wenn die Nächschubleistungen der sowjetischen Streitkräfte in der DDR durch Zuführung neuer 7-Tonnen-Lkw um die gleiche Zahl erhöht wurde;

• wenn die Luftstreitkräfte Pankows, die bisher auf Verteidigung ausgerichtet waren, durch Aufstellung neuer Jagdbomber-Divisionen auf offensive Strategie umgestellt wurden. Innerhalb einer Stunde können diese Jagdbomber zum Kampfeinsatz mit taktischen Atombomben umgerüstet werden.

Die Lagerbestände an taktischen Atomwaffen im Sicherheitsbezirk eines jeden Fliegerhorstes, auf dem

Jagdbomber-Geschwader stationiert sind, sind in letzter Zeit erhöht worden. Und Transportbataillone der Nationalen Volksarmee üben ständig mit Attrappen den Transport von taktischen Atomraketen aus den Depots in die Feuerstellungen.

Und die immer zahlreicher werdenden Divisionen zwischen Elbe und Oder?

Neben den sechs eigenen Divisionen stehen in der DDR fünf sowjetische Armeen mit 21 Divisionen; darunter so elitäre Verbände wie die 2. Garde-Armee im Raum Fürstenberg und die 3. Stoß-Armee im Raum Magdeburg-Stendal. Bedenkt man weiter, daß im europäischen Rußland sowie in der CSSR, in Polen und Ungarn neben den nationalen Streitkräften weitere acht Sowjetarmeen mit mindestens 36 Divisionen stehen, die alle auf verbesserte offensive Waffensysteme umgerüstet werden, und bedenkt man femer, daß die Sowjetunion die Dauer des Wehrdienstes für alle Waffengattungen um ein Jahr verlängert hat, dann begreift man, warum führende NATO-Generale in diesen Tagen offen davon sprechen, daß für sie das vielgerühmte Programmwort Entspannung einen anderen als den ursprünglichen Gefühlswert bekommen hat — nämlich den der drückenden Sorge und der Unsicherheit. Das ist auch die Entzauberung eines deutschen Wahlschlagers innerhalb eines Jahres.

In Zahlen heißt das: 70 sowjethörigen Divisionen im europäischen Vorfeld stehen rund 25 NATO-Divi-sionen zwischen Rhein und Elbe gegenüber. Rund 16.000 Panzer gegen 5500. Bei der Luftwaffe, den Raketenstreitkräften, den Fallschirmjägern und den Luftlandeverbänden ist das Verhältnis ähnlich.

Am Suezkanal wurde bewiesen, daß ägyptische Bodentruppen ein breites Wasserhindernis im Eiltempo überwinden und den Luftraum über ihren Angriffskräften und Brückenköpfen sichern konnten. Die Panzerdivisionen jenseits der Elbe sind aus-

gerüstet mit Wat- und Tauchpan-zern, die unter Wasser den Suezkanal durchquerten; an der Elbe liegt dasselbe modernste Brückengerät; und rund 10.000 T-62-Panzer mit der großkalibrigen Kanone und dem Infrarot-Nachtzielgerät befinden sich in Lauerstellung.

SAM-Raketen und Panzerabwehrraketen vom Typ Frog, wie sie am Suezkanal Militärgeschichte machten, warten hinter der Elbe; Fallschirmjägerbrigaden, Kampfhubschrauberstaffeln, Einzelkämpferkommandos sind auf Kriegsstärke; Jagdbomberstaffeln zur Unterstützung der Infanterie stehen in wohlversteckten Hangars startklar und können 30 Minuten nach Alarm in der Luft sein.

Dazu kommt noch, daß die Sowjets in jüngster Zeit ihre Pioniertruppen än der DDR zur Überwindung von Wasserläufen beachtlich verstärkt haben. Nach Wittenberg, Magdeburg, Rathenow und Frankfurt an der Oder wurden neue Pio-merregimenter verlegt. Ihre Platterbrücken, die der Übersetzung von

Panzern und Artillerie über Wasserläufe dienen, sind im Jahre 1973 auf 600 Meter verlängert worden — und bei Hamburg ist die Elbe 500 Meter breit.

Es paßt nicht in das Klima unserer eine Vogel-Strauß-Politik liebenden Zeit, offen über Eroberungspläne und -Vorbereitungen der Sowjetunion zu schreiben oder zu sprechen. Der Verharmloser wird mehr geschätzt als der Warner.

Die Schikanen auf den Zufahrtsstraßen nach Berlin waren interne Sicherheitsmaßnahmen; die Drohungen von DDR-Politikern sind nicht ernst zu nehmende, für den Hausgebrauch bestimmte Routineäußerun-gen; der Nahostkrieg brach gegen den Willen und die Absichten der Sowjets aus; und die Aufrüstung wird, wenn überhaupt, nur betrieben, um bei Abrüstungsgesprächen mit großzügigen Angeboten aufwarten zu können.

Auch so kann man es sehen. So — oder ähnlich — hat das Ausland auch jahrelang alles gesehen, was in Deutschland nach 1933 geschah — bis es zu spät war.

Es gilt, heute die Dinge richtig zu sehen, ehe es wieder zuspät ist. Was bedeutet das?

Es bedeutet, darauf zu achten, daß auch nicht ein einziges Stück von der Lebensfähigkeit Westberlins abgeschnitten wird; wir sind schon viel zu weit gegangen. Darüber hinaus müssen die Bindungen zum übrigen Teil der Bundesrepublik ausgebaut werden, wie es das Vier-Mächte-Abkommen vorsieht. Es darf nicht bei dem Bundesamt für Umweltschutz als einziges Problem bleiben.

Die Dinge richtig sehen, bedeutet auch, Rückschläge beim Bau der europäischen Einheit wieder wettzumachen und wirtschaftlichen Bedrohungen gemeinsam — und deshalb stark — zu widerstehen, statt ihnen einzeln — und deshalb geschwächt — nachzugeben.

Die Dinge richtig sehen, bedeutet außerdem, sowohl Europas eigene Verteidigungskraft zu mehren als auch die Bande mit Amerika wieder fester zu knüpfen. Man muß es offen aussprechen, daß jeder, der für einen Abbau der amerikanischen Präsenz in Europa eintritt, damit ein Fürsprecher für die Vorherrschaft Rußlands in Europa wird.

Die Dinge richtig sehen, bedeutet schließlich, sich dort nicht neutral zu

verhalten, wo einerseits, scheinbar fernab, die eigene Position bedroht wird und anderseits das Herz engagiert ist, besonders das Herz der Deutschen — in Israel.

Die Dinge richtig sehen und danach handeln, ist der Weg der einzige Weg, die Katastrophe zu vermeiden.

Nur wenn Berlin trotz aller Einsprüche Unberufener im engen Zusammenwirken mit Bonn weiter ausgebaut wird, kann es lebensfähig bleiben. Nur wenn Europa umkehrt vom Weg des Streits und der Eigensucht, wird es dem Osten widerstehen können.

Nur wenn die NATO stark und aktionsfähig ist, wird sie die Sowjets daran hindern, unter Drohung oder gar Anwendung von Waffen ihre Ziele zu erreichen. Und nur wenn sich die ganze freie Welt ihrer großen Verantwortung gegenüber Israel bewußt ist und danach handelt, wird es möglich sein, einen Weg im Nahen Osten zu finden, der alle Beteiligten in eine bessere Zukunft führt.

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